Rahmenmodelle und Paradigmen in der Klinischen Psychologie – „Selbstverständnisse“ (Teil 1) Flashcards

1
Q

Statistische Norm bedeutet?

A

abnorm ist das Ungewöhnliche, Seltene
→ Normative Kraft des Faktischen, Konformität vs. Nonkonformität

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2
Q

Idealnorm (z.B. „fully functioning person“, Rogers)

A

abnorm ist das nicht Vollkommene.
→ Präskriptive Aspekte steht im Vordergrund

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3
Q

Sozialnorm:

A

gesellschaftlich definierte Verhaltensnormen – abnorm ist das Abweichende → Vorschriften für Verhalten, durch die Werte einer Gesellschaft bestimmt

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4
Q

Subjektive Norm:

A

individuell definierte Verhaltensnorm – ist das aus individuelle Sicht Abweichende → individuelle Maßstab zur Bewertung von Verhaltensweisen als normal oder nicht normal, aufgrund von z.B. Erfahrung, Wissen gebildet

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5
Q

Funktionale Norm:

A

abnorm ist das Schädliche → z.B. Alkoholkonsum kann funktional sein für das eigene Wohlbefinden, aber dysfunktional für die Fahrtüchtigkeit

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6
Q

Was ist klinische Psychologie im engen sinn? “Störungsspezifische Klips” Gegenstand und aufgaben:

A

Gegenstand: Psychische Störungen

Aufgaben: Beschreibung, Erklärung, Vorhersage, Klassifikation, Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen

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7
Q

Was ist klinische Psychologie im weiten sinn? “Konzeptuelle Klips” Gegenstand und aufgaben:

A

Gegenstand: Psychische Störungen und Psychische Aspekte körperlicher Erkrankungen, Psychische Krisen

Aufgaben: Beschreibung, Erklärung, Vorhersage, Klassifikation, Diagnostik und Behandlung von psychischen Störungen, Gesundheitsförderung und Prävention, Rehabilitation, Beratung usw.

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8
Q

Pathopsychologie vs. Psychopathologie

A

Pathopsychologie:
- Psychologische Störungelehre
- Versuch psychische Störungen mit Hilfe von Methoden und Erkenntnissen der Psychologie zu verstehen
- Annahme eines kontinuierlichen Übergangs zwischen normalen - abnormalen psychischen Prozessen –> Interesse am prozesshaften Charakter der Entwicklung von Störungen, auslösenden und aufrecht erhaltenden Bedingungen (Pathogenese)

Psychopathologie:
- Teil der allgemeinen menschlichen Krankheitslehre
- Orientierung am medizinischen krankheitsbegriff
- Annahme einer spezifischen Verursachung und eines vorhersagbaren Verlaufs

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9
Q

–> psychologie als Wissenschaft vom … und …

A

—> Psychologie als Wissenschaft vom Verhalten (jede physische Reaktion des Körpers) und Erleben (subjektives Gewahrwerden von Gedanken/Gefühlen)

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10
Q

Klinische Psychologie –
–> Beschäftigt sich mit solchen Formen des….

A

‒ Beschäftigt sich mit solchen Formen des Verhaltens und Erlebens, die
für Menschen in irgendeiner Weise problematisch sind (oder mit einiger
Wahrscheinlichkeit zu Problemen führen werden)
‒ Angewandte Wissenschaft!!

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11
Q

Wie wurde mit Menschen mit psychischen Störungen früher umgegangen?
(4 Zeitabschnitte/Ansätze)

A
  • Die Anfänge im Altertum
  • Dämonologischer Ansatz (Wiederaufleben im Mittelalter)
  • Somatogenetischer Ansatz (Hippokrates, 400 v. Chr.)
  • Psychologischer Ansatz (u.a. Plati, bei den Römern Galen 130-200 n. Chr.)
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12
Q

Die vier Temperamente

A
  1. der reizbare mann
  2. der melancholiker
  3. der bequeme mann
  4. der launische mann
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13
Q

Renaissance und Aufklärung :

A

—> Kampf gegen die Inquisition
—> Aufkommen vulgärpsychologischer Vorstellungen
—> Führte zu Ausgrenzung der „Unvernünftigen“ in Asylen („Irrenhäusern“)
—> Ab 1750 „moral management“
„Befreiung der psychisch Kranken von den Ketten“ = humanitäre Behandlung psychisch kranker Menschen

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14
Q

Streit zwischen „Psychikern“ und „Somatikern“ um..?

