Epidemiologie: Inzidenz, Prävalenz, Mortalität und andere zentrale Begriffe Flashcards

1
Q

Epidemiologie: Definition der Epidemiologie:

A

—> Epidemiologie (Gr. epi = über, demos = Volk, logos = Lehre)
—> Nach einer verbreiteten Definition ist die Epidemiologie die quantitative Erforschung der Verteilung und der Determinanten (Risikofaktoren) von Krankheiten (oder auch Gesundheitszuständen) in der Bevölkerung und die Anwendung der Erkenntnisse auf die Kontrolle (Prävention und Behandlung) von Krankheiten.

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2
Q

Repräsentative Befragungen
(Bevölkerungssurvey, Bevölkerungspanel)

A
  • Sozio-oekonomische Panel (SOEP)
  • Gesundheit in Deutschland aktuell (GEDA)
  • Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS)
  • Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS, Kinder- und Jugendgesundheitssurvey)
  • European Health Interview Survey (EHIS), Europäische Gesundheitsumfrage
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3
Q

Ziele und Methoden der DEGS1-MH:

A
  • Bundesweiter Gesundheitssurvey
  • Ziel: Umfassende Gesundheitsberichterstattung
    (Prävalenz, Risiken, Korrelate)
  • Repräsentative bundesweite Querschnittstudie N = 5.317
    (4.483) Personen (18 – 79 Jahre, soziodemographisch gewichtet).
  • Diagnostische Basis: DIA-X/CIDI ! DSM-IV-TR-Kriterien, neuropsychologische Daten, Psychosesymptome, Fatigue- und Lebensqualitätsscreenings.
  • Auswertung: Nach Geschlecht und Störung getrennt und auf die Bevölkerungszahl hochgerechnet (in Mio.)
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4
Q

12 - Monatsprävalenz Geschlecht (Frauen, Männer, Gesamt, Anzahl betroffener in Millionen)

A

Frauen: 33,3
Männer: 22,0
Gesamt: 27,7
Anzahl betroffener in Millionen: 17,8

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5
Q

12 Monats Prävalenz Substanzgebrauch

A

Frauen: 3,5
Männer: 7,9
Gesamt: 5,7
Anzahl betroffener in Millionen: 3,7 Millionen

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6
Q

12 Monatsprävalenz Affektive Störungen

A

Frauen: 12,4
Männer: 6,1
Gesamt: 9,3
Anzahl betroffener in Millionen: 6 Millionen

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7
Q

12 Monatsprävalenz Angststörungen

A

Frauen: 21,3
Männer: 9,3
Gesamt: 15,3
Anzahl betroffener in Millionen: 9,8

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8
Q

Gegenstandsbereich der Epidemiologie Spezifische Aufgaben der Epidemiologie

A
  1. Die Bestimmung der Häufigkeit und der Verteilung der Krankheiten in der Bevölkerung
  2. Das Erkennen der Krankheitsätiologie und deren Risikofaktoren, um damit zur besseren Definition beizutragen
  3. Die Untersuchung des natürlichen Verlaufs und der Prognose von Krankheiten
  4. Das Bewerten von präventiven und therapeutischen Maßnahmen
  5. Die Entwicklung von Entscheidungshilfen für Fragen der Gesundheits- und Umweltpolitik
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9
Q

Gegenstandsbereich der Epidemiologie Definition der Epidemiologie: Aufgabe/Ziele: 1) Deskriptive Epidemiologie:

A

1) Deskriptive Epidemiologie:
Differenziert und beschreibt die Krankheitshäufigkeiten und Krankheitsverläufe ➔ Darstellung der Verteilung von Krankheiten gegenüber der gesunden Bevölkerung, Untersuchung der Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen (Vervollständigen des klinischen Bildes).

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10
Q

Gegenstandsbereich der Epidemiologie Definition der Epidemiologie: Aufgabe/Ziele: 2) Analytische Epidemiologie:

A

2) Analytische Epidemiologie:
Deckt die Ursache- Wirkungsbeziehungen bei der Entstehung oder Verhütung von Erkrankungen auf (Prüfung „kausaler“ Beziehungen zwischen Umweltfaktoren und Krankheit)
➔ Analyse der Ursachen der Verteilung von Krankheiten, Ermittlung von individuellen Krankheitsrisiken.

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11
Q

Gegenstandsbereich der Epidemiologie Definition der Epidemiologie: Aufgabe/Ziele: 3) Experimentelle Epidemiologie:

A

3) Experimentelle Epidemiologie:
Widmet sich der Implementation epidemiologischer Erkenntnisse in Form von Interventionsmaßnahmen und der Evaluation der Wirksamkeit dieser Interventionen.

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12
Q

Relevanz der Epidemiologie für die Klinische Psychologie

A

” Die Beschäftigung mit dem Ausmaß psychischer Störungen und der Behandlungsplanung.
“ Die Häufigkeit von konkreten Störungen (übersetzt in verschiedene Maßzahlen) dienen als Basis für vielfältige (gesundheitspolitische) Überlegungen.
“ Die Studien liefern Hinweise auf Risikofaktoren, die wiederum für das Verstehen individueller Zustände nützlich sind.

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13
Q

Historischer Exkurs
Geschichte und die Grundlagen epidemiologischer Forschung:

A
  • Epidemiologie war schon früh ein Forschungsfeld, das sich besonders auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten bezog.
    BEISPIEL: Dr. John Snow und William Farr untersuchten die Ausbreitung der Cholera Epidemie in London 1848, 1853/54 und 1866.
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14
Q

Grundbegriffe der Epidemiologie
Die Falldefinition ist?

A

Die Falldefinition ist die exakte Zuordnung einer Person zu einem Krankheitsfall.
Mit anderen Worten: Die Falldefinition bezeichnet diagnostisch greifbare Störungsmerkmale, die eine Person aufweisen muss, um als „Fall“ identifiziert zu werden.
* Eine oder mehrere spezifische Diagnosen
* Ein oder mehrere Syndrome
* Oder einzelne diagnostische Merkmale.

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15
Q

Die Falldefinition kennt zwei methodische Ansätze:

A
  1. Der dimensionale Ansatz: stützt sich auf Merkmale oder Symptome als Analyseeinheit und untersucht, unter Annahme gradueller Unterschiede, ihr Ausmaß und ihre Häufigkeit.
  2. Der kategoriale Ansatz: nimmt kategoriale Unterschiede zwischen Fällen und Nicht-Fällen an und analysiert die jeweiligen Fallhäufigkeiten.
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16
Q

Was versteht man unter Exposition?

A

Unter Exposition versteht man die Faktoren, denen eine Bevölkerung ausgesetzt ist und die einen Einfluss auf den gesundheitlichen Zustand haben können.

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17
Q

Mögliche (aber nicht kausale) Folgen einer Exposition:

A
  • z.B. Morbidität: ist das Auftreten von Krankheitsfällen.
  • z.B. Mortalität: ist die Häufigkeit der Sterbefälle, bezogen
    auf eine Bevölkerung.
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18
Q

Was ist der Fallindex?

A

Der Fallindex ist der erste bekannte Fall in einem Krankheitsausbruch.
BEISPIEL: Fallindex: Ausbruch der Cholera in London, 1848: Der englischer Seemann, John Harnold, der in einem Seemannhaus in Horsleydown an der Themse übernachtete.

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19
Q

Cholera (London 1853/54): Datenerhebung:

A
  • Wer erkrankt (Falldefinition/Fallindizies) —> welche Personengruppe(Geschlecht,Alter, Familienstand,Bildung, Einkommenetc.)
  • Wo tritt die Krankheit auf (Exposition) —> bestimmte Stadtteile, Regionen etc.
    Wann tritt die Krankheit auf —> akute Fälle, einzelne Tage, saisonal auftretende Krankheiten etc.
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20
Q

Das Risiko der Southwark & Vauxhall-Kunden an Cholera zu sterben:
Das Risiko der Lambeth-Kunden an Cholera zu sterben:
Interpretation?

A

(1.263 Todesfälle : 40.046 Haushalte)* * 1.000 = 31,5
Interpretation: 31,5 Personen pro 1.000 Haushalte der Southwark & Vauxhall Kunden starben an Cholera.

(98 Todesfälle : 26.107 Haushalte)* * 1.000 = 3,8
Interpretation: 3,8 Personen pro 1.000 Haushalte der Lambeth Kunden starben an Cholera.

Wie viel höher ist das Risiko (Relatives Risiko)? 31,5 : 3,8 = 8,3
Interpretation: Die Southwark & Vauxhall Kunden tragen ein 8,3 mal höheres Risiko an Cholera zu erkranken als die Lambeth-Kunden.

