Soziale Phobie Flashcards
Soziale Phobie: Darstellung der Störung
Kernmerkmal = intensive Angst, in sozialen Situationen durch bestimmte Verhaltensweisen oder durch das erwartete Sichtbarwerden von körperlichen Symptomen peinlich oder ungeschickt zu wirken, zu versagen, oder von anderen negativ bewertet oder abgelehnt zu werden
⇒ erhebliche Einschränkungen hinsichtlich der Lebensführung und Genussfähigkeit in privaten und beruflichen Bereichen
Wesentliche Merkmale:
- dysfunktionale Gedanken* z.B. negativ, katastrophisierend
- körperliche Symptome z.B. Herzklopfen, Erröten, Schwitzen, Zittern, Atemnot, Übelkeit, Schwindel, Harndrang → kann einer Panikattacke ähneln
- spezifische Verhaltendweisen z.B. Vermeidungs- oder Fluchtverhalten, Sicherheitsverhalten, ungeschicktes bzw. wenig kompetentes Interaktionsverhalten (z.B. distanziert, schweigsam, kein Blickkontakt, Stottern), um Anspannung und soziale Bedrohung zu reduzieren und Schutz vor Versagen zu erhöhen
*Dysunktionale Kognitionen = hauptsächlich die Erwartung negativer Bewertung durch andere:
- ungünstige, die eigene Person abwertende und andere überhöhende Vergleiche
- perfektionistische Anforderungen an die eigene Person bei gleichzeitig vorhandenem Insuffizienzempfinden
- Befürchtung, dass körperliche Reaktionen von anderen beobachtet werden können
Soziale Phobie: Epidemiologie
- dritthäufigste psychische Störung nach Depressionen und Alkoholabhängigkeit
- spielt als Indexdiagnose im Versorgungskontext eine geringere Rolle hinsichtlich der Häufigkeit
- weit schwankende Prävalenzzahlen
- Lebenszeit: 4 - 12% (Median 6,6%)
- Jahresprävalenz: 2 - 4%
- Jährliche Inzidenz: 1%
- Fälle nach dem 25. Lebensjahr eher selten
- Risiko für Frauen 1,5 x höher als für Männer (in klinischen Stichproben und bei schweren, generalisierten Verläufen aber kaum Geschlechterunterschiede bzgl. Häufigkeit)
- in Südostasien seltener als in westlichen Kulturen
- Kohortenstudien: kumulierte Lebenszeitinzidenz bei in den 1960ern geborenen Personen im Vergleich zu älteren Kohorten deutlich angestiegen
- erstmaliges Auftreten im (oft frühen) Jugendalter oder spätestens im jungen Erwachsenenalter; bei generalisierten sozialen Phobien teilweise deutlich früher zwischen dem 11. und 13. Lebensjahr
Soziale Phobie: Ko-Prävalenz
besonders große Bedeutung als zusätzlich auftretende Störung bei anderen psychischen Störungen: 60%
besonders hohe Komorbidität (Ko-Prävalenz) bei affektiven Störungen, spezifischen Phobien und Essstörungen (jeweils bis zu 60%); und bei Agoraphobie (bis 45%)
etwas niedriger bei Substanzmittelmissbrauch/-abhängigkeit (13-18%)
Schweregrad sozialer Phobien ist bei ko-prävalent vorhandenen Störungen meist besonders hoch
Soziale Phobie: Ätiologie
erhöhte Auftretenswahrscheinlichkeit innerhalb von Familien (etwa 3-fach erhöhtes Risiko); v.a. generalisierte Form
hereditäre, soziale und Umweltfaktoren relevant
biologische Vulnerabilitätsfaktoren: leichtere kardiovaskuläre Erregbarkeit, Hellhäutigkeit, Tendenz zum Erröten
vermutlich erbliche Disposition zur Verhaltenshemmung (behaviorale Inhibition)
Zwei-Faktoren-Theorie (Mowrer): unangenehme Erfahrung in sozialen Situationan als Auslöser (z.B. Mobbing, Versagen in Leistungssituationen) für Angstreaktion in vergleichbaren Situationen, Aufrechterhaltung durch Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten (= negative Verstärkung)
Ansonsten unterschiedliche Befunde zu:
- Eltern-Kind-Beziehung (protektiv: sichere Beziehung)
- Erziehungsstile (protektiv: emotionale Wärme, geringe autoritäre Kontrolle)
- Einfluss von Gleichaltrigen
- einzelne oder gehäufte negative Lebensereignisse
- soziale Kompetenzen
- kulturelle Faktoren
Soziale Phobie: Verhaltenshemmung/Behaviorale Inhibition
- Weinen und Reizbarkeit im Kleinkindalter
- Schüchternheit und Furchtsamkeit mit 2 - 5 Jahren
- Vorsicht, Rückzug und geringes Explorationsverhalten im frühen Schulalter
- gehemmt und zurückhaltend in neuen Situationen bei vergleichsweise hoher autonomer physiologischer Aktivierung
Soziale Phobie: Preparedness
