Angststörung Verhaltenstherapie Flashcards
Was ist mit Normabweichungen gemeint?
Soziale Normen im Etikettierungsansatz vs. funktionale Norm in störungsspezifischer Psychologie
Störungsspezifische Psychologie legt….
Fokus auf Symptome und Syndrome einzelner PatientInnen
Symptombereiche: 3 Stück
- körperlich physiologische Ebene
- Gedanken, Vorstellungen, Gefühle
- Verhalten und Handlungsimpulse
Symptombereiche: Körperlich physiologische Ebene
- Potenziell alles was erhöhtes Erregungsniveau anzeigt, bis hin zu Angstattacke
- Häufig zentral: schwitzen, zittern, erröten
- körperliche Reaktion selbst
- Wahrnehmung der Reaktion (Interozeption)
Symptombereiche: Gedanken, Vorstellungen, Gefühle
- Einschätzung der wahrgenommenen Reaktion mit Blick auf die anderen
- Katastrophisierende Gedanken
- Die eigene Wirkung vor dem inneren Auge ausmalen
- Angst, Scham, Unsicherheit, Angst vor der Angst
Symptombereiche: Verhalten und Handlungsimpulse
- Flucht
- Vermeidung
- Sicherheitsverhalten
- kann sozial ungeschickt oder inadäquat wirken
Allgemeine Merkmale einer psychischen Störung nach DSM:
- Auslöserunabhängig: gegenwärtig verhaltensmäßige, psychische oder biologische Funktionsstörung —> die spezifische Symptomatik
- Leidensdruck
- Beeinträchtigungen in mind. einem Funktionsbereich
- deutlich erhöhtes Risiko zu sterben, für Schmerzen, Beeinträchtigungen oder tiefgreifendem Freiheitsverlust
Diagnosen nach ICD/DSM mit Bezug zu sozialer Ängstlichkeit
- soziale Angststörung
- Störung mit sozialer Ängstlichkeit des kindesalters
- Selbstunsicher/ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung
- selektiver Mutismus
Soziale Angststörung im DSM-5
A. Ausgeprägte Furcht oder Angst vor einer oder mehreren sozialen Situationen, in denen die Person von anderen Personen beurteilt werden
könnte.
Beachte: Bei Kindern muss die Angst auch unter Gleichaltrigen auftauchen, nicht nur in Interaktion mit Erwachsenen.
B. Betroffene befürchten die negative Bewertung durch andere aufgrund ihres eigenen Verhaltens oder sichtbarer Angstsymptome (typische Befürchtungen: beschämend, peinlich sein, zurückgewiesen werden, andere vor den Kopf stoßen).
C. Die sozialen Situationen verursachen fast immer Angst oder Furcht. Beachte: Bei Kindern kann sich die Angst durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren, Anklammern, Zurückweichen oder die Unfähigkeit zu sprechen zeigen.
D. Die sozialen Situationen werden vermieden oder nur unter intensiver Furcht/Angst ertragen.
E. Die Furcht/Angst steht nicht im Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung und zum soziokulturellem Kontext.
F. Dauer: typischerweise 6 Monate oder mehr
G. Furcht, Angst oder Vermeidung verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigung im sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
H. -J. nicht besser durch Substanzwirkung, andere psychische Erkrankungen oder medizinische Faktoren zu erklären
Spezifiziere, ob nur öffentliche Leistungssituationen (u.a. öffentliches Sprechen)
Typische Situationen:
§ soziale Interaktionen (sich unterhalten, Unbekannte Menschen treffen, telefonieren, Kontakt mit Autoritätspersonen)
§ beobachtet werden (vor anderen essen, trinken, schreiben)
§ vor anderen etwas leisten (einen Vortrag halten, mündliche Prüfungen)
Selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung: DSM-5: Ein tiefgreifendes Muster von:
§ sozialer Gehemmtheit (u.a. wegen Gefühlen der eigenen Unzulänglichkeit; z.B. keine neuen Aktivitäten wg. „Beschämungsrisiko“; Kontakte nur widerwillig, wenn noch unklar, ob man gemocht wird),
§ Insuffizienzgefühlen (z.B. sich für sozial unbeholfen, unattraktiv und minderwertig im Vergleich zu anderen halten) und
§ Überempfindlichkeit gegenüber negativer Beurteilung (z.B. „präventiv“ nur eingeschränkte berufliche und private Aktivitäten; starker Fokus auf die Möglichkeit, kritisiert werden zu können)
Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und die Störung manifestiert sich in verschiedenen Situationen (inkl. intimer Beziehungen!)