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21
Q

Epidemiologische Maße
1) Prävalenz

A

Häufigkeit einer Erkrankung: Erkrankung einer zufällig ausgewählte Person zu einem konkreten Zeitpunkt an der entsprechenden Krankheit

Die Prävalenzrate ist der Anteil der Erkrankungen in der Bevölkerung (z.B. in Prozent).

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22
Q

Berechnung der Prävalenz:

A

P=M:N
P —> Prävalenz
M. —> AnzahlderPersonenmitKrankheitineinerbestimmten Population während eines bestimmten Zeitraums
N. —> AnteilallerPersonenmitErkrankungsrisikowährendeines bestimmten Zeitraums.
Prävalenzrate=P*100! ProzentualerAnteil!

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23
Q

Prävalenz - Population:
Wahre Prävalenz, Behandlungsprävalenz und Administrative Prävalenz

A
  • Wahre Prävalenz: Repräsentative Erfassung der Häufigkeit von Erkrankungen für die interessierende Population
  • Behandlungsprävalenz: Zahl der Personen mit einer Erkrankung, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in Behandlung befinden oder versorgt werden
  • Administrative Prävalenz: Zahlen auf der Basis von administrativen Routinestatistiken (z.B. in Kliniken)
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24
Q

Prävalenz - Zeit: Punktprävalenz, Periodenprävalenz und Lebenszeitprävalenz

A
  • Punktprävalenz: Die Gesamtzahl aller Krankheitsfälle, die in einer
    definierten Population zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten
  • Periodenprävalenz: Die Prävalenz bezieht sich auf eine konkrete zeitliche Periode (z.B. 12-Monatsprävalenz)
    *Lebenszeitprävalenz: Prävalenzrate beschreibt den %-Anteil der Erkrankungen über die Lebensspanne
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25
Q

1) Prävalenz:
Einflussfaktoren:

A
  • Zahl der Neuerkrankungen (EPIDEMIEN/PANDEMIEN)
  • Krankheitsdauer
  • Falldefinition (diagnostische Möglichkeiten)
  • Migration
  • Krankheitsgründe (z.B. Risikogruppe)
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26
Q

Was ist die Inzidenz?

A

Die Häufigkeit des Neuauftretens einer Krankheit innerhalb
eines bestimmten Zeitraums, unabhängig davon, ob die
Erkrankung zum Ende der zeitlichen Periode noch besteht oder nicht.

” Auftreten der Erkrankungen bei vormals Gesunden “ & Maß für Erkrankungsrisiko

Die Inzidenzrate ist der Anteil der erkrankten Bevölkerung, wobei die Fälle zur Anteilsberechnung verwendet werden, die die Erkrankung vorher noch nicht hatten (also bei denen sie neu auftritt).

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27
Q

Inzidenz
Berechnung der Inzidenz

A

I = M :N
I —> Inzidenz
M —> Anzahl der neuen Krankheitsfälle in einer bestimmten Population
während eines bestimmten Zeitraums
N —> Anzahl Personen mit Erkrankungsrisiko in einer
bestimmten Population während eine bestimmten Zeitraums
Inzidenzrate=I*100! ProzentualerAnteil!

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28
Q

Take Home Messages

  1. Die Epidemiologie gibt Aufschluss über die Verteilung von ….. in der Bevölkerung und bietet damit Entscheidungshilfen für die Schaffung geeigneter (… und ….) …. im Gesundheitswesen.
  2. Begriffe wie Falldefinition, Exposition, Fallindex, (relatives) Risiko und Outcome beschreiben …. von …..
  3. Inzidenz und Prävalenz geben Auskunft über den Anteil und die Dynamik von …. sowie über die …. dieser in verschiedenen Populationen zu verschiedenen Zeitpunkten.
A

Take Home Messages

  1. Die Epidemiologie gibt Aufschluss über die Verteilung von Krankheiten/Störungen in der Bevölkerung und bietet damit Entscheidungshilfen für die Schaffung geeigneter (präventiver und kurativer) Versorgungsstrukturen im Gesundheitswesen.
  2. Begriffe wie Falldefinition, Exposition, Fallindex, (relatives) Risiko und Outcome beschreiben Entstehungs- und Verlaufsbedingungen von Krankheiten/Störungen.
  3. InzidenzundPrävalenzgebenAuskunftüberdenAnteilund die Dynamik von (Neu)Erkrankungen sowie über die Verbreitung dieser in verschiedenen Populationen zu verschiedenen Zeitpunkten.
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29
Q

Als Beginn der modernen epidemiologischen For- schung gelten?

A

Als Beginn der modernen epidemiologischen For- schung gelten die Untersuchungen zu den Verbrei- tungswegen der Cholera und zum Zusammenhang zwischen Armut und Typhus, die Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführt wurden.

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30
Q

Die Epidemiologie ist für die Klinische Psycho- logie in vielerlei Hinsicht interessant:

A

Die Epidemiologie ist für die Klinische Psycho- logie in vielerlei Hinsicht interessant. Neben Er- kenntnissen über die Verteilung und Determinan- ten psychischer Störungen erhofft man sich von ihr u. a. Beiträge zu Fundierung und Weiterent- wicklung des Faches und versorgungspolitische Impulse.

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31
Q

Hauptziele der Epidemiologie sind?

A

die Unter- suchung der räumlichen und zeitlichen Verteilung sowie der Determinanten von Krankheiten (bzw. psychischen Störungen) in definierten Populatio- nen und die Beschreibung des Gesundheits- zustandes von Populationen.

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32
Q

Je nach Schwer- punktsetzung wird zwischen folgenden Varianten der Epidemiologie unterschieden:

A

● Deskriptive Epidemiologie: Sie beschäftigt sich mit der Häufigkeit von Krankheiten/psychischen Störungen und der Krankheitsverteilung in der Bevölkerung bzw. in bestimmten Gruppen der Bevölkerung.
● Analytische Epidemiologie: Sie sucht nach Hin- weisen auf Ursachen und auslösende Faktoren (geht also z.B. der Frage nach, welche Faktoren für die unterschiedliche Verteilung von Depres- sionen bei Frauen und Männern verantwortlich sind).
● Evaluative Epidemiologie: Sie verfolgt das Ziel, Beiträge zur Evaluation des Versorgungssys- tems und Abschätzung des Versorgungsbedarfs zu leisten.

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33
Q

Klinische Psychologen sehen den Stellenwert der Epidemiologie vor allem in folgenden Leistungen:

A

● Sie liefert Daten zur Häufigkeit psychischer Stö-rungen.

● Sie erlaubt verallgemeinerbare Aussagen überden Stellenwert von Risikofaktoren: Anders als in klinischen Untersuchungen, die einen syste- matischen Selektionsbias aufweisen – unter-sucht werden nur Patienten, die professionelle Hilfe aufgesucht haben, oft auch nur Patienten mit eingegrenzten Diagnosen –, wird in epi- demiologischen Untersuchungen großer Wert auf Bevölkerungsrepräsentativität gelegt.

● Epidemiologische Befunde stellen eine wichtige Basis für die Entwicklung von Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention dar (s.S. 120ff.).

● Epidemiologische Untersuchungen ermöglichen Aussagen über den Bedarf an Versorgungsein- richtungen, ihre Inanspruchnahme und Quali- tät. Es lässt sich nicht ausschließen, dass das In- teresse der Klinischen Psychologie an der Epi- demiologie auch deshalb gestiegen ist, weil epi- demiologische Befunde eindrücklich auf einen großen Bedarf an klinisch-psychologischen und psychotherapeutischen Einrichtungen und Ange- boten verweisen und damit die Bedeutung von Klinischer Psychologie und Psychotherapie un- terstreichen.

● Durch die Untersuchung nichtklinischer Grup- pen ermöglicht die Epidemiologie die Unter- suchung des „natürlichen“ Verlaufs von psy- chischen Störungen. Sie lenkt den Blick auf Ko- morbiditäten (s. S. 58 und S. 88) und Manifes- tationsformen psychischer Störungen, die durch die Kriterien der vorliegenden Klassifikations- systeme nicht erfasst werden. Epidemiologische Befunde können so zur Ausdifferenzierung und Verbesserung von Diagnostik und Klassifika- tion beitragen.