A

Streit zwischen „Psychikern“ und „Somatikern“ um die Vormacht bei der Behandlung psychischer Störungen!

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15
Q

NUR LESEN
Nach der Renaissance und Aufklärung:
Bedeutende Ereignisse in der Geschichte der Klinischen Psychologie

A
  • 1820 Anfänge der Psychodiagnostik, Einsatz von „mental tests“
  • 1895 In seinen „Studien über Hysterie“ entwickelt Sigmund Freud zusammen mit Breuer die
    Grundlagen für eine ätiologische Theorie neurotischer Störungen.
    Emil Kraepelin fordert die experimentell-psychologische Untersuchung der psychischen Phänomene, die in der Psychiatrie von Bedeutung sind.
  • 1896 Lightner Witmer richtet in Philadelphia die erste „Psychologische Klinik“ ein und behandelt dort körperlich und geistig behinderte Kinder.
  • 1903 wird die „Deutsche Gesellschaft für experimentelle Psychologie“ gegründet, die spätere „Deutsche Gesellschaft für Psychologie“.
  • 1905 erscheinen die ersten Auflagen des Simon-Binet-Intelligenztestes und finden weite Verbreitung.
    1906 Morton Prince beginnt mit der Herausgabe des „Journal of Abnormal Psychology“.
  • 1909 Gründung der ersten „Child Guidance Clinic“ in Chicago durch W. Healy für Kinder mit Verhaltensstörungen, beeinflusst durch die Psychoanalyse.
  • 1910 Gründung der „Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft“.
  • 1912 H. Münsterberg stellt der am Krankheitsbegriff orientierten Psychopathologie
    sein Konzept der Pathopsychologie gegenüber, das Abnormität als
    Steigerung/Hemmung normalpsychologischer Abläufe betrachtet.
  • 1919 A. Adler eröffnet die erste Erziehungsberatungsstelle in Wien.
    Die Klinische Sektion der American Psvchological Association (APA) wird
    eingerichtet.
  • 1932 Der Wiener Psychiater Jacob L. Moreno, der das Psychodrama entwickelt und
    in den USA eingeführt hat, verwendet den Begriff „Gruppentherapie“.
  • 940 Das „Minnesota Multiphasic Personality Inventory“ (MMPI) erscheint und erlangt zusammen mit anderen Persönlichkeitsfragebogen mit klinisch relevanten Skalen große Bedeutung.
  • 1941 wird in Deutschland die Diplom-Prüfungsordnung für das Fach Psychologie eingeführt.
  • 1942 Carl Rogers publiziert die ersten Darstellungen seiner Klientenzentrierten Psychotherapie.
  • 1943 K. Lewin entwickelt Methoden der Kleingruppendiskussion zur Verhaltens- und Einstellungsänderung, die später als Trainingsgruppen (T-Groups) mit verschiedenen Zielsetzungen ausgearbeitet werden.
  • 1944 2. Weltkrieg: Behandlung von Soldaten mit PTSD in den USA
  • 1946 Mit der „Mental Health Act“ wird in den USA eine gesetzliche Grundlage für
    Prävention und Behandlung seelischer Störungen geschaffen.
    Der „Berufsverband Deutscher Psychologen“ (BdP) wird gegründet.
  • 1949 wird das „National Institute for Mental Health« (NIMH) gegründet.
    In der „Boulder Conference“ wird ein für die USA verbindliches Konzept für die Ausbildung zum Klinischen Psychologen entworfen, das „Wissenschaftler-und- Praktiker-Modell“.
  • 1951 Fritz Perls entwickelt die Gestalttherapie.
  • 1956 entstand mit der Veröffentlichung der „Doppelbindungs-Hypothese“ durch
    Bateson, Jackson, Haley & Weakland eine der Wurzeln der Familientherapie. 1958/ J. Wolpe und H. J. Eysenck verwenden erstmals systematisch den
  • 1959 Begriff „Behavior Therapy“.
  • 1964 In den USA wird, angeregt durch Präsident J. F. Kennedy, ein Gesetz zur
    bundesweiten Einrichtung von gemeindenahen psychiatrisch-psychologischen Versorgungszentren (Community Mental Health Center) erlassen.
  • 1970 Deutscher Bundestag verabschiedet die Psychiatrie-Enquete: umfassende Bestandsaufnahme der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung in Deutschland (Forderung: Gleichstellung der psychisch Kranken mit körperlich Kranken)
  • 1978 Erster Entwurf für ein Psychotherapeutengesetz, gescheitert
  • 1987 Verhaltenstherapie wird neben Psychoanalyse und Tiefenpsychologie als drittes
    Verfahren von den Gesetzlichen Krankenkassen anerkannt
  • 1994 Das erste Psychotherapeutengesetz wird wegen der Zuzahlungspflicht für
    Patienten im Bundesrat abgelehnt
  • 1999 Nach Demonstrationen und Vermittlungsverfahren (1995-1998) tritt am 1. Januar
    das Psychotherapeutengesetz PTG im vollem Umfang in Kraft
  • 2019 Reform des Psychotherapeutengesetzes à umfangreiche Änderung der
    Ausbildung (zur/zum Psychotherapeutin) und der Weiterbildung (zum/zur Fachpsychotherapeutin)
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16
Q