Epidemiologie Für Kinder und Jugendliche
Lebenszeitprävalenz: ca. 2-4%
Punktprävalenzen: 0.5-2.6% (höher mit steigendem Alter)
Mädchen : Jungen 3 : 2
Komorbidität: andere Angststörungen, affektive Störungen (Depression fast 40% bei 15- 17jährigen), Substanzstörungen
Das Vulnerabilitäts- Stress-Modell:
- Integratives Modell
- Abgeleitet aus dem biopsychosozialen Modell
- Nicht „schulenspezifisch“, aber in
den Theorien und Therapien der kognitiv-behavioralen Perspektive stärker verbreitet - Nicht störungsspezifisch
Faktoren, die die Entstehung sozialer Angst beeinflussen
Verhaltenshemmung – behavioral Inhibition
—> Tendenz, auf Neues oder vermeintlich Furchtauslösendes mit Angst und Rückzug zu reagieren ‒ Furchtsame Reaktion + Schwierigkeiten, die Reaktion zu regulieren (Emotionsregulation)
—> Temperamentsmerkmal bei ca. 15-20% der Kinder
‒ Beobachtbar bereits ab dem ca. 9. Lebensmonat, valide ab dem 20. LM
‒ Häufiger bei Mädchen
—> spezifischer Risikofaktor für soziale Ängste (Korrelation mit anderen Angstformen geringer)
Faktoren, die die Entstehung sozialer Angst beeinflussen: Elterliches Erziehungsverhalten, Belastung
—> ängstlich-protektives oder ablehnendes Erziehungsverhalten ist assoziiert mit selbstunsicher- vermeidendem Bindungsmuster
—> Eltern von sozialängstlichen Kindern hatten häufiger einen überbehütenden oder gleichgültigen Erziehungsstil
—> Psychische Störungen der Eltern (v.a. Angststörungen, Depressionen und Alkoholabhängigkeit) erhöhen das Risiko einer soz. Angststörung in der Kindheit sowohl isoliert, als auch in Interaktion mit Überbehütung, Ablehnung und Mangel emotionaler Wärme
Faktoren, die die Entstehung sozialer Angst beeinflussen: Typische Stressereignisse und auslösende Faktoren
—> Kritische Lebensereignisse, z.B. Häufige Umzüge in Jugend, Schulwechsel, Schul- /Studienabschluss, Stellenwechsel, (anstehende) Beförderung, Trennung/Scheidung der Eltern
—> Soziale „Traumata“, wie ausgelacht oder gehänselt werden wegen persönlicher Merkmale (Aussehen, Sprechweise, …), öffentliche Abwertung durch Lehrkräfte, „totale Blamagen“ durch Blackout oder starke Angstsymptome in einer Bewertungssituation
—> Bestimmte Lebensbedingungen, wie bzgl. Leistung kritische oder desinteressierte Bezugspersonen, soziale Isolation, Außenseiterrollen
Das Verhaltenstheoretische Modell
abgeleitet aus experimentell begründeter Lerntheorie
§ Konzentration auf beobachtbares Verhalten
§ Regelhafte Wenn-Dann-Zusammenhänge
(Reiz-Reaktions-Muster)
§ Psychische Störung = Verhaltensauffälligkeit/- Problem
§ Erlernen - Verlernen
§ funktionale Zhg. mit Umweltbedingungen
§ A(ntecendent) –> B(ehavior) –> C(onsequence)
§ „Mensch als Roboter“
Das kognitive Modell
§ Kognitive Wende
§ Fokus auf nicht beobachtbare (kognitive)
Prozesse
- z.B. Gedanken, Selbstwahrnehmung, Attributionen, Erwartungen, Ziele, Pläne…
§ Kognitionen, die expliziert/bewusst gemacht/verbalisiert werden (und erst dadurch „beobachtbar“ werden)
§ frühe interaktionelle Erfahrungen wichtig für:
§ die Auswahl und Verarbeitung von Erfahrungen
§ Selbstbild
Bezug zu kognitiv behavioralen Störungstheorien: Zentral:
- Störungsspezifisch
- Schwerpunkt auf aufrechterhaltenden Bedingungen
- auch Prädispositionen und auslösende Bedingungen
Informationsverarbeitung – Tendenzen bei ängstlichen Kindern/Jugendlichen/Erwachsenen: Aktuelle Situation und Frühere Erfahrungen
- § Aktuelle Situation
§ Erhöhte Aufmerksamkeitshinlenkung auf angstauslösende Reize