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34
Q

▶ Prävalenz und Inzidenz. Die Auftretenshäufig- keit von Krankheiten oder psychischen Störungen in der Bevölkerung bzw. in Bevölkerungsgruppen (die Morbidität) wird in der Epidemiologie in Form von zwei Maßen angegeben: Prävalenz

A
  • „Prävalenz“ bezieht sich auf die Häufigkeit von Krankheiten bzw. psychischen Störungen. Sie be- zeichnet den Anteil aller „Fälle“ (s. Falldefinition, S. 86) in einer definierten Population (z. B. in der Gruppe der Bachelorstudierenden in Berlin) zu einem bestimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder während einer bestimmten Zeitspanne (Pe- riodenprävalenz).
  • Für die Punktprävalenz werden bestimmte Stichtage oder kurze Zeitintervalle (z. B. von zwei bis vier Wochen) gewählt, für die Peri- odenprävalenz längere Zeiträume.
  • So gibt etwa die 12-Monate-Prävalenz an, wie hoch in einer de- finierten Population der Anteil von Personen mit einer bestimmten psychischen Störung im letzten Jahr war, die Lebenszeitprävalenz den Anteil an Personen in einer definierten Population, die bis zum Zeitpunkt der Erhebung zumindest einmal in ihrem Leben die untersuchte Störung hatten.
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35
Q

Man unterscheidet zwischen „wahrer“, adminis- trativer und Behandlungsprävalenz:

A

Aussagen zur wahren Prävalenz werden auf der Grundlage von möglichst repräsentativen Untersuchungen der Gesamtbevölkerung gemacht. Von Behandlungs- prävalenz wird dann gesprochen, wenn sich die Untersuchung nur auf Personen bezieht, die be- reits in Behandlungs- bzw. Versorgungseinrichtun- gen (z. B. in Arztpraxen) vorstellig geworden sind. Wird die Behandlungsprävalenz lediglich auf der Basis von Routinestatistiken festgestellt, spricht man von administrativer Prävalenz.

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36
Q

Was ist mit Inzidenz gemeint?

A
  • Mit Inzidenz ist die Häufigkeit des Neuauftretens einer Krankheit/psychischen Störung gemeint. Wie die Prävalenz bezieht sich auch die Inzidenz immer auf eine spezifische Population
    und einen bestimmten Zeitraum.
  • Anders ausgedrückt bezeichnet die Inzidenz also den Anteil der Personen, der die untersuchte Krankheit/psychische Störung innerhalb eines bestimmten Zeitraums (z. B. im letzten Jahr – man spricht dann von 12-Monats-Inzidenz) neu be- kommen hat.
  • Dabei ist unerheblich, ob die Krank- heit/psychische Störung am Ende des festgelegten Zeitraums noch besteht oder nicht.
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37
Q

Wahre Inzidenz und Behandlungsinzidenz:

A
  • Wie bei der Prävalenz wird auch bei der Inzidenz zwischen wahrer Inzidenz und Behandlungsinzidenz unter- schieden.
  • Von wahrer Inzidenz spricht man, wenn die Inzidenzraten im Rahmen von Untersuchungen an (möglichst) repräsentativen Stichproben der Allgemeinbevölkerung erhoben wurden, von Be- handlungsinzidenz, wenn die Datenerhebung von Behandlungseinrichtungen ausgeht.
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38
Q

Wie werden Prävalenz und Inzidenz ausgedrückt?

A

Prävalenz und Inzidenz werden in Prozent oder Promille der Bezugspopulation ausgedrückt. Man spricht daher auch von Prävalenz- und Inzidenzra- ten. Prävalenzraten sind das am häufigsten ver- wendete Krankheitsmaß; es spielt vor allem bei der Planung des Bedarfs von Versorgungseinrich- tungen eine wichtige Rolle.

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39
Q

Die Prävalenz bezeichnet den … aller „Fälle“ mit einem bestimmten Symptom oder Syndrom in einer definierten Population zu einem be- stimmten Zeitpunkt (….) oder wäh- rend einer bestimmten Zeitspanne (….).

A

Die Prävalenz bezeichnet den Anteil aller „Fälle“ mit einem bestimmten Symptom oder Syndrom in einer definierten Population zu einem be- stimmten Zeitpunkt (Punktprävalenz) oder wäh- rend einer bestimmten Zeitspanne (Periodenprä- valenz).

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40
Q
A

Mit Inzidenz ist die … des …. einer Krankheit/psychischen Störung gemeint. Auch sie bezieht sich immer auf eine definierte Population und einen bestimmten Zeitraum.

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41
Q

Auf die Erfas- sung der Krankheitshäufigkeiten folgt in der Epidemiologie meistens der Vergleich der Häufigkeiten in zwei oder mehr Gruppen mit unterschiedlicher „Expositionsanamnese“:

A

Das kann ein Vergleich zwischen ex- ponierten und nicht exponierten Gruppen oder zwischen stärker bzw. länger und weniger stark bzw. lang exponierten Gruppen sein (also z. B. von Gruppen, die rauchen, mit Gruppen, die nicht, we- nig oder noch nicht lang rauchen). Auf der Basis dieser Vergleiche berechnet man das Risiko, d.h. die Wahrscheinlichkeit, „dass eine Exposition zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung führt“

42
Q

Was bezeichnet das absolute Risiko oder der Risikounterschied?

A

Das absolute Risi- ko oder der Risikounterschied bezeichnet den Un- terschied zwischen den Häufigkeitsraten der expo- nierten und der nichtexponierten Gruppe.

43
Q

Was bezeichnet das relative Risiko oder das Risk Ratio?

A

Das re- lative Risiko oder Risk Ratio (RR) bezeichnet „das Verhältnis des Risikos, dass eine Krankheit bei ex- ponierten Personen auftritt, zum Risiko, dass sie bei Nichtexponierten auftritt“. Mit dem relativen Risiko wird also angegeben, wievielmal häufiger eine bestimmte Krankheit/psychische Störung in einer Bevölke- rungsgruppe mit einem Risikofaktor auftritt als in einer Bevölkerungsgruppe, die diesem Risikofaktor nicht ausgesetzt ist.

Entwickeln z. B. 30 % der Per- sonen, die als Kind misshandelt wurden, aber nur 15% der als Kind nicht misshandelten Personen später eine Depression, beträgt das relative Risiko 2. Misshandelte Kinder hätten demnach ein dop- pelt so hohes Risiko, eine Depression zu ent- wickeln, wie nicht misshandelte Kinder.

44
Q

Odds Ratio - was meint das?

A

Das relative Risiko sollte nicht mit dem Odds Ratio (OR) verwechselt werden, mit dem ein Verhältnis von Chancen bezeichnet wird. „Odds“ meint den Quotienten aus dem Risiko (z. B. für eine Depression) und der Gegenwahrschein- lichkeit (keine Depression). Das Odds Ratio ist defi- niert als das Verhältnis des Odds von exponierten Personen zum Odds von nichtexponierten Per- sonen. Im Beispiel vom Zusammenhang zwischen Misshandlung und Depression wäre das Odds für die Entwicklung einer Depression bei exponierten Personen 30% zu 70%, also 0.43, bei nichtexpo- nierten Personen 15 % zu 85 %, also 0.18. Das Odds Ratio wäre damit 2.43.

45
Q

Falldefinition. Um Daten aus epidemiologi- schen Untersuchungen angemessen interpretieren zu können, braucht man Hintergrundwissen über die Entscheidungen bzgl. der Stichprobenauswahl und über die Falldefinition:

A

Ein „Fall“ wird nicht zwangsläufig über die üblichen (ICD-10- oder DSM-IV)Diagnosen definiert; er kann auch durch ein einzelnes diagnostisches Merkmal oder durch ein bestimmtes Risikomerkmal definiert sein. Viele der teilweise erheblichen Unterschiede in den Prä- valenzraten lassen sich aufklären, wenn man die den Untersuchungen zugrunde lie- genden Falldefinitionen berücksichtigt.

46
Q

Primär- und Sekundärdaten: PRIMÄRDATEN

A

Schließlich ist bei der Interpretation epidemiologischer Befunde auch zu beachten, von wem die Daten erhoben wurden.

  • Primärdaten werden entweder vom Un- tersucher selbst oder von seinen Mitarbeitern er- hoben. Das ermöglicht die Einflussnahme auf die Datenqualität, ist aber sehr aufwendig und kosten- intensiv. Häufig wird deshalb ein zweistufiges Vor- gehen gewählt: In einem ersten Schritt wird das interessierende Merkmal in der Gesamtstichprobe auf möglichst wenig aufwendige Art (z.B. mit einem kurzen Fragebogen) erhoben (Screening). Anschließend wird dann mit denjenigen, die im ersten Schritt als mögliche Fälle identifiziert wor- den sind, ein aufwendiges Interview durchgeführt.
47
Q

SEKUNDÄRDATEN

A
  • Einfacher und kostengünstiger sind Sekundärda- ten zu bekommen. Dabei handelt es sich um Daten, die von anderen (z. B. in psychiatrischen Kliniken, Arztpraxen etc.) erhoben wurden. Diese Daten ha- ben allerdings den Nachteil, dass ihre Qualität schwer kontrollierbar ist und dass sie für die Be- antwortung epidemiologischer Fragestellungen möglicherweise unzureichend sind. Außerdem be- steht hier die Gefahr, dass man einen ähnlichen Se- lektionsbias in Kauf nehmen muss wie bei kli- nischen Studien. Schließlich liegen hier dann wie- der nur Daten von Personen vor, die bereits mit be- stimmten Behandlungseinrichtungen in Kontakt gekommen sind. Als Goldstandard epidemiologi- scher Untersuchungen aber gelten bevölkerungs- repräsentative, zufällig gezogene Stichproben.
48
Q

Epidemiologische Studiendesigns.

