10c. Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung Flashcards
- Ein rätselhafter Begriff
Bildungsbegriff
Der Bildungsbegriff lässt sich nicht allgemeingültig definieren: ein von der Gesellschaft definierter Begriff, der gestaltbar ist; Säkularisierung des Begriffes, vom Gottesbild zum Selbstbild, zur Bildung der Persönlichkeit; Berührung und Bewegung durch Selbst-Welt-Verständnis; Organisation durch die Gesellschaft und zugleich Einbettung in den sozialen Kontext als dauerhaftes Spannungsfeld…
Bildung ist ein ursprünglich theologischer Begriff und bedeutet, sich ein Bild von etwas machen oder etwas bilden, sprich: einer Sache Gestalt geben. Mit der Gesellschaft wandelte sich der Begriff «Bildung» vom Gottesbild zum Selbstbild und dann zur Bildung der Persönlichkeit, also zur Idee, dass man sich selbst eine Gestalt geben muss. Und zugleich muss man der Welt, in der man selbst verortet ist, eine Gestalt geben. Der Begriff Bildung wandelte sich somit vom Gottesbild zum Selbstbild und Weltbild. Alle modernen Bildungstheorien haben folgendes gemeinsam:
· Eine aktive Aneignung von Welt durch Lernen und Erfahrungen
· Das Sich-selbst-in-Beziehung-Setzen zu einem Thema, zu einem Kontext oder zu einer Erkenntnis
Die Dinge bekommen erst so einen Wert, eine Bedeutung.
Bildung hat also ganz zentral etwas mit Wissen und Wissensaneignung zu tun. Weitere wichtige Begriffe im Zusammenhang mit Bildung:
- Auseinandersetzung
- Erkennen von Zusammenhängen
- Urteilsvermögen, kritische Distanznahme
- Reflexion
- Zentrale Kulturtechniken: Lesen, Schreiben, Rechnen
- Analytische Fähigkeiten
Aktuelles Begriffsverständnis: Bildung muss nützen: Selektionsfächer, Geisteswissenschaften, Sport und Musik gestalterische Fächer werden vernachlässigt.
- Humankapitalismus: Bildung als Ware und Währung
Bildung hat zunehmend den Charakter einer Ware und einer Währung, indem sie auf ökonomische Verwertbarkeit, Messbarkeit und gesellschaftlichen Nutzen ausgerichtet ist.
Bourdieu: ökonomische, soziales, und kulturelles Bildungskapital:
(Bildungskapital drückt sich in Objekten (objektiviertes Kapital / materielles Kapital, Kulturgüter) in Körper und Geist (inkorporiertes Kapital / Verinnerlichung des Kulturellen) und in institutionalisierter Form aus (institutionelles Kapital / Hochschulische Abschlüsse).
Gegenstände, Kompetenzen und Zeugnisse stehen miteinander im Zusammenhang, wenn es um Bildung geht.
Bildungstitel als Produkt einer Bildungsinvestition, einer Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital -> Bedeutung hier des sozialen Kapitals (Vitamin B) Beziehungen. Immaterielle Ressourcen bestimmen soziale Stellung mit. Durch Investition in Bildung wird ökonomisches Kapital in kulturelles umgewandelt, was wiederum in ökonomisches Kapital umgewandelt wird (Berufsaufstieg)
→ Bildung hat eine kapitalistische Funktion
Humankapitalismus: Im HK kennzeichnet sich der dominante Bildungsbegriff durch eine Reduzierung auf die ökonomisch nützlichen und wissenschaftlich messbaren Aspekte von Bildung.
Zunehmende Bedeutung der bildungsökonomischen Begriffe: Bildung als Humankapital -> Wettbewerbsförmigkeit von Bildung als zentraler Diskurs (PISA…) -> (Logik gesellschaftlicher) Steigerungs- und Beschleunigungszwänge; nur indirekte Vererbbarkeit von Bildung.
- Persönlichkeitsbildung: Bildung als Aneignung von Welt und Formung des Selbst
Idealistische Bildungstheorie -> Humboldt: autonomes Individuum als Weltbürger. Die Einzelne soll selbstbestimmt und mündig sein, indem er sich an der Welt abarbeitet und dadurch entfaltet. Es ging ihm um die Entfaltung der Persönlichkeit. Bildung ist ein aktiver Prozess, der zu Selbstbestimmung führt.
Veredelung des Geistes zeigt sich in der Veredelung des Handelns. Bildung berührt und bewegt den Menschen, weil sie sich auf Denken, Fühlen, und Handeln und damit alle Bereiche des menschlichen Wesens bezieht: Zusammenspiel von kognitiven emotionalen, sozialen und methodischen Kompetenzen. Es geht also auch um Können, Wollen und Handeln, aber nicht ausschliesslich. Bildung geht nicht ohne Kompetenzen, aber Kompetenz ist noch lange nicht Bildung.
