Medikamentenabhängigkeit Flashcards
Medikamentenabhängigkeit: Einleitung
- unauffälligste unter den stoffgebunden Abhängigkeiten
- Abgrenzung zwischen sachgerechtem und schädlichem oder abhängigen Gebrauch ist oft schwierig
- v.a. bei Verordnung zur Linderung von körperlichen oder psychischen Beschwerden und ohne auffällige Dosissteigerungen
- Einnahme nicht mehr zu Linderung der initialen Krankheitssymptome, sondern zur Beseitigung von Entzugssymptomen, die oft als Verschlimmerung der ursprünglichen Symptomatik fehlinterpretiert werden
Medikamentenabhängigkeit: Darstellung der Störung
- in Deutschland 1,4 - 1,5 Mio. Menschen medikamentenabhängig
- davon 1,1 - 1,2 Mio. von Benzodiazepinderivaten
- 2/3 weiblich (“Frauensucht”)
- Risiko steigt mit zunehmendem Alter (“Alterssucht”)
-
oft unauffällig und sozial integriert (“heimliche Sucht”)
- Substanzkonsum nicht eindeutig wahrnehmbar
- kognitive, emotionale und körperliche Beeinträchtigungen beginnen schleichend
- Niedrigdosisabhängigkeit = geringe Dosissteigerungen innerhalb der therapeutisch vorgesehenen Dosisgrenzen
- Hochdosisabhängigkeit = massive Dosissteigerungen
-
geringe Behandlungszahlen (ca. 2000 pro Jahr)
- meist Hochdosisabhängigkeit bzw. gemischter Konsum (auch Alkohol und/oder Drogen)
- Niedrigdosisabhängigkeit (Großteil der Betroffenen) noch seltener in Behandlung
Medikamentenabhängigkeit: Medikamente mit Abhängigkeitspotenzial
- Abhängigkeitsdiagnose nur im Fall des Konsums psychotrop wirksamer Medikamente (Psychopharmaka)
- also Medikamente, die über zentralnervöse Mechanismen das Erleben und Verhalten beeinflussen
- nicht alle Psychopharmaka haben Abhängigkeitspotenzial (= Fähigkeit, körperlich und/oder psychisch abhängig zu machen)
- v.a. Schmerzmittel, Schlaf- und Beruhigungsmittel, Anregungsmittel und Appetitzügler
- trotz steigender Verordnungszahlen opioidhaltiger Schmerzmittel gehen 70% der Abhängigkeiten auf Benzodiazepine und Benzodiazepinagonisten zurück, die als Schlaf- und Beruhigungsmittel eingesetzt werden
- ICD-10 unterscheidet 9 psychotrope Substanzklassen, davon vier als Medikamente eingesetzt
- Substanzklasse an dritter Stelle des Diagnosecodes
- F11 Opioide (Analgetika, Anästhetika)
- F13 Sedativa/Hypnotika (Benzodiazepine)
- F15 Stimulanzien (Amphetamin, Koffein)
- F16 Halluzinogene (Atropinhaltige Substanzen)
- F19 Restkategorien (andere psychotrope Substanzen, multiple Substanzen, Mischpräparate)
- Vierte und fünfte Stelle beschreiben klin. Erscheinungsbild (z.B. gegenwärtiger Gebrauch)
- Substanzklasse an dritter Stelle des Diagnosecodes
- Abhängigkeitspotenzial durch positive psychotrope Effekte, insb. euphorisierende Wirkung
- v.a. Opioide und Hypnotika (Benzodiazepine)
- Non-Benzodiazepine (“Z-Drogen”): gleiche Wirkung und Folgen wie Benzodiazepine
- Opioide v.a. in Antitussiva und in zentral wirksamen Analgetika enthalten (“kleine Analgetika” wie Paracetamol besitzen als Monopräparat kein Abhängigkeitspotenzial, aber als Kombinationspräparate mit psychotropen Substanzen wie Koffein oder Kodein)
- Psychostimulanzien (z.B. Amphetamin) haben neben euphorisierender Wirkung auch antriebssteigernde und sexuell stimulierende Effekte (hemmen Schlafbedürfnis, Hungergefühl und Appetit; aversive Nachwirkungen sind Heißhunger, depressive Symptome und Müdigkeit sowie Wunsch nach erneutem Konsum)
- Halluzinogene spielen hinsichtlich Fallzahlen eine untergeordnete Rolle; vereinzelt Berichte über missbräuchlichen Konsum wegen antriebssteigernder und euphorisierender Wirkung
- v.a. Opioide und Hypnotika (Benzodiazepine)
- Toleranzentwicklung (verminderte Wirkung bei gleicher Dosis) und Entzugssymptome sind Hinweise auf körperliche Abhängigkeit
Medikamentenabhängigkeit: Klinisches Bild
- Frauen über 40, die zugleich über eine Reihe somantischer und/oder psychischer Beschwerden klagen