A

Genuin epidemiologische Studiendesigns sind nichtexperi- mentelle Designs. Die häufigsten nichtexperimen- tellen Studien sind Querschnittsstudien. Für die analytische Epidemiologie sind v. a. die Kohorten- studien und Fall-Kontroll-Studien von Interesse.

49
Q

Kohortenstudien:

A

In Kohortenstudien werden zwei Gruppen gegen- übergestellt, die sich hinsichtlich des „Expositions- status“ ihrer Mitglieder unterscheiden.

Eine Grup- pe exponierter Personen und eine Gruppe nicht- exponierter wird über einen bestimmten Zeitraum beobachtet und im Hinblick auf das Auftreten einer Krankheit/von psychischen Störungen vergli- chen.

In Kohortenstudien werden die untersuch- ten Personen also nach Merkmalen oder Ereignis- sen ausgewählt, die vor Beginn einer bestimmten Krankheit/psychischen Störung/eines Symptoms vorliegen oder aufgetreten sind (z. B. eine gemein- sam erlebte Katastrophe, ein gemeinsamer Ge- burtsjahrgang oder Arbeit in einem Bergwerk), d. h.: In Kohortenstudien ist der Expositionsstatus bekannt, der Krankheitsstatus unbekannt.

Unter- sucht wird dann z.B., wie viele der exponierten bzw. nichtexponierten Personen eine bestimmte psychische Störung entwickeln und wie lange es dauert, bis die psychische Störung auftritt. Kohortenstudien können sowohl Querschnittsstudien als auch Längsschnittstudien sein.

50
Q

Fall-Kontroll-Studien:

A

In Fall-Kontroll-Studien werden Personen mit einer bestimmten Krankheit/psychischen Störung bzw. einem bestimmten Symptom oder Personen, die einem bestimmten Risiko ausgesetzt sind (In- dexgruppe), mit Personen verglichen, die diese Krankheit/psychische Störung nicht haben bzw. diesem Risikofaktor nicht oder weniger ausgesetzt sind. Anders als in Kohortenstudien ist also in Fall- Kontroll-Studien der Krankheitsstatus bekannt, der Expositionsstatus aber unbekannt.

51
Q

Bevölkerungssurveys: Vorgeschichte und was ist das?

A

Der Anspruch, auf der Basis von repräsentativen Untersuchungen Daten zur Morbidität der All- gemeinbevölkerung zu gewinnen und Hilfe für ge- sundheitspolitische Entscheidungen zu bekom-
men, schien in Bezug auf psychische Störungen
lange kaum einlösbar. Die Unterschiede in den Falldefinitionen (s. o.) und den für die Fallidentifikation verwendeten Erhebungsinstrumenten wa-
ren so groß, dass in einer Übersicht über Unter- suchungen, die zwischen 1950 und 1975 durch- geführt wurden, Prävalenzraten von 0,5 bis 69% gefunden wurden

Ab den 1970er-Jahren gab es – mit ersten operationali- sierten Diagnosekriterien und strukturierten Inter-
views für eine einheitliche Erfassung psychischer Störungen – zwar schon Grundlagen für einheitliche Falldefinitionen, diese Interviews waren aber
nicht für umfangreiche bevölkerungsepidemiologische Studien geeignet. Das lag daran, dass die In- terviews zu aufwendig (sie konnten nur von Inter- viewern mit klinischer Erfahrung durchgeführt werden) und auf nur wenige Störungsbilder eingegrenzt waren.

Erst die Einführung des DSM-III machteesmöglich,Erhebungsinstrumen-
te zu entwickeln, die auch von trainierten Laien angewendet werden konnten und die außerdem ein breiteres Spektrum an psychischen Störungen abdeckten als die früher eingesetzten Instrumente

  • Damit waren die Weichen für Bevölke- rungssurveys, d.h. epidemiologische Studien zur Erfassung psychischer Störungen in der Allgemeinbevölkerung, gestellt.
52
Q

Verschiedentlich wurde der Versuch unternom- men, durch einen Vergleich der national vorliegen- den bevölkerungsepidemiologischen Studien zu einer Abschätzung der Gesamtzahl psychischer Störungen in Europa zu kommen. Dabei zeigte sich, dass psychische Störungen erschreckend häu- fig sind:

A

Für die EU-Bevölkerung werden 12-Mo- nate-Prävalenzen von 38,2 % angegeben

53
Q

Zu den häufigsten psychischen Störungen in der EU-Bevölkerung zählen :

A

Zu den häufigsten psychischen Störungen in der EU-Bevölkerung zählen Angststörungen, Schlaf- störungen, somatoforme Störungen und alkoholin- duzierte Störungen. Gemessen in DALYs, einem Maß, das die durch Krankheit, Behinderungen oder frühen Tod verlorenen Jahre (disability-adjus- ted life years) erfasst, steht die unipolare Depres- sion an der Spitze der krankheitsbedingten Belas- tungen. Weltweit ist die unipolare Depression die dritthäufigste Ursache für krankheitsbedingte Be- lastungen

54
Q

Zu den am besten bestätigten Befunden bevölke- rungsepidemiologischer Untersuchungen gehören die Zusammenhänge zwischen psychischen Stö-rungen und den folgenden soziodemografischen Kennwerten:

A

● Familienstand ledig oder getrennt lebend/ge- schieden/verwitwet ist (gegenüber verheiratet) mit erhöhten Raten psychischer Störung ver- bunden.
● Berufsstatusberentetundarbeitslosist(gegen- über Vollzeitbeschäftigung) mit erhöhten Ra- ten psychischer Störungen verbunden.
● Mittlere und obere soziale Schicht sind (gegen- über niedriger sozialer Schicht) mit niedrigeren Raten psychischer Störungen verbunden.
● In Großstädten (>500.000 Einwohner) finden sich mehr Fälle mit psychischen Störungen als in ländlichen Gebieten bzw. kleineren Gemein- den.

55
Q

bevölke- rungsepidemiologischer Untersuchungen: Damit ist nun auch durch bevölkerungsepidemio- logische Befunde bestätigt worden, was aus sozial- epidemiologischen Untersuchungen längst be-kannt ist:

A

der Zusammenhang zwischen psy- chischen Störungen und sozialer Lage.

56
Q

Sozialepidemiologie
- Die Sozialepidemiologie fragt danach,

A

● ob sich soziale Ungleichheit auf psychisches und körperliches Wohlbefinden auswirkt und
* ob diejenigen Zugang zu den psychosozialen Hilfeangeboten finden, „die ihrer am dringendsten bedürfen“

57
Q

Soziale Lage und psychische Störungen.

A

Häufigkeit psychischer Störungen umso größer, je niedriger die Schichtzugehörigkeit.

Dank der Befunde, die zwischenzeitlich in neueren bevölkerungsepi- demiologischen Untersuchungen zusammengetra- gen worden sind, gilt die inverse Beziehung (= ne- gative Korrelation) zwischen den Prävalenzraten psychischer Störungen und der sozialen Lage heute „als eines der am besten belegten sozialwissen- schaftlichen Ergebnisse“ überhaupt

Diese Beziehung galt lange nur für den Erwachse- nenbereich als bestätigt. Inzwischen liegen aber Untersuchungen vor, die den Zusammenhang zwi- schen niedrigem sozioökonomischem Status und psychischen Störungen auch für Kinder und Ju- gendliche bestätigen

58
Q

Für die negative Korrelation zwischen den Präva- lenzraten psychischer Störungen und sozialer Lage wurden verschiedene alternative Erklärungen vorgeschlagen:

A

● die Artefakthypothese,
● die Hypothese der sozialen Selektion oder des
sozialen Abstiegs (Social-Selection- oder Social-
Drift-Hypothese) und
● die Hypothese der sozialen Verursachung (Soci-
al-Stress- oder Social-Causation-Hypothese).

59
Q

Die Artefakthypothese interpretiert den Zusam- menhang zwischen sozialer Schicht und Morbidi- tät als?

A

Die Artefakthypothese interpretiert den Zusam- menhang zwischen sozialer Schicht und Morbidi- tät als methodisches Problem (als Ergebnis einer ungenauen Operationalisierung von sozialer Schicht und psychischer Störung) oder als Produkt der sozialen Distanz zwischen Psychiatern und Unterschichtpatienten; Unterschichtpatienten würden beispielsweise häufiger als „psychotisch“ diagnostiziert als Patienten aus höheren sozialen Schichten.

60
Q

Die Social-Drift-Hypothese geht wovon aus?

