Handelsrecht: Rechtsscheinhaftung; Prokura Flashcards
§ 15 I HGB: negative Publizität
= abstrakter (von Kenntnis des Rechtsscheinträgers unabhängiger) Rechtsscheintatbestand
→ Vertrauenstatbestand liegt im Unterbleiben einer Eintragung, “Schweigen des Handelsregisters”: Tatsache, deren Eintragung versäumt wurde, gilt als nicht eingetreten
→ selbst dann, wenn durch abermalige Versäumnis der Eintragung wieder die tatsächliche Rechtslage abgebildet wird!
→ schützt Vertrauen auf den Fortbestand der bisherigen Rechtslage oder der gesetzlichen Regellage, denn Veränderungen oder Besonderheiten müssen sich aus dem Handelsregister ergeben
§ 15 II HGB: Zerstörung etwaigen guten Glaubens
erlaubt es Kaufmann, sich auf (eingetragene und bekanntgemachte) wahre Rechtslage zu berufen
§ 15 III HGB: positive Publizität
Rechtsscheinhaftung: gutgläubige Dritte dürfen darauf vertrauen, dass die sich aus dem öffentlichen Rechtsscheinträger (= Handelsregister) ergebende Rechtslage der wahren Rechtslage entspricht
Voraussetzungen Rechtsscheinhaftung
1) Bestehen eines Rechtsscheins (ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten)
2) Zurechenbarkeit
3) Gutgläubigkeit des Dritten (auch fahrlässige Unkenntnis der wahren Lage schadet)
4) Vertrauensdisposition, die auf dem Rechtsschein beruht (z. B. Abschluss eines RG mit dem Scheinkaufmann)
Rechtsfolge Rechtsscheinhaftung
Gleichstellung des Rechtsscheintatbestandes mit der Wirklichkeit, allerdings nur zu Gunsten des gutgläubig Vertrauenden (→ Wahlrecht des Dritten)
teleologische Reduktion § 15 I HGB
in solchen Fällen, in denen die voreintragungspflichtige Tatsache völlig intern geblieben ist und Dritten überhaupt nicht bekannt wurde
→ anderenfalls Rechtsscheinhaftung ohne Vertrauenstatbestand
z. B. wenn Prokura nie selbst eingetragen und nicht nach außen bekannt
Schema § 15 I HGB
- Vorliegen einer konkret eintragungspflichtigen Tatsache
- Nicht eingetragen UND nicht bekanntgemacht
- Guter Glaube des sich auf § 15 I HGB Berufenden wird vermutet, nur positive Kenntnis schädlich
- Kein reiner Unrechtsverkehr, d. h. nach h. M. keine Anwendung im deliktischen Bereich
§ 15 I HGB: mögliche Vertrauensdisposition
Dritter muss das ihn begünstigende Recht durch ein Verhalten hervorgerufen haben, bei dem wenigstens abstrakt die Möglichkeit bestand, dass er sich auf die unrichtige Eintragung verlassen hat
Rosinentheorie, BGH
→ ein auf § 15 I HGB berufender Dritter kann sich hinsichtlich eines Umstandes auf die wahre und zusätzlich für einen anderen Umstand auf den Verkehrsschutz des § 15 I HGB berufen
(-) Gläubiger steht i. E. besser, als wenn der Rechtsschein des Handelsregisters der Wirklichkeit entspräche, was eine systemfremde Folge der Publizitätswirkung wäre
(+) Gesetzeswortlaut, entspricht § 15 I HGB, daher nicht treuwidrig
(+) Funktion des negativen Publizitätsschutzes des § 15 I HGB: es kommt nicht darauf an, was im Handelsregister steht, sondern allein darauf, was nicht eingetragen wurde
(+) Widerspruch zum Wesen der Rechtsscheinhaftung, einen Rechtsschein zu Lasten des gutgläubigen Dritten wirken zu lassen
§ 15 I HGB: Tatsache fälschlicherweise eingetragen
Schutz aus § 15 I HGB (-)
Eintragung einer falschen Tatsache ≠ Nichteintragung der richtigen Tatsache
Prüfung positive Publizität, § 15 III HGB
- einzutragende Tatsache unrichtig bekanntgemacht worden: Auseinanderfallen bekannt gemachte Rechtslage ↔︎ wahre Rechtslage
- Gutgläubigkeit des Dritten: keine positive Kenntnis
- str.: Zurechenbarkeit der unrichtigen Bekanntmachung des von ihr Betroffenen
h. M.: Veranlassungsprinzip
§ 15 III HGB
str.: Zurechenbarkeit der unrichtigen Bekanntmachung des von ihr Betroffenen erforderlich?
