Psychische Störungen mit Beginn in der Kindheit am Beispiel der Bindungsstörungen Flashcards
Bindung und Bindungserwerb
–> Bindung
‒ mentale Repräsentation der primären Bezugsperson; erkennbar an der äußeren Reaktion des Kindes bei (drohendem) Verlust oder Trennung von der primären Bezugsperson (nach Bowlby: ein „internes Arbeitsmodell“)
‒ Bindungsverhalten des Säuglings („attachment“) und elterliches Fürsorgeverhalten („bonding“) als grundsätzliche Ausstattung für die emotionale Verbundenheit („quasi- instinktives Verhaltenssystems“)
Bindung und Bindungserwerb:
–> Erwerben einer Bindung als zentrale Entwicklungsaufgabe im ersten Lebensjahr
‒ Entwicklung eines Gefühls für das eigene Selbst sowie eines grundlegenden
Verständnisses der Welt und anderer Menschen
‒ Aufbau von Erwartungen, wie sich primäre Bezugspersonen verhalten und was in neuen Situationen mit fremden Menschen passiert
‒ frühe Bindungserfahrungen bestimmen, wie ein Kind neuen Situationen gegenübertritt
Die Bindungsentwicklung in der Eltern-Kind-Beziehung: Phase 1 - 4
Phase 1: Das Kind zeigt gegenüber jeder beliebiger Person Bindungsverhalten.
Phase 2: Das Kind richtet seine Signale immer stärker an die Personen, die es hauptsächlich versorgen.
Phase 3: Das Verhaltensrepertoire erweitert sich (z.B. weggehender Mutter folgen); die Bindung an spezifische Bezugspersonen zeigt sich deutlich.
Phase 4: Eine innere Vorstellung von Bindung entsteht.
Die Bindungsentwicklung in der Eltern-Kind-Beziehung :
–> Zunehmende Fokussierung des Kindes auf die Bezugsperson
–> Entstehung einer spezifischen emotionalen Beziehung vor allem in Phase 3 und 4 (im Alter von ca. zwei Jahren)
‒ Kind entwickelt immer differenziertere Verhaltensweisen zur Herstellung von Nähe zur Bezugsperson
Bindungsstile nach M. Ainsworth (4)
- Typ A: Unsicher Vermeidende Bindung
- Typ B: Sichere Bindung
- Typ C: Unsicher Ambivalente Bindung
- Typ D: Desorganisierte / Desorientierte Bindung
Reaktive vs. Enthemmte Bindungsstörung
2 Typen nach ICD-10 (F94.1 und F94.2)
–> reaktiv = unmittelbare Auswirkungen von Deprivationsbedingungen mit Betonung des sozialen Rückzugs und Fokus auf Kleinkindalter (jüngere Kinder)
–> enthemmt = weiterreichende Auswirkungen von Heimunterbringung und multiplen Pflegeschaften beim älteren Kind im Vordergrund, das unselektiv oberflächliche Bindungen sucht
–> aus Studien von Kindern mit Institutionalisierung: > 1/3 zeigen diese Bindungsstörungen
–> die Länge der Institutionalisierung steht im ursächlichen Zusammenhang mit der Störung
Ätiologie und Deprivation
–> Bindungsstörungen gehören zu den wenigen psychischen Störungen, in deren Kriterien bereits ein Hinweis auf die Ursache enthalten ist: Deprivationsbedingungen
–> Deprivation = Wegfall notwendiger emotionaler Zuwendung und/oder mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen, i.d.R. von primären Bezugspersonen verursacht
–> bei der Deprivation fehlt dem Kind eine emotional und sozial-kognitiv anregende Umwelt
–> mögliche Störung ist die „frühkindliche Gedeihstörung“
‒ nicht nur seelische, sondern auch körperliche Entwicklung beeinträchtigt
–> Beispiele für Deprivationszustände
–> Alter des Kindes beim Einsetzen der Deprivation
‒ je früher der Beginn, desto ausgeprägter die psychische Problematik
‒ besonders wichtig: konnte das Kind vor Einsetzen der Deprivation bereits eine Bindung erwerben ? („Sensible Phase“)
–> Form und Intensität der Deprivation bedeutsam
Epidemiologie
–> Bindungsstörungen gehäuft in Institutionen, in denen Kinder zeitweise oder dauerhaft untergebracht sind oder auch bei Pflegekindern
–> in der Gesamtpopulation sind Bindungsstörungen im Vergleich zu anderen psychischen Störungen eher selten
–> ca. 1% (aber meist Bindungsstörung mit Enthemmung)
Verlauf und Prognose
–> Verlauf ist bisher kaum untersucht
–> allgemein anhaltende Beeinträchtigungen im Erleben und Verhalten ‒ vermutlich durch dysfunktionale emotionale Erregung und unangemessene
Emotionsregulation
–> manche Kinder zeigen erstaunliche Widerstandkraft gegenüber sehr aversiven Erfahrungen (aber immer seltener bei zunehmender Intensität der Deprivation)
Was kann man tun?