§ Reize werden häufiger und schneller als bedrohlich eingeschätzt - § Frühere Erfahrungen
§ Haben Annahmen über sich selbst und
soziale Umgebung geprägt
—>automatische Gedanken als Resultat von wahrgenommenen Situationsmerkmalen + aktivierten früheren Erfahrungen
4 problematische aufrechterhaltende Prozesse
1) ErhöhteSelbstaufmerksamkeit
2) VerzerrteBewertungdereigenenPersonals
soziales Objekt
3) Sicherheitsverhalten
4) Angstsymptome
Erhöhte Selbstaufmerksamkeit
Wirkt v.a. während der Situation:
—> Eigentliches Ziel: aufpassen, keine Fehler machen, Angstsymptome monitoren
—> Fokus auf internale Prozesse verhindert Verarbeiten externaler Informationen, z.B. Reaktionen der sozialen Umgebung
—> Durch den Fokus auf die internalen (körperlichen) Prozesse werden Angstsymptome stärker wahrgenommen
Verzerrte Bewertung der eigenen Person als soziales Objekt
Wirkt während der Situation (und danach):
—> Negative Selbstbewertung aufgrund internaler Informationen Ò „gefühlter Eindruck“
‒ „sich ängstlich fühlen“ = „ängstlich aussehen“
—> Verzerrte Vorstellungsbilder von sich selbst in der Situation „Wie wirke ich gerade auf andere?“
Sicherheitsverhalten
Wirkt v.a. während der Situation
—> Ziel – gewünschte Wirkung: soll befürchtetes Ereignis verhindern
—> Mittel: sehr vielfältig, ergibt sich aus den konkreten Befürchtungen („Wenn X nicht passieren
soll, was kann ich tun?“)
‒ Bestimmte Verhaltensweisen vor und während der eigtl. Situation
‒ gedankliche Prozesse und Handlungen
—> Tatsächliche Wirkung – oft paradox:
‒ Kann gefürchtete Symptome hervor rufen
‒ kann ungewollt Aufmerksamkeit des „Publikums“ auf sich lenken
‒ kann Bewertungen und Verhalten anderer Personen so beeinflussen, dass die
Befürchtungen bestätigt werden
‒ fördert internale und reduziert externale Aufmerksamkeit
‒ Verhindert die Widerlegung unrealistischer Bewertungen
Angstsymptome
Wirken v.a. während der Situation
—> Für Betroffene besonders relevant: (vermeintlich) sichtbare Symptome
—> Typischer Teufelskreis
Post-event Processing:
—> dysfunktionales „Rekapitulieren der Situation“: negative (Um)Bewertung, geprägt von der erlebten Angst und der negativen Selbstwahrnehmung
—> oft repetitives negatives Denken/Grübeln, auch über unbedeutende Details; Schamgefühle
Mögliche Schlussfolgerungen für kommende Situationen:
- Sorgen, Erwartungsangst, Misserfolgserwartung
- Vermeiden!
Bessere Vorbereitung —> Sicherheitsverhalten
Grenzziehungen zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Störung
Normabweichendes Verhalten ist nicht so eindeu- tig von psychischen Störungen abgrenzbar, wie das die Definition von psychischen Störungen im aktuellen DSM erscheinen lassen mag. Ähnliches gilt für das Verhältnis von psychischen Störungen und psychischer Gesundheit. Grenzziehungen zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Störung gelten als schwierig bis unmöglich. Das ergibt sich schon aus den Definitionen von psy- chischer Gesundheit. So wird Gesundheit z. B. als „produktive Anpassung“ (d. h. als produktive und konstruktive Auseinandersetzung mit den Anfor- derungen des Lebens) oder als „Selbstverwirk- lichung“ definiert
Drei Modelle psychischer Störungen gelten als so umfassend, dass sie als Rahmenmodelle der Kli- nischen Psychologie von spezifischeren Vorstellun- gen über psychische Störungen unterschieden werden:
● das medizinische oder organische Modell,
● das psychosoziale Modell und
● das biopsychosoziale Modell
psychischer Störungen.