→ Schule legt den Grundstein für Bildung (über den Inhalt von Bildung bzw. die Fächer, Lehrpläne, wird immer wieder diskutiert.
Bildung braucht Anleitung, ist aber nicht steuerbar. Bildung ist nie abgeschlossen. Bildung soll berühren. Bildung fördert das Selbstbild. Bildungsprozess als ein Sich-Fremd-Werden; idealistisches Bildungsverständnis und Blindheit für sozial ungleiche Realitäten…
- Habitus: Bildung als klassenspezifische Prägung
«Habitus» als Grundbegriff der Soziologie: Der Begriff beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt, die Welt und sich selbst wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln. Diese Grundhaltung wird bereits früh im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen - auch in der sozialen Schicht bzw. im Milieu – ausgebildet und hilft ihm, sich darin zu orientieren. Der Habitus ist als ganzheitliches Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu verstehen.–> schichtenspezifische Milieus, da Menschen aus demselben Milieu, ähnlich aufwachsen und soziale Praktiken teilen. In ihnen funktioniert der Habitus reibungslos. Gemeint ist, ein Hineinwachsen in ein Milieu. Lebensstile! Der Habitus zeigt sich in allen Lebensbereichen. Die Milieuzugehörigkeit prägt also in weiten Teilen das, was gemeinhin der Individualität oder der Persönlichkeit eines Menschen zugeschrieben wird.
–> Das hat enorm viel mit Bildung zu tun. 1. Bildung soziale Hierarchien / Ordnungsgefüge, Selektion, Platz in der Gesellschaft und 2. Formung oder Bildung von Selbst- und Weltbild.
Das Problem ist nun, ein einmal ausgebildeter Habitus ist per Definition nicht ohne Weiteres grundlegend veränderbar, das liegt auch daran, dass er am besten funktioniert, wo er gebildet wurde.
Menschen suchen sich Menschen mit ähnlichem Habitus. Auswirkung auf Bildungsprozesse: Habitus als «zweite Natur» oder «Instinktersatz»; unterschiedliche Resonanzen (Nähe bzw., Distanzen, Vermeidungsverhalten gegenüber Menschen mit anderem Habitus, Dissonanzwahrnehmungen). In diesen Unstimmigkeiten, wenn der Habitus nicht mehr funktioniert, hat man aber gleichzeitig- potenziell- einen bewussten Zugang zu ihm. ( Umgang mit Fremdem als Chance anschauen). Normalerweise wirkt unser Habitus unbewusst ausser, wenn er irritiert wird, tritt er in den Vordergrund. Mögliche Reaktionen: Hemmung, Scham, Experimentierfreude oder Kreativität. Irritationen des Habitus müssen also nichts Schlechtes sein.
Der H. wird nicht nur durch das Milieu ausgebildet (Prägungseffekt), sondern auch durch die Biografie insgesamt (Laufbahneffekt). Aus der Herkunft entwickelt sich ein „sense of ones place“. Insbesondere aus dem, was in den Bildungsinstitutionen ausgebildet wird, entsteht ein „sense of one’s way“. Institutionen haben einen grossen Einfluss auf den Laufbahneffekt. Prägungseffekte und Laufbahneffekte -> hier können Bildungsinstitutionen systematisch abschwächen bzw. eingreifen;
Habitus: Zusammenhang von Sein (gesellschaftliche Lebensumstände) und Bewusstsein (Vorstellungen und Konstruktionen der Menschen).
Fazit: Habitus stiftet einen Orientierungsrahmen für unser Menschsein und gibt uns eine Identität, was den Rahmen bildet, also Möglichkeiten und Grenzen, sowohl für die Kompetenzentwicklung und Humankapitalbildung als auch für Persönlichkeitsbildung.
- Mythos: Bildung als Lösung aller Probleme.
Eigenverantwortung – Persönlichkeitsentwicklung – soziale Rahmungen & Spielräume;
Bildung als Allheilmittel: «Immer wenn man nicht mehr weiterweiss, kommt Bildung ins Spiel (…) das ist völlig absurd»;
Beispiel: Fridays for Future Aktivist*innen (Bildung oder soziale Verhältnisse?);
«Bildung kann Wohlstand erzeugen, aber genauso hängt Bildung vom Wohlstand ab»; «Das Bildungssystem kann nicht wesentlich gerechter, humaner oder nachhaltiger sein als die Gesellschaft selbst»;
–> Die grosse Parallele zwischen Bildung & Integration: das Konfliktpotential steigt, wenn mehr Teilhabe (durch Bildung usw.) möglich wird…; zwei zentrale Konfliktlinien, die mit Bildung zu tun haben: Verteilungskonflikte und Kulturkonflikte…-> Lösung nur durch konstruktive Streitkultur!