Das medizinische Modell: Krankheit und Gesundheit=

A

qualitativer unterschied

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17
Q

Das Medizinische Modell: Störungen

A

–> voneinander abgrenzbare krankheitseinheiten
–> mit typischen, vorhersagbaren, objektivierbaren und naturwissenschaftlich erklärbaren verlauf
–> Ursachen: organisch (externe Faktoren = Auslöser)
–> Entwickeln sich unwillentlich
–> Diagnose und Therapie = nur von Expertinnen

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18
Q

Das psychosoziale Modell

—> Vier Grundannahmen:

A
  1. Kontinuitätsannahme (quantitative Unterscheidung)
  2. Äquivalenzannahme (Veränderung von Verhalten findet
    nach den gleichen Prinzipien statt)
  3. Annahme der Kontextbedingtheit (Betonung des –sozialen-
    Kontexts für Entstehung, Definition und Behandlung)
  4. Multikausalitätsannahme (Vielfalt von ätiologisch relevanten
    Faktoren)
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19
Q

Das biopsychosoziale Modell

A

—> Unsere Rettung? Der Kompromiss?
—> Organische, psychische und soziale Bedingungen und
Prozesse stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander –> Bio-Psycho-Sozial oder (nur) neues medizinisches Modell?
‒ Bilden Sie sich selbst darüber Ihre Meinung! ‒ Frei nach dem Motto:
„Selber (darüber) nachdenken, macht schlau!“

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20
Q

Paradigmen in der Klinischen Psychologie Klinisch-psychologische Modelle

Warum ist es wichtig, Paradigmen zu verstehen (nach Kuhn)?
—> Ein Paradigma =

A

eine wissenschaftliche Schule mit gemeinsamen theoretischen Grundannahmen, (oft verborgene und) nicht hinterfragte Regeln
—>…definiert, welche wissenschaftlichen Begriffe verwendet
werden (dürfen), welche Fragestellungen (nicht) akzeptabel sind—> -…welche Methoden der Datensammlung und –interpretation
als (nicht) beweiskräftig angesehen werden

21
Q

Die 6 wichtigsten Paradigmen

A

humanistisch, kognitiv, biologisch, bevaioristisch, psychodynamisch, interpersonell

22
Q

Gesundheit und Krankheit haben sowohl :

A

Gesundheit und Krankheit haben sowohl „ursächlichen“ als auch prozesshaften Charakter

23
Q

Psychologische und psychosoziale Modelle nutz(t)en den Begriff der ….., (bio-) )medizinische Modelle nutzen den Begriff der … –> mit immer stärkerer Einbeziehung in das (medizinische) Gesundheitssystem mehr und mehr Nutzung von „….“