A

Die Social-Drift-Hypothese geht von einer sozia- len Selektion aus und sieht die durchschnittlich niedrigere Schichtzugehörigkeit psychisch Kranker als eine Folge der psychischen Störung. Menschen mit psychischen Erkrankungen bzw. psychischen Störungen würden z. B. eher arbeitsunfähig oder arbeitslos mit der Folge, dass sie in niedrigere so- ziale Schichten und Lebenslagen abdriften.

61
Q

Die Hypothese der sozialen Verursachung sieht soziale Bedingungen als was?

A

Die Hypothese der sozialen Verursachung sieht soziale Bedingungen als Ursache psychischer Stö- rungen. Menschen mit geringen sozialen und öko- nomischen Ressourcen und niedrigem Bildungs- stand sind vergleichsweise häufiger kritischen Le- bensereignissen wie Arbeitslosigkeit, Wohnungs- verlust etc. ausgesetzt. Außerdem verfügen sie über geringere health literacy (d. h. über weniger gesundheits- und krankheitsbezogenes Wissen), haben schlechtere Problemlöse- und Bewälti- gungskompetenzen und verfügen in der Regel über schlechtere soziale Netzwerke, was sie ins- gesamt vulnerabler für die Entwicklung psy- chischer Probleme macht. Diese komplexen Zu- sammenhänge zwischen sozialer Lage, Belastun- gen und Ressourcen lassen sich z.B. durch eine Verknüpfung von Belastungs-, Bewältigungs- und Ressourcenforschung abbilden

62
Q

Geschlechtsspezifische Unterschiede und psy- chische Störungen.

A

Auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Häufigkeit bestimmter psy- chischer Störungen sind Gegenstand der Sozialepi- demiologie. Man weiß inzwischen, dass Frauen nicht generell stärker durch psychische Störungen belastet sind als Männer, dass es aber auffällige ge- schlechtsspezifische Unterschiede bei einzelnen Störungen gibt. So scheinen Frauen häufiger an sog. Internalisierungsstörungen (affektive Störun- gen und Angststörungen), Männer an sog. Exter- nalisierungsstörungen (Sucht, dissoziales Verhal- ten, Gewalt) zu leiden.

63
Q

Zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede in den Häufigkeiten psychischer Störungen wird u.a. die Sozialisationsthese herangezogen. Sie besagt, dass:

A

Zur Erklärung der Geschlechtsunterschiede in den Häufigkeiten psychischer Störungen wird u.a. die Sozialisationsthese herangezogen. Sie besagt, dass Geschlechtsunterschiede in den Häufigkeiten psy- chischer Störungen mit dem Einfluss der ge- schlechtsspezifischen Sozialisation zu erklären seien.

So wird etwa der überproportional hohe Anteil von Frauen bei Depressionen damit in Ver- bindung gebracht, dass die Sozialisation von Frau- en eher in Richtung auf ein geringes Selbstwert- gefühl, passive bzw. grüblerische Reaktionsstile und Abhängigkeit von anderen zielt. Dazu kämen noch spezifisch weibliche Belastungen in der frü- hen Adoleszenz (ggf. auch Gewalterfahrungen) und gesellschaftliche Bedingungen wie sozioö- konomische Lebensbedingungen, Rollendefinitio- nen und soziale Diskriminierung.

Frauen seien immer noch stärker von Armut, niedrigem Ausbildungs- status, Arbeitslosigkeit oder einem geringeren be- ruflichen Status als Männer betroffen. Trotz sich ändernder Rollendefinitionen scheinen Frauen aufgrund ihrer sozialen Rolle häufiger schwerere Belastungen ausgesetzt zu sein als Männer und häufiger sozial diskriminiert zu werden als Män- ner.

64
Q

Auch empirische Befunde zu Geschlechtsunter- schieden bei einzelnen Gefühlen werden zur Er- klärung der Unterschiede in den Depressionsraten bei Frauen und Männern herangezogen:

A

So hat man bei Frauen höhere Angstwerte festgestellt, mehr Traurigkeit und Niedergeschlagenheit und mehr indirekte Aggression als bei Männern. Au- ßerdem würden sich Frauen intensiver und häufi- ger schämen als Männer und häufiger und intensi- ver Schuldgefühle erleben. Es sei aber auch nicht auszuschließen, dass Geschlechtsunterschiede in der Häufigkeit von Depressionen einfach darin begründet sein könnten, dass Frauen und Männer sich in ihrem Hilfesuchverhalten, in der Bereitschaft, Sympto- me zuzugeben, und im Symptomausdruck unter- scheiden; so könnte z. B. eine Depression bei Män- nern über Alkoholmissbrauch ausgedrückt wer- den. Und schließlich wäre es auch möglich, dass Diagnostiker bei Frauen und Männern unter- schiedliche Symptome „sehen“

65
Q

Geschlechtsunterschiede: Für die Sozialisationsthese wird gern ins Feld ge- führt, dass

A

Für die Sozialisationsthese wird gern ins Feld ge- führt, dass Geschlechtsunterschiede in den Häufig- keiten psychischer Störungen erst ab dem Schul- eintrittsalter in relevantem Ausmaß feststellbar sind und dass männliche Kinder eher stärker von psychischen Störungen betroffen sind als Mäd- chen.

Bis zum Alter von 13 Jahren wurden in meh- reren epidemiologischen Längsschnittstudien bei Jungen durchgehend höhere Gesamtprävalenzra- ten gefunden als bei Mädchen.

Erst ab der Adoles- zenz holen die Mädchen auf. Betrachtet man die Prävalenzraten einzelner psychischer Störungen, fällt auf, dass Jungen vor allem bei hyperkineti- schen Störungen, dissozialen Störungen sowie bei Störungen durch Substanzmissbrauch höhere Prä- valenzraten aufweisen, während Mädchen bei den Essstörungen sehr viel stärker vertreten sind.

Bei depressiven Störungen sind Jungen und Mädchen in der Kindheit gleich stark vertreten, erst ab der Adoleszenz weisen Mädchen höhere Raten auf als Jungen

66
Q

Epidemiologie zu psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter : Was für Untersuchsungsdesigns lassen sich voneinander unterscheiden?

A
  • Die Epidemiologie befasst sich mit der Verbreitung von Störungen in der Bevölkerung. Um Aussagen zur Verbreitung von Störungen ableiten zu können, werden möglichst repräsentative Stichproben aus der Bevölkerung gezogen. Grundsätzlich lassen sich dabei querschnittliche und längsschnitt- liche Untersuchungsdesigns unterscheiden.
67
Q

Methoden

Querschnitt- und Längsschnittmethode

A

Bei einer Querschnittmethode werden mehrere Stichproben zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal erhoben, während bei einer Längsschnitt- methode wiederholte Erhebungen bei einer Stichprobe vorgenommen werden.

68
Q

Wofür eignet sich die querschnittlicht Herangehensweise besonders? Wofür eignet sich die längsschnittliche Methode?

A

Die querschnittliche Herangehensweise eignet sich in besonderem Maße, um einen deskriptiven Überblick über die Verbreitung von Störungen zu bekommen, während die längsschnittliche Methode darüber hinaus auch Aufschlüsse über Verursachungsmechanismen zulässt, da potenzielle Verursachungsfaktoren, die der Störung vorausgingen, erfasst werden können.

69
Q

Welche Methode eignet sich am besten zur Aufdeckung von Verursachungsmechanismen? Wie läuft das ab?

A

Als besonders geeignet zur Aufdeckung von Verursachungsmechanismen gelten dabei prospektive Längs- schnittstudien. Dabei werden zu einem frühen Entwicklungszeitpunkt, bevor eine Störung aufgetreten ist, potenzielle Verursachungsfaktoren bei einer großen Stichprobe erfasst. Später werden dann die Kinder und Jugendlichen, bei denen eine psychische Störung aufgetreten ist, hinsichtlich vorausgegangener Faktoren mit den Kindern und Jugendlichen verglichen, bei denen eine Störung ausgeblie- ben ist. Prospektive Längsschnittstudien sind allerdings mit dem Nachteil ver- bunden, dass unter Umständen sehr große Stichproben erforderlich sind, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Wenn eine psychische Störung bei- spielsweise durchschnittlich bei einem von 100 Kindern auftritt, müsste ein prospektiver Längsschnitt mit 10.000 Kindern starten, um später eine Stichprobe von 100 betroffenen Kindern zu erhalten.

70
Q

Zeitwandelmethode

A
  • Von der Querschnitt- und Längsschnittmethode lässt sich die Zeitwandelmethode als eine weitere Forschungsmethode abgrenzen, die in der epidemiologischen Forschung von Bedeutung ist.
  • Bei der Zeitwandelmethode werden Stichproben gleichen Alters zu unter- schiedlichen Zeitpunkten miteinander verglichen.
71
Q

Wesentliche Fragestellung der Zeitwandelmethode

A

Die wesentliche Fragestellung ist dabei, ob sich die Häufigkeiten von Störungs- bildern über die Zeit verändern (und gegebenenfalls auch die Frage, welche Faktoren dafür verantwortlich sind).