Warum ist die Dreiteilung in Modelle nicht unproblematisch?
Diese Dreiteilung ist des- halb nicht unproblematisch, weil es weder „das“ medizinische noch „das“ psychosoziale oder „das“ biopsychosoziale Modell gibt. Sie gestattet es aber, die unterschiedlichen Vorstellungen im Hinblick auf einige zentrale Grundannahmen darzustellen.
Das medizinische Modell: Die Grundannahmen des medizinischen (organischen) Modells psychischer Störungen lassen sich wie folgt zusammenfassen:
● Psychische Krankheit und psychische Gesundheit unterscheiden sich qualitativ.
● Die „Phänomene abnormer Erlebnis- und Verhaltensreaktionen“ lassen sich in voneinander
abgrenzbare Krankheitseinheiten einteilen.
● Psychische Krankheiten haben einen typischen, vorhersehbaren, objektivierbaren und naturwissenschaftlich erklärbaren Verlauf.
● Die Ursachen psychischer Krankheiten sind or- ganischer (körperlicher) Natur; externe (z. B. so- ziale, familiäre, lebensgeschichtliche) Faktoren können höchstens Auslöser psychischer Krank-
heiten sein.
● Gegen psychische Krankheiten kann man sich
nicht willentlich wehren; wer psychisch krank ist, kann daher nicht für sein Verhalten zur Ver- antwortung gezogen werden.
Diagnose und Therapie psychischer Krankheit fallen in den Zuständigkeitsbereich von Exper- tinnen und Experten mit medizinischer Ausbil- dung
Kritik am medizinischen Modell:
Die Kritik am medizinischen Modell psychischer Störungen kam zunächst vor allem aus der Medizin selbst, später auch aus der Soziologie. Dabei sind vor allem die Antipsychiatrie und der Etikettierungs- ansatz zu erwähnen. Sie kritisierten u. a., dass :
- das organmedizinische Krankheitskon- zept Lebensprobleme und Abweichungen in Krankheiten umdefiniere und damit verschleiere, was eigentlich passiere.
- Außerdem führe die Diag- nostik des medizinischen Modells zur Zuschreibung von Eigenschaften und damit zu Etikettierungen und Stigmatisierungen.
- Schließlich diene das me- dizinische Modell zur Absicherung der ärztlichen Dominanz und Ausübung sozialer Kontrolle. Der Patient werde zwar einerseits entlastet – es wird z. B. nicht von ihm erwartet, dass er seine Krankheit durch einen Willensakt beendet –, gleichzeitig aber auch in seinen Gefühlen von Hilflosigkeit und In- kompetenz verstärkt
Das psychosoziale Modell:
Grundannahmen: Unter das psychosoziale Rahmenmodell psychischer Störungen fallen neben Positionen der Antipsychiatrie und soziologischen Theorien auch die meisten klinisch-psychologischen Modelle. Sie alle stimmen in vier Grundannahmen überein:
● der Kontinuitätsannahme,
● der Äquivalenzannahme,
- der Annahme der Kontextbedingtheit und in
- der Multikausalitätsannahme.
Was postuliert die Kontinuitätsannahme?
Die Kontinuitätsannahme postuliert, dass sich Normalität/Gesundheit und psychische Störung/ Krankheit nicht qualitativ, sondern lediglich quan- titativ (z. B. in Bezug auf Häufigkeit und Intensität bestimmter Verhaltensweisen) unterscheiden und dass die Übergänge zwischen beiden „Zuständen“ fließend sind
Was meint die Äquivalenzannahme?
Nach der Äquivalenz-Annahme „unterliegen nor- male und gestörte Aktivitäten den gleichen Verän- derungsbedingungen, d. h. in beiden Fällen finden Veränderungen aufgrund identischer Prinzipien, z. B. denen des Lernens, statt“
Die Annahme der Kontextbedingtheit:
Hinter der Annahme der Kontextbedingtheit ver- birgt sich die Überzeugung, dass der soziale Kon- text – z. B. die sozioökonomischen Rahmenbedingungen und sozialen und kulturellen Normen und Werte – einen hohen Stellenwert bei der Entste- hung, Definition und Behandlung von psychischen Störungen hat.