A

Psychologische und psychosoziale Modelle nutz(t)en den Begriff der Pathopsychologie, (bio-) )medizinische Modelle nutzen den Begriff der Psychopathologieàmit immer stärkerer Einbeziehung in das (medizinische) Gesundheitssystem mehr und mehr Nutzung von „Psychopathologie“

24
Q

4 Aspekte von Krankheit im aktuellen „bio-psycho-sozialen“ Modell

A
  1. Krankheitsfolgen (Krankenrolle und ihrer Folgen)
  2. Kranksein (Beschwerden, Symptome, Befunde)
  3. Krankheit (ein pathologisch veränderter Zustand in der Person)
  4. Krankheitsursachen (psychologisch, sozial und biologisch)
25
Q

Rahmenmodelle sind übergeordnet, Paradigmen enthalten

A

Rahmenmodelle sind übergeordnet, Paradigmen enthalten spezifischere Annahmen auf der Basis grundlegender Überzeugungen

26
Q

Geschichte und Leitbilder der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung: Was war im 19 Jahrhundert mit Versorgung der “Kranken” gemeint?

A

Die Anfänge einer psychiatrischen Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen/ Störungen reichen in das 19. Jahrhundert zurück. „Versorgung“ bedeutete aber häufig lediglich ein Wegsperren der „Kranken“ in Anstalten. Die „An- staltspsychiatrie“ war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die typische Form des Umgangs mit psychischen Erkrankungen/Störungen.

27
Q

Ab wann wurde eine Reorganisation der psychiatrischen Versorgung eingeleitet? Ab wann erfolgte der Entscheiden einschnitt in Deutschland?

A

Eine Reorganisation der psychiatrischen Versorgung wurde erst ab den 1960er-Jahren eingeleitet. In Deutschland erfolgte der entscheidende Ein- schnitt durch die Psychiatrie-Enquête von 1975; mit ihr wurde die Idee einer psychiatrischen Ver- sorgung durch die Idee einer gemeindenah anzu- siedelnden psychosozialen Versorgung abgelöst.

28
Q

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang Klinischer Psychologen mit psychischem Leiden und psychischen Störungen erfordert auch die Aus- einandersetzung mit….

A

Da die Klinische Psychologie ihr Interesse an psy- chischen Störungen mit der Psychiatrie teilt, die Psychiatrie aber schon vor der Klinischen Psychologie ihre Zuständigkeit für die Behandlung von Menschen mit psychischen Störungen bzw. psychischen Krankheiten reklamiert hat, erfordert die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Umgang Klinischer Psychologen mit psychischem Leiden und psychischen Störungen auch die Aus- einandersetzung mit der Frage, wie Psychiater mit psychischem Leiden und psychischen Störungen umgegangen sind und umgehen.

29
Q

„Befreiung der Irren von den Ketten“ - was hat es damit Aufsich?

A

Als Beginn des Interesses der Psychiatrie an den „Irren“ (wie Menschen mit psychischen Störun- gen/psychischen Krankheiten damals genannt wurden) wird heute gern die Befreiung der Irren von den Ketten durch Tuke (in England) und Pinel (in Frankreich) angegeben, die Ende des 18. Jahr- hunderts stattfand. Zwar waren psychisch Kranke auch früher schon in geschlossenen Institutionen untergebracht worden, sie wurden aber nicht an- ders behandelt als andere Randständige der Ge- sellschaft. So wurden sie z. B. zusammen mit Bett- lern und Landstreichern in Anstalten oder in über- flüssig gewordenen Lepra-Krankenhäusern abge- sondert. Hatte die Ausgliederung von unvernünf- tigen und unproduktiven Menschen zunächst vor allem das Ziel, sie (mehr oder weniger) unsichtbar zu machen und sie zu verwahren, wurden mit der beginnenden Industrialisierung allmählich auch andere Vorteile dieses Umgangs mit Abweichun- gen deutlich: die Entlastung der Familien und die abschreckende Wirkung auf „Arbeitsunwillige“. Zunehmend wollte man aber auch die bisher nur Weggesperrten zu nützlichen Arbeitskräften machen. Und langsam begann man, psychisch Kranke von anderen Ab- weichenden zu unterscheiden.