So könnte beispielsweise gefragt werden, ob hyper- kinetische Symptome in den vergangenen Jahren zugenommen haben.

72
Q

Was setzt die Zeitwandelmethode voraus? Worin liegt der unterschied zur Längsschnittmethode?

A

Die Zeit- wandelmethode setzt wiederholte Erhebungen an repräsentativen Stichproben in bestimmten Zeitabständen voraus. Im Unterschied zur Längsschnittmethode bezie- hen sich die Erhebungen jedoch nicht auf dieselben, sondern auf unterschiedliche Kinder und Jugendliche vergleichbaren Alters. Ein Problem bei der Feststellung von zeitbedingten Veränderungen in der Häufigkeit psychischer Störungen im Kindes- alter sind die unterschiedlichen Diagnosesysteme in den letzten 50 Jahren, die die Anwendung einer solchen Methode in ihrer Aussagekraft begrenzen. Auch die Veränderung der Sensitivität für Probleme bzw. Störungen kann dazu beigetragen haben, dass sich die epidemiologischen Angaben verändern, obwohl sich de facto nicht zwingend Änderungen bei der Symptomatik ergeben haben

73
Q

In welchem Zeitraum wird die Inzidenzrate typischerweise angegeben?

A

Typischerweise wird die Inzidenzrate für einen Zeitraum von einem Jahr angege- ben.

74
Q

Die Differenz zwischen wahrer und administrativer Prävalenz sagt etwas aus über

A

” die Schwere einer Erkrankung, 

“ den Umfang des Behandlungsangebots, 

“ die Erreichbarkeit therapeutischer Institutionen und 

“ das Krankheitsverhalten (Wahrnehmung, Bewertung und Reaktion auf Krank- heitssymptome). 


75
Q

So ist zum Beispiel die administrative Prävalenz der hyperkinetischen Störungen ….. als die wahre Prävalenz. Umgekehrt ist die administrative Prävalenz von Angststörungen im Kindesalter vermutlich …. als die wahre Prävalenz. Von hyperkinetischen Störungen betroffene Familien nehmen also … professio- nelle Hilfe in Anspruch als von Angststörungen betroffene Familien. 


A

So ist zum Beispiel die administrative Prävalenz der hyperkinetischen Störungen größer als die wahre Prävalenz. Umgekehrt ist die administrative Prävalenz von Angststörungen im Kindesalter vermutlich geringer als die wahre Prävalenz. Von hyperkinetischen Störungen betroffene Familien nehmen also häufiger professio- nelle Hilfe in Anspruch als von Angststörungen betroffene Familien. 


76
Q

Einflussfaktoren auf die Verbreitung von Störungen: Die Bedeutung von Risikomaßen

A
  • 
Das Ausmaß des Einflusses von Risikofaktoren wird häufig mit Risikomaßen angegeben. Sie geben an, wie stark sich die Risiken bei unterschiedlichen Aus- prägungen eines Risikofaktors unterscheiden.
  • Besonders bekannt sind dabei die Angaben des relativen Risikos sowie des Quotenverhältnisses (Odds Ratio).
  • Wenn man beispielsweise wissen möchte, um wie viel höher die Inzidenzrate einer Störung beim männlichen im Verhältnis zum weiblichen Geschlecht ist, bildet man den Quotienten beider Wahrscheinlichkeiten. Der Quotient gibt an, um wie viel wahr- scheinlicher es ist, dass die Störung bei dem einen Geschlecht im Verhältnis zum anderen Geschlecht auftritt.
77
Q

Die Bildung des Quotienten aus den Auftretenswahr- scheinlichkeiten bei unterschiedlichen Risikoausprägungen wird als …. bezeichnet. Was gibt das Oddo Ratio an?

A
  • Die Bildung des Quotienten aus den Auftretenswahr- scheinlichkeiten bei unterschiedlichen Risikoausprägungen wird als relatives Risiko bezeichnet. Das Quotenverhältnis (Odds Ratio) gibt dagegen die Störungsquote bei unterschiedlichen Ausprägungen eines Risikofaktors an.
78
Q

Wie bestimmt man das Quotenverhältnis?

A

Um das Quotenverhältnis zu bestimmen, wird das Verhältnis der Anzahl der Betroffenen zu der Anzahl der Nicht-Betroffenen bei verschiedenen Ausprägungen eines Risikofaktors (z. B. beim Geschlecht für das weibliche und das männliche Geschlecht) ermittelt. Aus beiden Verhältnissen wird anschließend der Quotient gebildet. Er gibt das Quotenver- hältnis der Betroffenen zu Nicht-Betroffenen bei verschiedenen Ausprägungen eines Risikofaktors an. Für beide Maße gilt, dass sie Werte zwischen 0 und unendlich annehmen können, wobei ein Wert von 1 jeweils eine Gleichverteilung der Risiken bei unterschiedlichen Ausprägungen eines Risikofaktors indiziert. 


79
Q

Bei beiden (Risiko)Maßen werden Risiken durch Quotientenbildung miteinander in Bezug gesetzt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass:

A

Bei beiden Maßen werden Risiken durch Quotientenbildung miteinander in Bezug gesetzt. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass beim relativen Risiko das Verhältnis zwischen Betroffenen und der Gesamtgruppe (Summe der Betrof- fenen und Nicht-Betroffenen) zugrunde gelegt wird, während beim Quotenver- hältnis das Verhältnis zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen als Basis für die Quotientenbildung dient.

80
Q

Mit den Risikomaßen lassen sich Zusammenhänge zwischen ….. und …. erkennen. Es handelt sich jedoch lediglich um….

A

Es handelt sich jedoch lediglich um korrelative Beziehungen, die nicht unbedingt Aufschluss über Verursachungs- faktoren geben.

81
Q

Zur Entwicklungsabh ̈angigkeit von Inzidenz- und Pr ̈avalenzraten
- Inzidenz- und Prävalenzraten (und damit auch Risikomaße) können sich im Laufe der Entwicklung verändern:

A

So treten beispielsweise hyperkinetische Symptome nicht selten bereits im Vorschul- und frühen Grundschulalter erstmals in Erschei- nung, sodass in diesem Altersabschnitt die Inzidenzrate erhöht ist, um danach wieder abzusinken.

Im Entwicklungsverlauf ergibt sich also zunächst ein Anstieg der Inzidenzrate, bis sie ihren Höhepunkt erreicht und allmählich wieder absinkt.

82
Q

Wovon hängt ab, ob die Störung persistiert?

A

Ob die Störung persistiert, hängt von einer Reihe von Risikofaktoren ab (z.B. geringe Intelligenz, aggressives und oppositionelles Verhalten im Kindesalter, schlechte Beziehung zu Gleichaltrigen, emotionale Instabilität und das Ausmaß der psychischen Störungen bei den Eltern,. Auch Spontanremissionen sind denkbar, wobei damit unerwartet (bzw. spontan) ein- tretende Zustandsbesserungen gemeint sind. Dies bedeutet, dass ein Teil der Störungen im Kindes- und Jugendalter auch ohne spezifische Interventionen wieder verschwindet. Bei den persistierenden (bzw. verbleibenden) Störungen sind im Entwicklungsverlauf Veränderungen des Symptomspektrums denkbar. Dies bedeutet, dass bei einer hyperkinetischen Störung beispielsweise die motori- sche Unruhe im Laufe der Entwicklung nachlassen kann, dass jedoch Aufmerk- samkeitsstörungen bestehen bleiben können

83
Q

Zur Verbreitung von psychischen Sto ̈rungen im Kindes- und Jugendalter
H ̈aufigkeit des Vorliegens einer psychischen St ̈orung

A

Die Übersicht bezieht sich im Wesentlichen auf Perioden- prävalenzen mit einem Zeitintervall zwischen drei und zwölf Monaten. Der Median der Periodenprävalenzen für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter betrug über die einbezogenen Studien hinweg 18Prozent, wobei die Angaben bei dem größten Teil der Studien zwischen 15 und 22 Prozent lagen.

84
Q

Nach einer aktuellen repräsentativen Studie (Bella-Studie als Bestandteil des Kinder- und Jugendsurveys, Klasen et al., 2017) zeigten 17,2 Prozent der einbezo- genen 2.814 Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren diagnostisch oder klinisch bedeutsame Hinweise auf psychische Auffälligkeiten. Zugrunde gelegt wurden dabei Befragungsdaten aus dem Fragebogen zu Stärken und Schwächen Als Auffälligkeit wurde dabei gewertet, wenn sich entweder aus der Befragung der Eltern oder dem Selbstbericht auffällige oder grenzwertig auffällige Werte ergeben hatten. Auf der Basis der Bella-Daten lässt sich eine Veränderung der Prävalenzraten über das Kindes- und Jugendalter hinweg beobachten.