(-) Wortlaut
(-) Regierungsbegründung: reine Rechtsscheinhaftung
(+) sonst unerträgliche Ergebnisse: Betroffenem droht nicht nur Verlust bestimmter Gegenstände (wie bei § 892 BGB), sondern eine unbeschränkte Haftung mit seinem ganzen Vermögen
(+) online erfolgte Bekanntmachung hat nicht die gleiche Richtigkeitsgewähr und Rechtsscheinwirkung wie ein Erbschein oder eine Eintragung im Grundbuch
→ h. M.: durch Veranlassungsprinzip zu beschränken: Betroffener muss irgendeinen Anlass zu der falschen Bekanntmachung gegeben haben
ungeschriebene (gewohnheitsrechtlich anerkannte) Ergänzungssätze zu § 15 HGB
- wer eine unrichtige Erklärung zum Handelsregister abgibt oder
- eine unrichtige Eintragung im Handelsregister zwar nicht veranlasst hat, diese aber schuldhaft nicht beseitigt,
kann an dieser von einem gutgläubigen Dritten festgehalten werden
→ besondere handelsrechtliche Ausprägungen der Rechtsscheinhaftung nach allgemeinen Grundsätzen
P: § 15 I BGB bei fehlender Voreintragung?
→ Registerinhalt wieder richtig
h. M.: (+)
(+) Schutzziel und Wortlaut § 15 I HGB unabhängig von der Voreintragung, geschützt wird lediglich abstrakt das “Vertrauen” in die Vollständigkeit des Registers und der Bekanntmachungen
Haftung bei Geschäftsübergang unter Lebenden, § 25 I 1 HGB
tatsächliche Fortführung = Indiz dafür, dass der neue Inhaber auch für die bestehenden Geschäftsverbindlichkeiten einsteht
→ kann nur durch Haftungsausschluss zerstört werden
Rechtsfolge: gesetzlicher Schuldbeitritt, unabhängig von der Wirksamkeit des Übernahmevertrags (→ Verkehrsschutz!)
Haftung bei Geschäftsübergang von Todes wegen, § 27 HGB
besondere handelsrechtliche Erbenhaftung: Erben werden Möglichkeiten der Haftungsbeschränkung genommen
Zweck: Schutz der Verkehrserwartung
→ aber ggf. Ausschluss gem. § 27 II oder § 27 I i. V. m. § 25 II HGB
Anknüpfungspunkt § 28 HGB
Erwartung des Handelsverkehrs, dass bei Übernahme eines Unternehmens der neue Inhaber für die bisherigen Verbindlichkeiten haftet
→ Fortführung der Firma als “rechtsscheinähnliches Indiz” nicht erforderlich
→ berechtigtes Interesse der Altgläubiger
str.: Kann § 28 I 2 HGB überhaupt zu gesetzlichem Forderungsübergang führen?