30
Q

Dass die Befreiung der Irren von den Ketten in … und in …. erfolgte, wird in Zusam- menhang damit gebracht, dass

A

Dass die Befreiung der Irren von den Ketten in Frankreich und in England erfolgte, wird in Zusam- menhang damit gebracht, dass diese beiden Län- der hinsichtlich der Industrialisierung damals am weitesten fortgeschritten waren.

31
Q

Was ist das Moral treatment?

A

In England setzte man auf das Kon- zept des Moral Treatment, „ein streng konzipier- tes psychologisch-pädagogisches Programm, das zu Selbstdisziplin, Tugendhaftigkeit und Arbeits- moral anleiten sollte“

32
Q

Am Moral Treatment sind aus heutiger Perspektive vor allem drei Aspekte interessant:

A

● Es fand in einer von der Umwelt abgeschotteten Anstalt statt und stellt damit den Beginn der Anstaltspsychiatrie (s. u.) dar.
● Es war Teil einer moralischen Neuordnung, die Arbeit zunehmend als moralische Pflicht verstand.
● Es wurde von einem Nichtmediziner (Tuke) institutionalisiert.

33
Q

Dass sich zumindest vorübergehend ein nicht- medizinisches Konzept der Behandlung von psy- chisch Kranken durchsetzen konnte, lag daran, dass …?
Der psychologisch-pädagogische Ansatz der moralischen Behandlung stellte sogar was dar?

A

Dass sich zumindest vorübergehend ein nicht- medizinisches Konzept der Behandlung von psy- chisch Kranken durchsetzen konnte, lag daran, dass die Ärzte damals keine spezifischen Behand- lungskonzepte und keine spezifische Behandlungs- kompetenz für den Umgang mit den „Irren“ hat- ten. Der psychologisch-pädagogische Ansatz der moralischen Behandlung stellte sogar eine Gefahr für die Stellung der Ärzte dar, sodass diese ihr zu- nächst ablehnend bis feindselig gegenüberstanden.

34
Q

Wann war die Anstaltspsychatrie in Deutschland dominierend und was bedeutete sie?

A

Die Anstaltspsychiatrie war (zumindest in Deutsch- land) bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus dominierend. Sie bedeutete sowohl eine Ausgren- zung der psychisch Kranken als auch die Isolierung der psychiatrischen Anstalten und der Psychiatrie von anderen medizinischen Disziplinen, Gesund- heits- und Sozialdiensten.

35
Q

Wer hatte Anspruch auf psychoanalytische Behandlung?

A

In den Genuss einer psychoanalytischen Be- handlung kam man (fast) nur in privaten Praxen und Sanatorien – also nur, wenn man sie sich leisten konnte. Dennoch hatte die Psychoanalyse zumindest langfristig und indirekt Auswirkungen auf die wei- tere Entwicklung der Psychiatrie.

36
Q

Zur Kritik an den schlechten Zuständen in den Anstalten und an der Art der (Nicht-)Behand- lung der Patienten kam nämlich zunehmend auch konzeptuelle Kritik:

A

Während einerseits behauptet werde, dass psychische Störungen Krankheiten sei- en, würden die psychisch Kranken andererseits völ- lig anders behandelt als die körperlich Kranken – eigentlich gar nicht behandelt, sondern lediglich ver- wahrt.

37
Q

Bis diese Kritik aber richtig laut wurde, dauerte es noch sehr lange. Vorher wurde in Deutschland noch das wohl dunkelste Kapitel der Psychiatriegeschichte überhaupt ge- schrieben:

A

mit der Zwangssterilisation von Men- schen mit (tatsächlichen oder vermeintlichen) Erbkrankheiten und der planmäßigen Tötung psy- chisch kranker Menschen (Euthanasie) in der Zeit des Nationalsozialismus.