A

Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit Hinweisen auf eine psychische Auffälligkeit wächst von 10,2 Prozent im Alter von drei bis sechs Jahren auf 19,8 Prozent im Alter von sieben bis zehn Jahren.

Im Altersabschnitt von 11 bis 13 Jahren wird ein Höhepunkt mit einem Wert von 22 Prozent erreicht, wobei in der Folge ein Absinken auf einen Wert von 17,3 Prozent erfolgt. Der erkennbare Höhepunkt im Alter von 11 bis 13 Jahre dürfte darauf zurückgehen, dass bestimmte Störungen verstärkt erst ab der Pubertät auftreten (z.B. depressives Syndrom, Schizophrenien, Zwangsstörungen, Sozial- phobie, Anorexia Nervosa, dissoziales Verhalten, Drogenabhängigkeit und Suizid- versuche, s. Klein-Heßling, 2006).

Da andere Störungen wie hyperkinetische Stö- rungen, Enuresis oder Trennungsängste wiederum eher typisch für jüngere Alters- gruppen sind, kommt es insgesamt vom Kindes- zum Jugendalter zu keinem starken Anstieg der Störungsraten.

Nach Ihle und Esser (2002) sind die Prävalenzraten im Kindes- und Jugendalter insgesamt ähnlich zu denen im Erwachsenenalter. Eine Metaanalyse, die 33 epidemiologische Studien zur Häufigkeit psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter untersucht, kommt auf eine ähnliche Prävalenzschät- zung von 17,6 Prozent (Barkmann & Schulte-Markwort, 2012). Diese Metaanalyse kommt gleichzeitig zu dem Schluss, dass die Häufigkeit psychischer Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter über die vergangenen Jahrzehnte hinweg nicht zuge- nommen hat (auf der Basis von Studien, die bis in die 1950er-Jahre zurückreichen).

85
Q

H ̈aufigkeiten verschiedener St ̈orungsbilder

A

Betrachtet man die Häufigkeiten verschiedener Störungsbilder, so finden Ihle und Esser (2002) in ihrer Übersichtsarbeit die höchsten Störungsraten bei Angst- störungen mit einer mittleren Prävalenzrate von 10,4Prozent, gefolgt von dis- sozialen Störungen mit 7,5 Prozent sowie depressiven Störungen und hyperkine- tischen Störungen mit jeweils 4,4 Prozent. Nicht selten kommen Komorbiditäten vor, wobei die häufigsten Kombinationen dissoziale und hyperkinetische Störun- gen sowie Depressionen und Angststörungen waren.

In der Bella-Studie finden sich nach dem Elternbericht bei 11 Prozent der Kinder und Jugendlichen klinisch bedeutsame Anzeichen für eine Depression, bei 10 Prozent für eine Angststörung und bei 5 Prozent für eine hyperkinetische Störung. Aus Sicht der Kinder und Jugendlichen selbst finden sich bei 16 Prozent Hinweise auf eine Depression, bei 15 Prozent auf eine Angststörung und bei 2 Prozent auf eine hyperkinetische Störung (Klasen et al., 2017).

86
Q

Die Abweichungen zwischen den Einschätzungen aus Eltern- sicht und aus Sicht der Kinder und Jugendlichen stützt den aus früheren Studien bekannten Trend, dass :

A

Die Abweichungen zwischen den Einschätzungen aus Eltern- sicht und aus Sicht der Kinder und Jugendlichen stützt den aus früheren Studien bekannten Trend, dass Eltern internalisierende Auffälligkeiten ihrer Kinder nied- riger und externalisierende Auffälligkeiten höher einschätzen als die Kinder und Jugendlichen selbst, weil sie von den Eltern eher beobachtbar sind.

87
Q

Stabilit ̈aten psychischer St ̈orungen

A

In allen Längsschnittstudien, die in der Übersichtsarbeit von Ihle und Esser (2002) ausgewertet wurden, zeigen sich konsistent relativ hohe Persistenzen in einer mittleren Größenordnung von ca. 50Prozent über Zeiträume von zwei bis fünf Jahren hinweg.

Esser et al. (2000) gehen auf der Basis ihrer prospektiven Längs- schnittstudie davon aus, dass etwa 8Prozent ihrer Kinder- und Jugendlichen- Stichprobe über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren und 2,3 Prozent über einen Zeitraum von mindestens 17 Jahren eine Störung aufwiesen.

88
Q

Stabilit ̈aten psychischer St ̈orungen: Nach Fuchs und Karwautz (2017) lassen sich dabei zwei Entwicklungspfade unterscheiden.

A

Bei der heterotypen Kontinuität entsteht aus einer psychischen Störung im Kindes- und Jugendalter ein anderer Störungstyp im Erwachsenenalter. Ein solcher Zusammenhang ließ sich beispielsweise für Störungen des Sozialverhaltens im Kindes- und Jugendalter zeigen, die in affektive Erkrankungen, Angststörungen, Störungen durch Substanzgebrauch und antisoziale Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenalter münden können. Bei der homotypen Kontinuität folgt dagegen aus einer Störung im Kindes- und Jugendalter eine gleichartige Störung im Erwachsenenalter

89
Q

Stabilität psychischer Störungen und Spontanremissionen

A

Auch wenn die Stabilitäten psychischer Störungen nicht unerheblich sind, weisen die Ergebnisse gleichzeitig auch auf die Möglichkeit von Spontanremissionen hin, die unter günstigen Risiko- und Ressourcen- konstellationen vermutlich eher zu erwarten sind als unter ungünstigen Konstellationen.

90
Q

Geschlechtsunterschiede bei psychischen Störungen: Aus den epidemiologischen Daten folgt, dass bei Mädchen

A

Aus den epidemiologischen Daten folgt, dass insgesamt ein niedrigeres Störungsniveau, aber ein stärkerer Anstieg über das Alter hinweg bei den Mädchen erkennbar ist.

91
Q

Geschlechtsunterschiede bei psychischen Störungen: Von der Art der Störung her betrachtet, finden sich bei Jungen:

A

Von der Art der Störung her betrachtet, finden sich bei Jungen stärker externali- sierende Störungen, während bei Mädchen Essstörungen und psychosomatische Störungen häufiger auftreten.

92
Q

Geschlechtsunterschiede bei psychischen Störungen: internalisierende Störungen

A

Bei internalisierenden Störungen (vor allem bei depressiven Störungen) finden sich zunächst im Kindesalter höhere Raten bei Jungen, während im Laufe des Jugendalters eine Verschiebung zum weiblichen Geschlecht zu verzeichnen ist (mit etwa doppelt so hohen Auftretensraten bei Mädchen, Ihle & Esser, 2002). Dies könnte auch den vergleichsweise hohen Anstieg der Störungsraten von Mädchen in der Bella-Studie erklären.

93
Q

Zur H ̈aufigkeit von Interventionen bei psychischen St ̈orungen: Obwohl etwa 10 bis 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen zu einem gegebenen Zeitpunkt eine psychische Störung aufweisen, findet nur bei einem kleinen Teil eine Intervention statt: Wovon ist dies abhängig?

A

Nach Wittchen (2000) liegt die Behandlungsquote nur bei etwa 17 Prozent der Betroffenen. Ob professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird, hängt unter anderem von der Art des Problems ab.

So ist die Wahrscheinlich- keit einer Inanspruchnahme professioneller Unterstützung beispielsweise bei externalisierenden Problemen höher als bei internalisierenden Problemen, weil externalisierende Probleme (wie aggressives Verhalten) dem sozialen Umfeld eher auffallen als internalisierende Probleme (wie Depressionen).

Weiterhin spielen nach Petermann (2005) neben Geschlecht und Alter des Kindes bzw. Jugendlichen weiterhin der Bildungsstand und das Ausmaß der Aufklärung der Eltern, psy- chische Probleme der Eltern, familiäre Belastungen, die Aus- und Weiterbildung bzw. die Einstellung von Lehrern und Kinderärzten sowie die regionale Verfüg- barkeit von Unterstützungsangeboten eine Rolle. In der Bella-Studie gaben Eltern als Hauptgründe für eine Nicht-Inanspruchnahme an, dass sie (a) unsicher waren, ob das Problem ernsthaft genug war (55,1 Prozent), (b) Sorge hatten, was andere denken könnten (27,7 Prozent) und (c) nicht wussten, an wen sie sich wenden könnten (28,6 Prozent).