Evolutionärer Vorteil sozialer Ängste durch Unterwürfigkeit/Vorsicht im Kontakt mit aggressiven, kritischen oder ablehnenden Personen
Adaption an Dominanzhierarchien in Gruppen zum Verbleib in der Gruppe → Erhöhung der Wahrscheinlichkeit an Ressourcen teilhaben und eine Familie gründen zu können
Zurückhaltendes Verhalten in sozialen Kontexten kann eine sinnvolle Abwehr von Aggressivität sein
ausgeprägte interpersonelle Sensibilität und Empathie sowie rücksichtsvolles Verhalten als positive Aspekte sozialer Ängstlichkeit
Soziale Phobie: Verlauf
niedrige Remissionsrate für nicht behandelte Personen, unbehandelt meist chronischer Verlauf
Risiko für Chronizität wird außerdem erhöht durch
- frühen Beginn
- erhöhten Schweregrad
- selbstunsicher-vermeidende PS
Vorliegen einer sozialen Phobie stellt deutliches Risiko für Entwicklung anderer psychischer Störungen dar, v.a. für Depressionen, weitere Angststörungen und Suchtmittelmissbrauch oder -abhängigkeit (v.a. Alkohol und Nikotin)
Soziale Phobie: Störungsmodell
-
Kompetenz- und performanzorientiertes Störungsmodell
Soziale Situation und gedankliche Antizipation als (soziale) Gefahr = auslösende Bedingungen für sozial-ängstliches Verhalten (z.B. Angst sich lächerlich zu machen, ausgeschlossen oder abgelehnt zu werden)- Symptome umfassen negative Gedanken/Kognitionen (durch Lebens- und Lerngeschichte, z.B. Modelle, Erziehung, instabile Beziehungen und Charakter, z.B. schüchtern) einhergehend mit starken Angstgefühlen, körperliche Reaktionen (Erröten, Zittern, Schwitzen etc., biologische Vulnerabilität) und (non)verbales motorisches Verhalten (“soziale Performanz”, also konkretes Verhalten in sozialen Situationen, Sicherheits- und Vermeidungsverhalten)
- Wichtig: Physiologische Symptome sind die gleichen wie bei anderen Angststörungen, wichtig ist, dass sie bei Sozialphobikern eine Relevanz für soziale Interaktionen haben (wollen Reaktionen um jeden Preis vor anderen verbergen)
- 3 Faktoren (motorisch-sprachlich, physiologisch, kognitiv) beeinflussen sich wechselseitig negativ und setzen Aufschaukelungsprozess in Gang, der Angstsymptome verstärkt (“Teufelskreis”)
-
Modell der sozialen Phobie von Leary & Kowalski
Ängste treten auf, wenn Person sich nicht in der Lage sieht bestimmte (positive) Erwartungen zu erfüllen und diese Diskrepanz auf ihre mangelnde soziale Kompetenz zurückführt -
Kognitives Modell psychischer Störungen
Kognitive Schemata als nicht bewusste “Filter”, durch die soziale Situationen als (sozial) bedrohlich interpretiert werden und daher mit Angst einhergehen; übersteigerte Selbstaufmerksamkeit für negatives Schema der eigenen Person (ungeschickt, dumm, minderwertig) und “Überlegenheitsschema” anderer Personen (intelligent, kompetent, kritisch) sowie Fokussierung auf sozial bedrohliche Reize → wirkt sich negativ auf soziale Performanz aus, da Konzentration stark auf die inneren Angstprozesse gelenkt wird- Ungünstige gedankliche Rückblicke und post-mortem processing (nachträglich negative Bewertung von erlebten sozialen Situationen) verstärken negative Antizipation bzgl. ähnlicher zukünftiger Situationen
Soziale Phobie: Kognitive Besonderheiten
- übertrieben hohe Standards für das eigene Auftreten in sozialen Situationen
- konditionale Überzeugungen (d.h.speziell in sozialen Situationen auftretende) über ungünstige oder katastrophale Konsequenzen des eigenen Verhaltens oder der eigenen Erscheinung (z.B. Angst sich zu blamieren, weil man Mandarinen statt Orangen mit zur Party bringt, danke Caro)
- unkonditionale (d.h. eher dauerhaft vorhandene) negative und abwertende Überzeugungen über die eigene Person
Soziale Phobie: Diagnostische Kriterien nach DSM-5
Kriterien für die soziale Angststörung (soziale Phobie)
nach DSM-5 (F40.1):
A. Ausgeprägte Furcht oder Angst vor einer oder mehreren
sozialen Situationen, in denen die Person von anderen
Personen beurteilt werden könnte. Beispiele hierfür sind
soziale Interaktionen (z. B. Gespräche mit anderen, Treffen mit unbekannten Personen), beobachtet zu werden (z. B. beim Essen oder Trinken) und vor anderen Leistungen zu erbringen (z. B. eine Rede halten).