Die Multikausalitätsannahme:
Mit der Multikausalitätsannahme wird schließ- lich betont, dass bei der Entstehung psychischer Störungen von einer Vielfalt der Faktoren aus- zugehen ist, die „von unterschiedlicher Art“ (z.B. psychisch, sozial, somatisch) und unterschiedlich bedeutsam sein können
Man geht also davon aus, dass psychische Störun- gen mehr als nur eine Ursache haben, distanziert sich aber damit nicht zwangsläufig vom traditio- nellen Kausalitätsverständnis. So bleibt etwa die erste Variante des Multikausalitätsmodells, das Haupteffektmodell, immer noch an der Idee von der „eigentlichen“ Ursache hängen:
Es nimmt an, dass zumindest die notwendige Voraussetzung für die Entstehung einer Störung angegeben werden kann. Im Interaktionsmodell (2. Variante des Mul- tikausalitätsmodells) wird von zwei oder mehreren gemeinsam an der Entstehung der Störung beteilig- ten Faktoren ausgegangen. Erst im Transaktions- modell (3. Variante des Multikausalitätsmodells) wird eine interdependente, dynamische Kausal- beziehung angenommen
Psychosoziales vs. medizinisches Modell:
Vor dem Hintergrund der Annahmen, die allen Ansät- zen des psychosozialen Rahmenmodells gemein- sam sind, mag man versucht sein, die Debatten zwischen dem medizinischen Modell und dem psychosozialen Modell als abgeschlossen zu be- trachten. Vor allem die Multikausalitätsannahme zeigt, dass ohnehin versucht wird, unterschiedli- che Sichtweisen nebeneinander stehen zu lassen. Außerdem war die Kritik am medizinischen Mo- dell nicht immer grundsätzlich. Das beste Beispiel dafür ist die Psychoanalyse.
Wie wird das biopsychosoziale Modell meistens dargestellt?
Das biopsychosoziale Modell psychischer Störun- gen wird meistens so dargestellt, als ob damit die Einseitigkeiten des medizinischen und psycho- sozialen Modells überwunden wären. Meist wer- den die Vorteile der Integrationsleistung betont und auffallend häufig wird so getan, als ob natür- lich jeder vernünftige Mensch die Annahmen die- ses Modells teilen würde.
Das biopsychosoziale Modell: Grundannahmen
- Wie im Grunde bereits das psychosoziale Modell mit seiner Multikausalitäts- annahme geht das biopsychosoziale Modell davon aus, dass organische, psychische und soziale Be- dingungen und Prozesse in wechselseitiger Bezie- hung zueinander stehen und dass es sich dabei um ein komplexes Wirkungsgefüge handelt.
- Das Mo- dell wurde von Engel auf der Grund- lage der allgemeinen Systemtheorie von Bertalanf- fy (1968) entwickelt. Es geht von einem hierar- chisch aufgebauten System aus, das sich von physi- kalischen Systemen (z. B. Atome) über organische (z.B. Zellen), personale (Erleben und Verhalten), soziale (z. B. Familie), kulturelle und gesellschaft- liche Systeme bis hin zur Biosphäre erstreckt und betont, dass die in der Hierarchie benachbarten Subsysteme in Wechselwirkung zueinander ste- hen.
- Deshalb genüge es nicht, bei (z.B. psy- chischen) Krankheiten nur auf organische Fak- toren zu achten; man müsse vielmehr alle Fak- toren abwägen, „die zu Krankheit und Patienten- status“ beitragen (Engel, 1979, S. 75), also auch soziale und psychologische Faktoren berücksichti- gen.
Die Beziehung des biopsychosozialen Modells zum medizinischen Modell:
- Ein Modell, das für sich in Anspruch nimmt, alle Faktoren zu berück- sichtigen, die bei der Entstehung psychischer Stö- rungen eine Rolle spielen können, wirkt auf den ersten Blick tatsächlich recht überzeugend. Er- staunlich ist aber, dass es relativ häufig als Alter- native zum medizinischen Modell „durchgeht“, obwohl Engel es eindeutig als (neues) medizini- sches Modell eingeführt hat.
- In Abgrenzung von einer Position, nach der sich die Psychiatrie auf „Geisteskrankheiten“ konzentrieren soll, die auf- grund von Hirnfunktionsstörungen biochemischer oder neurophysiologischer Art entstehen, plädier- te er dafür, auch „Lebensprobleme“ als Gegen- stand der Psychiatrie (und der Medizin überhaupt) zu sehen.