38
Q

Die nächste Stufe der Psychatrieentwicklung: Die Gemeindepsychologie

A

Die nächste Stufe der Psychiatrieentwicklung, die Ablösung des Konzepts der Anstaltspsychiatrie durch das Konzept der Gemeindepsychiatrie, kam erst aufgrund des Zusammentreffens und Zusam-menwirkens einer Vielzahl von Entwicklungen und Faktoren zustande. Bedeutsam für die Verände- rung der psychiatrischen Versorgung war sicher- lich auch, dass seit den 1950er-Jahren zunehmend neue pharmakologische Behandlungsmöglich- keiten zur Verfügung standen

39
Q

Wie eng die Entwicklungen der Psychiatrie mit politischen Entwicklungen verbunden sind, zeigt sich u. a. darin, dass..?

A

Wie eng die Entwicklungen der Psychiatrie mit politischen Entwicklungen verbunden sind, zeigt sich u. a. darin, dass die Umgestaltung der psychi- atrischen Versorgung in einzelnen Ländern zu un- terschiedlichen Zeitpunkten in Angriff genommen wurde. So setzten z.B. in den USA politische Schritte zur Abkehr von der Anstaltspsychiatrie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein.

40
Q

Der Community Mental Health Center Act

A

All- gemein bekannt geworden ist der Community Mental Health Center Act, der 1963 unter Prä- sident Kennedy beschlossen wurde und die voll- ständige Reorganisation der psychiatrischen Ver- sorgung einleiten sollte. Nach dem neuen Ver- ständnis von Psychiatrie – der Gemeindepsychia- trie – sollten psychiatrische Interventionen nun in kleinen, dezentralen Einrichtungen erfolgen, „im Lebenskontext, unter Berücksichtigung von sozia- len Faktoren und unter Benutzung von sozialen Beziehungen, und mit der Perspektive der sozialen Eingliederung in das Alltagsleben einer Gemein- schaft“ Dieses Konzept im- pliziert eine Distanzierung vom Klinischen Blick und eine Aufwertung nichtpsychiatri- scher Berufsgruppen, Laienhilfe und Selbsthilfe.

41
Q

Die Psychiatrie-Enquête.

A

In der (alten) Bundes- republik Deutschland begann die kritische Aus- einandersetzung mit der Anstaltspsychiatrie erst Ende der 1960er-Jahre, im Zuge der 1968er-Bewe- gung. Mitarbeiter aller Berufsgruppen in der Psy- chiatrie schlossen sich mit dem Ziel zusammen, die Zustände in der Psychiatrie zu verändern. Der 1970 gegründete Mannheimer Kreis, aus dem später die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psy-chiatrie (DGSP) hervorging, gilt noch heute als In- begriff der Psychiatriebewegung jener Zeit.

42
Q

Wasgilt bis heute als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer humaneren psychiatrischen Versorgung in Deutschland?

A

Die politische Reformbereitschaft Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre führte dazu, dass der Deutsche Bundestag 1971 eine Sachver- ständigenkommission einsetzte, die den Auftrag hatte, die Lage der Versorgung psychisch Kranker sowie geistig und seelisch Behinderter in Deutsch- land zu erfassen und Empfehlungen für die zu- künftige Versorgung auszuarbeiten. Die Psychia- trie-Enquête von 1975 (Deutscher Bundestag, 1975) gilt bis heute als wichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer humaneren psychiatrischen Versorgung in Deutschland.

43
Q

Die im Enquête-Bericht ausgesprochenen Empfeh- lungen für die Versorgung psychisch Kranker und Behinderter folgen weitgehend den Leitbildern der Gemeinde- psychiatrie:

A

● Ausschöpfung präventiver Hilfen,
● Förderung von Beratungsdiensten und Selbsthilfegruppen,
● bedarfsgerechte und umfassende Versorgung al-
ler psychisch Kranken und Behinderten,
● gemeindenahe Versorgung,
● Umstrukturierung der großen psychiatrischen
Krankenhäuser,
● Ausbau von ambulanten und komplementären
Diensten,
● Koordination aller beteiligten Dienste und Ein-
richtungen,
● multidisziplinäre Zusammenarbeit aller beteilig-
ten Berufsgruppen und
● Gleichstellung von psychisch und somatisch
Kranken – bei Gesetzen, Leistungen von Kran- kenkassen etc.