94
Q

Eine weitere Möglichkeit, etwas über die Vorkommenshäufigkeit psychischer Störungen zu erfahren, liegt in der Nutzung von vertragsärztlichen Abrechnungs- daten: Viele Studien in der Allgemeinbevölkerung nutzen Screening-Instrumente und schätzen anhand der Symptomausprägung (dimensionale Ausprägung) auf das Vorliegen psychischer Störungen (als kategoriale Einordnung). Diagnoseprä- valenzen können dagegen::

A

Diagnoseprä- valenzen können dagegen eine direkte Auskunft über die Vorkommenshäufigkeit psychischer Störungen liefern. Auch kann man daran erkennen, bei welchen psychischen Störungen am meisten psychotherapeutische und/oder ärztliche Unterstützung in Anspruch genommen wird.

95
Q

Steffen et al. (2019) haben die bevölkerungsbezogene Diagnoseprävalenz psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter anhand solcher Abrechnungsdaten (Jahre 2009–2017; nur gesetz- liche Krankenversicherung) geschätzt:

A

Im Jahr 2017 war der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die mindestens eine Diagnose einer psychischen Störung erhielten, 28 Prozent. Damit ergibt sich laut Steffen et al. ein Anstieg, da es im Jahr 2009 nur 23 Prozent waren. Die häufigste Diagnosegruppe waren 2017 die Entwicklungs- störungen (ICD-10 F80–F89; 49 Prozent aller F-Diagnosen), gefolgt von den Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend (ICD-10 F90–F98; 34 Prozent) sowie den neurotischen, Belastungs- und somato- formen Störungen (ICD-10 F40–F48; 10 Prozent). Die affektiven Störungen (ICD-10 F30–F39) sind im Untersuchungszeitraum zwar am stärksten angestie- gen, dennoch machen sie insgesamt nur einen vergleichsweise geringen Anteil an allen psychischen Diagnosen aus (ICD-10 F30–F39; ca. 2 Prozent).

96
Q

Zu berück- sichtigen ist bei diesen Angaben, dass es sich um Diagnosen handelt, die im Rahmen der vertragsärztlich zu dokumentierenden Anlässe des Aufsuchens von Hilfe erfasst werden. Die Art der Erfassung, ihre Zuverlässigkeit und Gültigkeit ist demnach nicht bekannt. Nach Steffen et al. (2019) mögen verschiedene Ursachen dem beobachteten Anstieg in der Diagnoseprävalenz zugrunde liegen:

A

Dazu gehören (a) eine erhöhte Bereitschaft von Eltern und Jugendlichen, bei psy- chischen Belastungen ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, (b) eine gestiegene Sensibilisierung von Ärzten und Lehrern gegenüber psychischen Erkrankungen bei Heranwachsenden, aber auch (c) eine Medikalisierung von Gefühlen, die früher gesamtgesellschaftlich als nicht pathologisch betrachtet wurden (z.B. in der Pubertät), oder (d) eine tatsächliche Zunahme der Prävalenz.

97
Q

Erkl ̈arungen fu ̈r Diskrepanzen in den Angaben zur Epidemiologie: Wenn man epidemiologische Studien betrachtet, fällt schnell auf, dass die epi- demiologischen Angaben keinesfalls immer übereinstimmen, sondern dass es zu teilweise sogar gravierenden Diskrepanzen kommen kann:

Problem der diagnostischen Abgrenzung von Sto ̈rungsbildern.

A

Häufig wird in epidemiologischen Studien nicht mit einheitlichen Definitionskriterien zur Ab- grenzung von Störungen gearbeitet. So wurden in der Übersichtsarbeit von Ihle und Esser (2002) nur Studien einbezogen, die eine kategoriale Störungsdefinition nach ICD oder DSM vorgenommen hatten. In der Bella-Studie dagegen wurde mit einer dimensionalen Abgrenzung (hauptsächlich auf der Basis des Strengths and Difficulties Questionnaire, SDQ von Goodman, 1997, 1999) gearbeitet. Die Ergeb- nisse sind sogar noch erstaunlich konsistent zueinander, wenn man bedenkt, wie unterschiedlich die Definitionskriterien sind.

98
Q

Wenn man epidemiologische Studien betrachtet, fällt schnell auf, dass die epi- demiologischen Angaben keinesfalls immer übereinstimmen, sondern dass es zu teilweise sogar gravierenden Diskrepanzen kommen kann:

Problem der Wahl der Informationsquelle.

A

Die Angaben zur Epidemiologie können durch die Art der Informationsquelle beeinflusst sein (z.B. Kinder/Jugendliche, Eltern, Lehrer etc.). So gelten ältere Kinder und Jugendliche bei internalisierenden Störungen als die zuverlässigere Informationsquelle, da internalisierende Symp- tome von außen schwerer zu erkennen sind. Umgekehrt sind die Urteile von Außenstehenden bei externalisierenden Störungen zuverlässiger (s. Döpfner, 2013). Als Folge ergeben sich unterschiedliche Angaben zur Epidemiologie in Abhängigkeit von der Informationsquelle.

99
Q

Wenn man epidemiologische Studien betrachtet, fällt schnell auf, dass die epi- demiologischen Angaben keinesfalls immer übereinstimmen, sondern dass es zu teilweise sogar gravierenden Diskrepanzen kommen kann:

Problem der Dunkelziffern.

A

In manchen Problembereichen (wie beispielsweise Essstörungen oder Substanzmittelkonsum) ist die Bereitschaft möglicherweise gering, über Problemverhalten Auskunft zu geben (z. B. bei Befragung der betrof- fenen Kinder und Jugendlichen). Teilweise wird in diesen Fällen auf die adminis- trative Prävalenz zurückgegriffen, die die Häufigkeit angibt, mit der bestimmte Störungen offiziell registriert werden (z.B. bei Krankenkassen oder Behörden). Aus der Häufigkeit der administrativ erfassten Fälle muss dann auf die Häufigkeit in der Grundgesamtheit zurückgeschlossen werden. Diese Rückschlüsse können jedoch sehr fehleranfällig sein, da die administrativ erfassten Fälle sich von der Gesamtheit der Fälle mit einem Störungsbild unterscheiden können. Bei epi- demiologischen Studien kann es also zu einem mehr oder minder großen Dunkelzifferanteil kommen.

100
Q

Wenn man epidemiologische Studien betrachtet, fällt schnell auf, dass die epi- demiologischen Angaben keinesfalls immer übereinstimmen, sondern dass es zu teilweise sogar gravierenden Diskrepanzen kommen kann:

Problem der mangelnden Repr ̈asentativit ̈at.

A

Die Übertragbarkeit der Befunde auf die Grundgesamtheit aller Kinder und Jugendlichen hängt wesentlich davon ab, wie gut die untersuchte Teilstichprobe die Grundgesamtheit repräsentiert. Es kann jedoch bei epidemiologischen Studien zu Stichprobenverzerrungen kommen, wenn gerade betroffene Kinder und Jugendliche (oder ihre Eltern) eine Teilnahme verweigern (z. B. aus Scham oder problemausweichendem Verhalten). Studien mit einem unterschiedlichen Ausmaß an Repräsentativität können sich dementspre- chend in ihren epidemiologischen Ergebnissen unterscheiden.

101
Q

Abschließend lässt sich konstatieren, dass trotz der potenziell vorhandenen metho- dischen Probleme davon auszugehen ist, dass ein … Anteil der Kinder und Jugendlichen … aufweist. Selbst wenn nicht alle Probleme bis in das Erwachsenenalter persistieren, kann man dennoch davon ausgehen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. ihre soziale Umgebung darunter leiden.

A

Abschließend lässt sich konstatieren, dass trotz der potenziell vorhandenen metho- dischen Probleme davon auszugehen ist, dass ein nicht geringer Anteil der Kinder und Jugendlichen psychische Störungen aufweist. Selbst wenn nicht alle Probleme bis in das Erwachsenenalter persistieren, kann man dennoch davon ausgehen, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen bzw. ihre soziale Umgebung darunter leiden.

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Dabei ist auch zu bedenken, dass sich Folgeprobleme ergeben können (z. B. im Hinblick auf Schulprobleme oder Probleme im Umgang mit Gleichaltrigen), die den weiteren Entwicklungsweg der Betroffenen bleibend prägen können, selbst wenn die unmittelbar auslösenden Probleme nicht persistieren. Auch zeigt sich, dass viele der psychischen Störungen im Erwachsenenalter bereits im Kindes- und Jugendalter erstmalig aufgetreten sind. Es ist also aus mehreren Gründen sinnvoll, rechtzeitig präventiv und interventiv tätig zu werden (vgl. Heinrichs et al., 2013). Zu den Gründen gehören :

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unter anderem die hohen Prävalenzraten psychischer Störungen bei Kindern, die hohen finanziellen Kosten durch psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sowie die Gefahr einer Transmission des Risikos einer psychischen Störung von den Eltern auf das Kind.