- Deshalb sollte seiner Meinung nach das biomedizinische Modell um psychosoziale Aspekte erweitert werden, „ohne dabei die enor- men Vorteile des biomedizinischen Ansatzes zu opfern“
- Als Psychosomatiker konnte Engel weder mit einem Krankheitsver- ständnis einverstanden sein, das lediglich somati- sche Faktoren berücksichtigte, noch wollte er – im Gegensatz zu vielen anderen Medizinern der 1970er-Jahre – die psychosoziale Seite ganz den anderen Berufsgruppen überlassen
Klinisch-psychologische Modelle
In „klinisch-psychologischen Modellen“ sind an- thropologische Annahmen und Annahmen be- züglich der Entstehung und Beeinflussbarkeit von psychischen Störungen zusammengefasst, die das Selbstverständnis der psychotherapeutischen „Grundorientierungen“ ausmachen. Die Aus- einandersetzung mit diesen Modellen ist nicht nur wichtig, um unterschiedliche Perspektiven kennenzulernen, sondern auch, um nachvollzie- hen zu können, was der Verzicht auf eine Modell- vielfalt für die psychotherapeutische Praxis be- deuten würde.
In Anlehnung an Bastine (1998) werden im Fol- genden fünf „klinisch-psychologische Modelle“ unterschieden und im Hinblick auf ihre „Kern- annahmen“ dargestellt:
● daspsychoanalytischeModell,
● dashumanistischeModell,
● dasverhaltenstheoretischeModell,
● daskognitiveModellund
● dasinterpersonaleModell.
Was wird mit dem begriff Kernannahmen zusammengefasst?
Mit dem Begriff „Kernannahmen“ werden grund- legende Annahmen zur Entstehung und Beein- flussbarkeit psychischer Störungen sowie an- thropologische Annahmen zusammengefasst. Es sind Annahmen auf einer sehr abstrakten Ebene, d. h.: Es geht hier nicht um einzelne Störungs- oder Therapietheorien, sondern um metatheoretische Annahmen, die sich in allen einem bestimmten Modell zugeordneten Störungstheorien und Therapietheorien (mehr oder weniger deutlich) finden lassen.
Das psychoanalytische Modell:
- Das auf Freud zurückgehende psychoanalytische Modell sieht den Menschen mächtigen Kräften ausgeliefert, die noch dazu in Widerstreit zueinan- der stehen. So befinde sich der Mensch im Konflikt zwischen seinen Impulsen und Triebbedürfnissen auf der einen Seite, sozialen Werten und Normen auf der anderen Seite.
- In psychoanalytischer Spra- che ausgedrückt: Das Ich steht im Konflikt zwi- schen den triebhaften Kräften des Es und den in der Sozialisation erworbenen Geboten des Über- Ich. Diese Konflikte gelten als unvermeidbar und gehören zum menschlichen Leben dazu.
- Probleme und psychische Störungen entstehen dadurch, dass diese Konflikte unbewusst bleiben und vom Ich nicht bewusst bearbeitet und ausgetragen werden können. Stattdessen greift das Ich zu Abwehr- mechanismen.
- Auf der einen Seite soll durch diese Abwehrmechanismen Angst abge- wehrt werden, die durch das Bewusstwerden sozi- al inakzeptabler Impulse oder eigener Verstöße ge- genüber den Geboten des Über-Ichs entsteht. Auf der anderen Seite verbrauchen Abwehrmechanis- men aber sehr viel psychische Energie, sodass sie scheitern können. In diesem Fall können sich die abgewehrten Inhalte in entstellter Form – als Symptome – Ausdruck verschaffen.
Was sind nach Freud die Symptome die einen Menschen in die Psychotherapie bzw in die Psychoanalyse führen?
Die Symptome, die einen Menschen in die Psycho- therapie bzw. in die Psychoanalyse führen, sind nach Freud nicht durch aktuelle widrige Lebens- bedingungen verursacht, sondern gehen auf le- bensgeschichtlich frühe Erfahrungen, vor allem auf frühkindliche Erfahrungen, zurück (Psycho- genese psychischer Störungen). Der bewusste ak- tuelle Konflikt hat unbewusste Vorläufer in der Vergangenheit. Er reißt gewissermaßen alte Wun- den auf und kann daher auch nicht bearbeitet wer- den, solange der Betreffende sich nicht mit diesen frühen Erfahrungen auseinandersetzt.
Zu welchem Rahmenmodell lassen sich Freuds Ansichten am ehesten zuordnen?