Beachte: Bei Kindern muss die Angst gegenüber Gleichaltrigen und nicht nur in der Interaktion mit Erwachsenen auftreten.
B. Betroffene befürchten, dass sie sich in einer Weise verhalten könnten oder Symptome der Angst offenbaren,
die von anderen negativ bewertet werden (d. h., die
beschämend oder peinlich sind, zu Zurückweisung
führen oder andere Personen kränken).
C. Die sozialen Situationen rufen fast immer eine Furchtoder Angstreaktion hervor.
Beachte: Bei Kindern kann sich die Furcht oder Angst
durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren, Anklammern,
Zurückweichen oder die Unfähigkeit, in sozialen Situationen zu sprechen, ausdrücken.
D. Die sozialen Situationen werden vermieden oder unter
intensiver Furcht oder Angst ertragen.
E. Die Furcht oder Angst geht über das Ausmaß der
tatsächlichen Bedrohung durch die soziale Situation hinaus und ist im soziokulturellen Kontext unverhältnismäßig.
F. Furcht, Angst oder Vermeidung ist andauernd; typischerweise über 6 Monate oder länger.
G. Die Furcht, Angst oder Vermeidung verursacht in
klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen
Funktionsbereichen.
H. Die Furcht, Angst oder Vermeidung ist nicht Folge der
physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz
mit Missbrauchspotenzial, medikamentöse Wirkstoffe)
oder eines medizinischen Krankheitsfaktors.
I. Die Furcht, Angst oder Vermeidung kann nicht besser
durch die Symptome einer anderen psychischen Stö-
rung erklärt werden, wie z. B. Panikstörung, körperdysmorphe Störung oder Autismus-Spektrum-Störung.
J. Falls ein medizinischer Krankheitsfaktor (z. B. Morbus
Parkinson, Adipositas, eine Entstellung durch Verbrennung oder Verletzung) vorliegt, so steht die Furcht, Angst oder Vermeidung nicht damit im Zusammenhang oder geht deutlich darüber hinaus.
Bestimme, ob:
»Nur in Leistungssituationen«: zu verwenden, wenn die
soziale Angststörung ausschließlich auf das Sprechen
vor anderen bzw. das Erbringen von Leistungen vor anderen (oder in der Öffentlichkeit) beschränkt ist.
Soziale Phobie: Diagnostische Kriterien nach ICD-10
Kriterien für die soziale Phobie (F40.1) nach ICD-10
A. Entweder (1) oder (2):
1. deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit
zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu
verhalten;
2. deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten.
Diese Ängste treten in sozialen Situationen auf, wie
Essen und Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnung
von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen
oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z. B. bei
Partys, Treffen oder in Klassenräumen.
B. Mindestens 2 Angstsymptome in den gefürchteten
Situationen mindestens einmal seit Auftreten der Stö-
rung, wie in F40.0, Kriterium B, definiert, sowie zusätzlich mindestens eins der folgenden Symptome:
1. Erröten oder Zittern,
2. Angst zu erbrechen,
3. Miktions- oder Defäktionsdrang bzw. Angst davor
C. Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten. Einsicht, dass die
Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben
und unvernünftig sind.
D. Die Symptome beschränken sich vornehmlich auf die
gefürchtete Situation oder auf die Gedanken an diese.
E. Ausschlussvorbehalt: Die Symptome der Kriterien A und
B sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder
andere Symptome der Störungsgruppen organische
psychische Störungen (F0), Schizophrenie und verwandte Störungen (F2), affektive Störungen (F3) oder
eine Zwangsstörung (F42) und sind nicht Folge von
kulturell akzeptierten Anschauungen.
Soziale Phobie: Unterschiede zwischen DSM-5 und ICD-10
- Auf der Grundlage empirischer Untersuchungen wurde in der 5. Fassung des DSM der Begriff »Soziale Angststörung« statt »Soziale Phobie« verwendet.