Rspr.: (+), aber § 816 II BGB möglich
(+) § 25 I 1 und § 28 I 1 HGB führen unstreitig zu gesetzl. Forderungsübergang
(-) Bevorzugung des Gläubigers, Normzweck aber Schuldnerschutz
h. L.: (-), nur Möglichkeit zur befreienden Leistung an die neu gegründete Gesellschaft
→ Forderungszuständigkeit bei urspr. Forderungsinhaber
→ Schuldner kann an (urspr.) Gl. leisten oder unter den Vrss. des § 28 I 2 HGB mit befreiender Wirkung an Erwerber leisten, wobei dieser dann das Erlangte gem. § 816 II BGB an den Gl. herausgegeben muss
(+) abweichender Wortlaut ggü. § 25 I 1 und § 28 I 1 HGB
Vrss. § 28 I 2 HGB
- Eintritt eines Dritten als persönlich haftender Gesellschafter oder Kommanditist in das Geschäft des Einzelkaufmannes
- Fortführung des Handelsgeschäfts durch die neu gegründete Gesellschaft: Wille muss nach außen in Erscheinung treten
- kein tatsächlicher (vorrangiger) Übergang der Forderung (z. B. durch § 398 BGB)
- kein Vorliegen eines Abtretungsverbotes bzw. einer formbedürftigen Abtretung
- Kein Ausschluss durch Handelsregistereintragung, § 28 II HGB
Prokura
besondere handelsrechtliche Form einer rechtsgeschäftlichen Vollmacht nach § 167 BGB, deren Umfang durch das Gesetz zwingend festgelegt ist
Erteilung Prokura, § 48 I HGB
- nur zugunsten des Inhabers eines Handelsgeschäftes
- entweder durch diesen selbst oder durch seinem gesetzlichen (nicht rechtsgeschäftlichen!) Vertreter
- nur mittels ausdrücklicher Erklärung
- § 116 III 1 HGB betrifft nur Innenverhältnis der Geschäftsführung, für Außenverhältnis allein §§ 125 ff. HGB relevant → im Außenverhältnis deckt gewöhnliche Vertretungsmacht der Gesellschafter die Prokuraerteilung → fehlende Zustimmung unschädlich
- Eintragung gem. § 53 HGB nur deklaratorisch, nicht konstitutiv
Umfang Prokura, § 49 I HGB
berechtigt im Außenverhältnis unbeschränkbar zur Vornahme sämtlicher RG, die der Betrieb eines Handelsgewerbes mit sich bringt, ausgenommen Grundlagengeschäfte sowie gem. § 49 II HGB Grundstücksgeschäfte
Zulässigkeit personaler Einschränkungen, § 48 II HGB
- grds. möglich, Prokura dahingehend zu beschränken, dass ihre Ausübung von der Mitwirkung anderer Personen abhängig gemacht wird, § 48 II HGB
- gemischte Gesamtprokura: Prokurist an Mitwirkung eines organschaftlichen Vertreters gebunden
str.: Kann Prokurist auch an Zustimmung eines Einzelkaufmanns bei der Vertretung der Gesellschaft gebunden werden?
e. A.: (+)
→ kein Verstoß gegen § 50 II HGB, da nur Recht zur Ausübung der Prokura, nicht Reichweite der Prokura eingeschränkt
a. A.: (-)
(+) Prokura, die nicht zum Handeln ohne Zustimmung des Vertretenen berechtigt sinnwidrig
→ Umgehung von § 50 II HGB; Prokura dient gerade dazu, dass Dritte keine Rücksicht auf Absprachen im Innenverhältnis nehmen müssen
h. M.: teleologische Reduktion § 49 II HGB
wenn Belastung eines Grundstücks in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Erwerb eines Grundstücks steht
→ Normzweck: Schutz des Inhabers vor erheblichem Substanzverlust → aber kein Unterschied, ob Prokurist bereits belastetes Grundstück erwirbt oder unbelastetes bei Erwerb belastet
Lehre vom Missbrauch der Vertretungsmacht
Kaufmann trägt grundsätzlich Risiko, aber Bindungswirkung entfällt ausnahmsweise für den Vertretenen, wenn der Vertragspartner keinen Schutz verdient
→ Kollusion zwischen Vertreter und Drittem
→ Vertreter macht von seiner Vertretungsmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch
Missbrauch der Prokura
str.: Muss Vertreter bewusst zum Nachteil des Vertretenen handeln?
BGH: (-)
Lit.: (+)
(+) nur bewusst nachteiliges Handeln ist ein spezifisches Risiko des Einsatzes von Stellvertretern; Fahrlässigkeit = bloßer Irrtum, könnte Vertretenem genauso unterlaufen
Evidenz des Missbrauchs der Vertretungsmacht für den Vertragspartner
bloße Erkennbarkeit genügt nicht → Zweck der §§ 49, 50 HGB = Verkehrsschutz
erforderlich, dass der Vertreter von seiner Vertretungsmacht in ersichtlich verdächtiger Weise Gebrauch macht, der Missbrauch daher evident war und sich dem Geschäftspartner geradezu aufdrängen musste