Trotz der Betonung der Psychogenese psychischer Störungen lässt sich Freuds Störungskonzeption nicht eindeutig dem psychosozialen Rahmenmo- dell (s.S. 40 f.) zuordnen. Zwar lenkt Freud den Blick auf psychosoziale und kulturelle Bedingun- gen und entfernt sich damit von der rein linear ge- dachten Kausalität des medizinischen Modells. Gleichzeitig aber geht er davon aus, dass der Mensch von angeborenen Triebkräften gesteuert wird und dass alle psychischen Erscheinungswei- sen, also auch alle Symptome, auf bestimmte Ursa- chen zurückzuführen sind und vollständig erklärt werden können (psychischer Determinismus).
Das humanistische Modell:
- In deutlicher Abgrenzung zum medizinischen Mo- dell werden psychische Störungen z. B. bei Rogers, dem für die Klinische Psychologie wichtigsten Ver- treter des humanistischen Modells, nicht auf „zu- grundeliegende Bedingungen“ (wie Konflikte oder organische Ursachen) zurückgeführt. Vielmehr werden sie als Ausdruck und Folge dessen ver- standen, dass jemand einen Teil seiner Erfahrun- gen nicht zulässt oder verzerrt wahrnimmt, um das Bild, das er von sich hat, aufrechterhalten zu können.
- Das Menschenbild des humanistischen Modells hat seine Wurzeln u. a. in der Phänome- nologie und Gestaltpsychologie. Jeder Mensch le- be demnach in der Welt seiner Erfahrungen und könne nur verstanden werden, wenn man sich in seinen „inneren Bezugsrahmen“ so gut wie mög- lich hineinversetzt.
- Durch die Annahme, dass jeder Mensch sich „seine“ Welt konstruiert, wird aber nicht nur darauf verwiesen, dass persönliche Sinn- und Bedeutungszuschreibungen das Verhalten oft mehr bestimmen als äußere Gegebenheiten. Men- schen wird damit auch die Fähigkeit zugestanden, selbst zu entscheiden, wie sie sich in ihrer sozialen und materiellen Umwelt verhalten und welche Er- fahrungen sie zulassen. Anders ausgedrückt hat der Mensch die Fähigkeit, sich selbst – nach eige- nen Bedürfnissen und in Anpassung an die Umwelt – zu steuern.
Das verhaltenstheore- tische Modell
- Ebenfalls in deutlicher Abgrenzung vom psycho- analytischen Modell stellt das mit den Namen Eysenck, Skinner und Wolpe verbundene verhaltens- theoretische Modell den Versuch dar, eine psycho- logische Grundlagentheorie – die experimentell begründete Lerntheorie – auf die Beschreibung, Erklärung und Behandlung psychischer Störungen anzuwenden.
- Kennzeichnend für das verhaltens- theoretische Modell sind die Konzentration auf be- obachtbares Verhalten und auf regelhafte „Wenn-dann-Zusammenhänge“ und die Gleich- setzung von psychischen Störungen mit Verhal- tensauffälligkeiten bzw. problematischen Verhal- tensweisen.
- Man geht davon aus, dass auffälliges oder problematisches Verhalten – wie jedes ande- re Verhalten auch – gelernt worden ist und dass es in funktionalem Zusammenhang mit Umwelt- bedingungen steht, die dem Verhalten voraus- gehen oder ihm nachfolgen.
Von welchem Rahmenmodell grenzt sich das verhaltenstheoretische Modell stark ab?
Die anthropologischen Annahmen des verhaltenstheoretischen Modells sind daher mit der Metapher „….“ zu- sammengefasst worden?