- Nach den Kriterien der ICD-10 werden, im Unterschied zum DSM, eine Reihe typischer Situationen spezifiziert, in denen soziale Ängste auftreten. Weiterhin wird im ICD-10 mindestens eines der folgenden physiologischen Symptome verlangt:
- Erröten oder Zittern,
- Angst zu erbrechen oder
- Stuhl- oder Harndrang bzw. die Angst davor.
- In beiden Klassifikationssystemen muss bei der betroffenen Person die Einsicht vorhanden sein, dass die Ängste übertrieben und/oder unvernünftig sind; Ausschlusskriterien sind u. a. organisch bedingte Störungen, psychotische und wahnhafte Störungen.
- Eine Besonderheit ist die Spezifikation »nur in Leistungssituationen«. Diese gibt es zwar im DSM-5, nicht jedoch nach den Kriterien der ICD-10.
- unterschieden wird dabei noch die Art der gefürchteten Leistungssituation: interaction type (Soziale Angst vom Interaktionstyp; fremde ansprechen, Small-Talk in Gruppen) und performance type (Leistungsbezogene soziale Ängste; öffentliches Sprechen, Essen, Trinken etc.)
Soziale Phobie: Kategoriale Diagnostik
Fachliteratur unterscheidet:
- distinkte Formen (z.B. Sprechen in der Öffentlichkeit, Kontakt mit Personen des anderen Geschlechts)
- generalisierte soziale Phobie (Ängste in vielen unterschiedlichen sozialen Situationen)
- ängstlich-vermeidende PS (DSM-5 “selbstunsichere PS”), meist nur als Zusatzdiagnose einer generalisierten sozialen Phobie
Soziale Phobie: Diagnostische Verfahren
- Interviews/Checklisten
- strukturierte oder standardisierte Interviews (z.B. SKID, DIPS, CIDI/DIA-X)
- Checklistenverfahren (z.B. IDCL)
- für selbstunsicher-vermeidende PS: SCID-5-PD
- Psychometrische Verfahren
- Den Ausprägungs- bzw. Schweregrad sozialer Ängste erfassen unterschiedlich spezifische psychometrische Instrumente, die auch als Screeninginstrumente eingesetzt werden. Je nach Konzept legen sie den Schwerpunkt auf kognitive oder verhaltensbezogene Aspekte bzw. auf die diagnostischen Kriterien und
kommen als Selbst- und Fremdbeurteilungsverfahren zum Einsatz. - Tab. 3.1 listet wichtige Verfahren auf, die in deutscher
Sprache zur Verfügung stehen
- Den Ausprägungs- bzw. Schweregrad sozialer Ängste erfassen unterschiedlich spezifische psychometrische Instrumente, die auch als Screeninginstrumente eingesetzt werden. Je nach Konzept legen sie den Schwerpunkt auf kognitive oder verhaltensbezogene Aspekte bzw. auf die diagnostischen Kriterien und
Soziale Phobie: Differenzialdiagnostik
- Eine zusätzliche soziale Phobie kann nur dann diagnostiziert werden, wenn die Angstsymptome, die sich auf die soziale Situation beziehen, (auch) unabhängig von der weiteren Störung (z. B. einer Agoraphobie, einer Zwangsstörung, einer Essstörung oder einer affektiven Störung) auftreten, d. h., durch die soziale Situation oder die Antizipation der sozialen Situation ausgelöst werden
- Differentialdiagnostik kann schwierig sein, da sich viele Merkmale mit anderen Angst- und affektiven Störungen überschneiden (z.B. Reaktionen, die einem Panikanfall gleichen, Antriebslosigkeit etc.)
- Unterscheidung von angstauslösenden Bedingungen und charakteristische Kognitionen sind daher besonders zu berücksichtigen
- Angst bei Panikstörung wegen befürchtetem Versagen eigener Körperfunktionen, bei Agroaphobie vor charakteristischen Situationen (eingeschlossen sein, Menschenmengen, ÖPNV), Kontrollverlust und Hilflosigkeit
- soziale Ängste können sich auch nur im Kontext einer Depression zeigen, dann in Form von Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstabwertungen → keine zusätzliche Diagnose einer sozialen Phobie
- sozialphobische Symptome häufig auch als Sekundärsymptomatik bei Schizophrenien
- oder körperdysmorphen Störungen (Rückzug, Scham, Selbstabwertung), aber Betroffene beschäftigen sich zwanghaft und intensiv mit dem selbst so erlebten entstellten körperlichen Aussehen