44
Q

Was wurde in Anlehnung an die amerikanische Gemeindepsychiatrie in der Enquete vorgeschlagen?

A

In Anlehnung an die amerikanische Gemeindepsy- chiatrie wurden in der Enquête sog. Standardver- sorgungsgebiete vorgeschlagen, welche die Er- reichbarkeit der Angebote und die Kontinuität der Versorgung gewährleisten sollten. Versorgungsangebote sollten also auf überschau- bare geografische Bereiche abgestimmt werden

45
Q

Mit der Psychiatrie-Enquête war die Idee einer le- diglich psychiatrischen Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen von der Idee einer …. abgelöst worden. Das hatte natürlich auch Einflüsse auf die Psychologie:

A

Der kurativen Orientierung der Klinischen Psycho- logie wurden die Gemeindepsychologie und das Konzept der psychosozialen Praxis entgegen- gesetzt. In kritischer Distanz zur traditio- nellen Klinischen Psychologie und zum medizini- schen Modell plädierte man für eine Aufwertung von primärer Prävention, Selbsthilfe, sozialen Netzwerken und nichtprofessionellen Un- terstützungssystemen und suchte nach Hand- lungsmöglichkeiten jenseits von Defizitorientie- rung und Expertenattitüden. Ressourcenorientie- rung, Lebensweltorientierung und Empower- ment wurden zu zentralen Handlungskonzepten.

46
Q

Lebensweltorientierung“ bedeutet?

A

Lebensweltorientierung“ bedeutet, den Blick auf die Lebenswelt und den Alltag der Klienten zu richten und das professionelle Handeln auf die in- dividuellen sozialen Probleme und Bedürfnisse der Betroffenen abzustimmen. Das impliziert Respekt vor anderen Lebenswelten und Lebensentwürfen, Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit, die Bereitschaft zu selbstkritischer Auseinander- setzung mit dem eigenen Handeln und den weit- gehenden Verzicht auf Interventionen und Tech- niken.

47
Q

„Ressourcenorientierung“ und „Empowerment“ :

A

„Ressourcenorientierung“ und „Empowerment“ sind eng miteinander verbunden und verlangen von den Professionellen den Verzicht auf die Über- nahme der Expertenrolle

48
Q

Die Leitbilder von Ge- meindepsychiatrie und Gemein- depsychologie heute:

A

Die Leitbilder der Psychiatrie-Enquête und der Ge- meindepsychologie haben die psychiatrische Ver- sorgung in Deutschland deutlich, aber nicht grundsätzlich verändert. Zwar hat sich der Um- gang mit psychisch kranken oder gestörten Men- schen seit den 1970er-Jahren (u. a. durch den Aus- bau der ambulanten und komplementären Versor- gung) deutlich verbessert, eine Strukturreform der psychiatrischen Versorgung sei aber durch die Psychiatrie-Enquête nicht wirklich erreicht wor- den. So seien z. B. die Vorschläge zur primären Prä- vention, die in der Psychiatrie-Enquête sogar an erster Stelle der „Grundsätze einer Neuordnung der Versorgung psychisch Kranker und Behinder- ter“ standen (Deutscher Bundestag, 1975, S. 189 f.), kaum umgesetzt worden (vgl. Keupp, 1995b). Dass es schwer werden würde, die Vor- schläge zur Primärprävention umzusetzen, ahnte man allerdings auch schon damals

49
Q

Was hat die klinische Psychologie der Gemeindepsychologie zu verdanken?

A

Dennoch hat die Klinische Psychologie der Ge- meindepsychologie viele Ideen und Wertorientie- rungen zu verdanken. So gehört z.B. die gemein- depsychologische Forderung nach Anerkennung von Diversität (diversity), d. h. nach Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit (z.B. in Ge- schlecht, Hautfarbe, Religion, sexueller Orientie- rung, sozioökonomischem Status und in kulturel- len Besonderheiten) nun zu den ethischen Grund- sätzen, die für alle Psychologen gelten