Wie die Störungskonzeption des humanistischen Modells lässt sich auch die Störungskonzeption des verhaltenstheoretischen Modells als klare Ab- sage an das medizinische Modell verstehen. Es wird nicht davon ausgegangen, dass den beob- achtbaren Symptomen ursächlich eine individuelle organisch fundierte Disposition zugrunde liegt. Al- lerdings wird dem Klienten/Patienten – ähnlich wie im medizinischen Modell – auch im verhal- tenstheoretischen Modell wenig Eigenverant- wortlichkeit für sein Verhalten und für die Ände- rung seines Verhaltens zugeschrieben bzw. zuge- standen. Das Verhalten von Menschen wird als eine Funktion der Umweltbedingungen oder als eine Reaktion auf Umweltbedingungen gesehen; Möglichkeiten einer aktiven Einflussnahme der Person auf ihre Umwelt bleiben weitgehend unbe- rücksichtigt. Die anthropologischen Annahmen des verhaltenstheoretischen Modells sind daher mit der Metapher „Der Mensch als Roboter“ zu- sammengefasst worden
Das kognitive Modell:
Die Selbstbeschränkung des verhaltenstheoreti- schen Modells auf die experimentell begründete Lerntheorie stieß schon bald an ihre Grenzen. Die Übertragung eines Reiz- und Reaktionsverständ- nisses, das aus tierexperimentellen Studien stammte, auf psychische Probleme vom Menschen erwies sich als unangemessen und wenig tragfä- hig. Die Erfahrungen in der klinisch-psychologi- schen Praxis legten es nahe, sich auch nichtbeob- achtbaren Prozessen zuzuwenden: den Erklärun- gen und Erwartungen der Klienten, ihren Bedeu- tungszuschreibungen (Attributionen), ihrer Selbst- wahrnehmung etc. Die kognitive Wende machte die Auseinandersetzung mit solchen Prozessen auch in der empirisch orientierten akademischen Klinischen Psychologie hoffähig.
Wovon geht man im kognitiven Modell aus?
- Ähnlich wie im humanistischen Modell geht man auch im kognitiven Modell davon aus, dass Ver- halten sich nicht einfach nur aus gelernten Verbin- dungen von Reizen und Reaktionen entwickelt, sondern dass es (auch) darauf ankommt, wie Men- schen über Ereignisse denken und wie sie die Wirklichkeit konstruieren. Wie sich Menschen verhalten, werde deshalb auch davon mit- bestimmt, wie sie die Umwelt wahrnehmen und interpretieren und welche Bedeutung sie be- stimmten Situationen geben.
- Für die Entwicklung und Veränderung psychischer Probleme hätten deshalb Kognitionen (Erwartungen, Ziele, Pläne, Bewertungen, Erklärungen, Überzeugungen etc.) eine zentrale Rolle.
- Wie im humanistischen Modell wird auch im kognitiven Modell angenommen, dass bei der Auswahl und Verarbeitung von Erfah- rungen frühe interaktionelle Erfahrungen und das Bild, das jemand von sich selbst hat, eine wichtige Rolle spielen. Eine Änderung von Kogni- tionen könne daher vom Klienten u.U. auch die Bereitschaft zur Änderung des eigenen Selbstbil- des verlangen. Wie das verhaltenstheoretische und das humanistische Modell steht auch das ko- gnitive Modell in kritischer Distanz zum medizini- schen Modell.
Das interpersonale Modell:
- Die klarste Absage an das medizinische Modell nimmt das interpersonale Modell für sich in An- spruch. Es ersetzt die lineare Kausalität des medi- zinischen Modells durch das Konzept der „zirkulä- ren Kausalität“ und interessiert sich vor allem für die Funktion psychischer Störungen in sozialen Interaktionsprozessen.
- Im Mittelpunkt des Inte- resses stehen also nicht Individuen, sondern inter- personale Beziehungen und soziale Transaktio- nen. Das gilt vor allem für die Systemische Thera- pie und Familientherapie der 1970er- und 1980er-Jahre, die psychische Störungen nur noch über Interaktionsmuster und Interaktionsstruk- turen verstand und über Eingriffe in diese Inter- aktionsmuster zu behandeln versuchte
Interpesonales Modell: Rolle des Index Patienten:
- Diejenige Person, die auffälliges Verhalten oder Symptome zeigt, wird in der Rolle des „Index-Pa- tienten“ gesehen. Der „Index-Patient“ bekommt in der Familie diese Rolle zugeschrieben und über- nimmt sie, um das Beziehungsgleichgewicht der Familienmitglieder aufrechtzuerhalten. Betrachtet man nur den Einzelnen, erscheinen seine Sympto- me sinnlos. Im familiären Kontext werden sie da- gegen als sinnvoller Beitrag zur Stabilisierung des Familiensystems verständlich und erklärbar. In Abgrenzung vom Konzept der linearen Kausalität (z. B. des medizinischen Modells) richtet das inter- personale Modell das Augenmerk auf Muster von Beziehungen und Interaktionen und auf die Wech- selwirkungen zwischen dem Verhalten der intera- gierenden Personen (zirkuläre Kausalität).