–> erster Schritt bei bereits vorliegender Problematik:
- sicheres und langfristig stabiles Umfeld schaffen
‒ Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe - Sozial-/pädagogische Hilfen
- Einschränkungen der elterlichen Sorge, falls notwendig: Fremdunterbringung, Förderung eines bindungsstabilen Umfeldes
‒ gesellschaftliche Maßnahmen
z.B. Gesetz zur gewaltfreien Erziehung
‒ Elterntrainings
Formen der Kindesmisshandlung
–> Physische Misshandlung: gewaltsame Handlungen, die zu Verletzungen führen
–> Vernachlässigung: mangelhafte Pflege, Ernährung, Beaufsichtigung, Schutz, Anregung, Förderung
–> Psychische/Emotionale Misshandlung: Handlungen oder Unterlassungen, die Kinder bedrohen, ängstigen und/oder in Entwicklung ihres Selbstwerts behindern; Ablehnung, Isolation, Demütigung, Terrorisierung, Ignorierung, Korrumption
–> Sexuelle Misshandlung: Beteiligung von Kindern an sexuellen Aktivitäten Erwachsener; Abgrenzung zur sex. Interaktion bei 5-jährigem Altersunterschied, bei einem Beteiligter unter 12 Jahren, und bei Unerwünschtheit der sexuellen Interaktion
–> Bezeugung partnerschaftlicher Gewalt (Intimate Partner Violence, IPV)
Formen der emotionalen Kindesmisshandlung
–> Missachten (erniedrigen, beschämen, verächtlich machen)
–> Terrorisieren (lebensbedrohliche Handlungen begehen, das Gefühl von Unsicherheit vermitteln, unrealistische Erwartungen mit Bedrohung von Verlust, Verletzung oder Gefahr bei Nichterfüllen)
–> Ausbeutung oder Bestechung zur Ermutigung unangemessenen Verhaltens (z.B. zum Stehlen)
–> Verleugnung emotionaler Zuwendung
–> Vernachlässigung der seelischen oder körperl. Gesundheit
–> Beobachtung von intimer Gewalt
4 steps: public health approach to preventing child maltreatment
1) Surveillance: uncovering the size and scope of the problem
2) Identification of risk and protective factors: what are the causes
3) development and evaluation of interventions: what works and for whom?
4) Implementation: widespread implementation and dissemination
Prävention
–> frühzeitige Förderung der Eltern-Kind-Beziehung zur Verringerung des Deprivationsrisikos (z.B. Programme zur Erhöhung der mütterlichen Feinfühligkeit)
–> Verbesserung der Früherkennung von und Aufklärung über Kindesmisshandlung
–> Aufbau starker sozialer Netzwerke ÒStärkung der Beziehung zwischen Elternteilen
–> Förderung von Erziehungskompetenzen im Rahmen von Elterntrainings oder Erwerb von Co-Parenting-Fertigkeiten im Übergang zur Elternrolle
–> allerdings sind bei universellen Maßnahmen nur kleine Effekte zu erwarten
‒ stärkerer Einfluss durch z.B. Hausbesuchsprogramme für Hochrisikogruppen (z.B. schwangere Teenager aus sozialen Brennpunkten)
Take Home Message
–> Bindungstypen /= …..
–> zwei Typen von Bindungsstörungen:
§ F94.1 …. Bindungsstörung des Kindesalters: abnormes Beziehungsmuster mit widersprüchlichen oder ambivalenten sozialen Reaktionen; vermutlich als direkte Folge schwerer Vernachlässigung/Misshandlung
§ F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit …..: diffuses, nicht-selektives Bindungsverhalten, wahllos freundlich und aufmerksamkeitssuchend
–> vom Typ hängt die Wahrscheinlichkeit ab, inwieweit ein Wechsel der Lebensbedingungen eine Veränderung der Auffälligkeiten mit sich bringt
–> intergenerationale Transmission: ?
–> Störungsgenese: (oftmals) Deprivationsbedingungen (Fehlen einer emotional und sozial- kognitiv anregenden Umwelt); je früher, desto schwerwiegender
–> Verlauf bisher kaum untersucht, Prognose eher ungünstig
–> Intervention: ?
Take Home Message
–> Bindungstypen /= Bindungsstörungen
–> zwei Typen von Bindungsstörungen:
§ F94.1 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters: abnormes Beziehungsmuster mit widersprüchlichen oder ambivalenten sozialen Reaktionen; vermutlich als direkte Folge schwerer Vernachlässigung/Misshandlung
§ F94.2 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung: diffuses, nicht-selektives Bindungsverhalten, wahllos freundlich und aufmerksamkeitssuchend
–> vom Typ hängt die Wahrscheinlichkeit ab, inwieweit ein Wechsel der Lebensbedingungen eine Veränderung der Auffälligkeiten mit sich bringt
–> intergenerationale Transmission: Weitergabe eigener negativer frühkindlicher Bindungserfahrungen an die eigenen Kinder
–> Störungsgenese: (oftmals) Deprivationsbedingungen (Fehlen einer emotional und sozial- kognitiv anregenden Umwelt); je früher, desto schwerwiegender
–> Verlauf bisher kaum untersucht, Prognose eher ungünstig
–> Intervention: sicheres und langfristig stabiles Umfeld schaffen