- zwischenzeitliche Verschlechterungen der Beschwerden sind prädiktiv für eine Benzodiazepinabhängigkeit, die wiederum die Entwicklung neuer psychischer und psychosomatischer Störungen begünstigen kann (v.a. Panikattacken und Agoraphobie bzw. gastroenterologische und neurologische Beschwerden)
- Männer berichten häufiger berufliche Schwierigkeiten
- beide Geschlechter häufig gestörte Partnerbeziehungen
- Medikamenteneinsatz insb. von Frauen als Strategie zur Lebensbewältigung
- Pat. mit Abhängikeiten von Stimulanzien deutlich jünger (20 - 34 Jahre)
- relevante diagnostische Kategorien sind das Abhängigkeitssyndrom (F1x.2) mit substanzunspezifischen Diagnosekriterien und das Entzugssyndrom (F1x.3)
- zwei wesentliche Verlaufsformen der Medikamentenabhängigkeit:
-
Konsum zur Rauschzwecken
- besonders bei jüngeren Patienten beobachtet
- vergleichbar hohe Geschlechteranteile
- zu Beginn missbräuchlicher Konsum aufgrund der psychotropen Effekte
- Suche nach “Kick”/Rausch im Vordergrund
- oft Kombination mit anderen psychoaktiven Substanzen (z.B. Alkohol) zur Effektsteigerung, Milderung von Entzugssymptomen oder zur Verschleierung/Kompensation bestimmter Substanzeffekte (z.B. Benzodiazepine zur Dämpfung der Amphetaminwirkung)
- Kreuztoleranz und -abhängigkeit besteht für Alkohol und Hypnotika/Sedativa
- d.h. Toleranzeffekte ggü. einer Substanz auch ggü. der anderen Substanz
- Kreuzabhängigkeit: eine Substanz kann zur Effektpotenzierung oder Substitution eingesetzt werden (z.B. Alkohol zur Steigerung oder als Ersatz für Benzos)
-
Iatrogener Anstoß
- beginnt im Kontext von Behandlungen körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigungen wie z.B. Schlafstörungen, Nervosität, Schmerzen oder Angst
- Eintreten der Toleranzeffekte unterschiedlich schnell (je nach Substanz und individuellen Faktoren)
- die meisten Patienten steigern ihre Einnahmedosis nicht über den therapeutisch empfohlenen Bereich, beklagen aber verminderte Substanzeffekte (Niedrigdosisabhängigkeit)
- v.a. bei Sedativa/Hypnotika vom Typ der Benzodiazepine
- nicht unbedingt bewusst, interpretieren Wirkminderung als “Versagen” des Medikamentes und Entzugssymptome als verstärkte Rückkehr der vermeintlich erfolgreich behandelten Beschwerden, was den weiteren Verordnungswunsch begründet
- Niedrigdosisabhängigkeit = typischer Verlauf bei iatrogen verursachter Abhängigkeit, aber nicht der einzige (Hochdosisabhängigkeit, andere markante Hinweise auf abhängigiges Verhalten wie sozialer Rückzug, Schwarzmarkteinkäufe, Inanspruchnahme mehrerer verordnender Ärzte)
-
Konsum zur Rauschzwecken
Medikamentenabhängigkeit: Auffällige Abhängigkeitssymptome
-
Substanzgebrauch länger oder in größeren Mengen als beabsichtigt
gute Vorsätze werden wiederholt gebrochen -
Fortgesetzter Gebrauch trotz schädlicher Folgen
auch Wissen um Abhängigkeitsgefahr aus Beipackzettel -
Verminderte Kontrolle über den Substanzgebrauch
wiederhole Einschränkungs-/Entzugsversuche ohne Erfolg -
Anzeichen von körperlicher Abhängigkeit
Toleranz und Entzugssymptome -
Hoher Zeitaufwand für Beschaffung, Gebrauch oder Erholung vom Substanzkonsum
bei Medikamenten im Vergleich zu anderen Abhängigkeitserkrankungen von untergeordneter Bedeutung
Medikamentenabhängigkeit: Entzugssyndrom
- Kriterium des Abhängigkeitssyndroms
- kann als eigenständige Diagnose vergeben werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind
- charakteristische Symptome (abhängig von der Art der konsumierten Substanz → Abbildung) nach der Reduktion oder dem vollständigen Absetzen
(relativer vs. vollständiger Entzug) - vorausgegangener langandauernder oder auch einmaliger Konsum hoher Substanzdosen
- Symptome sind nicht durch eine andere körperliche oder psychische Störung erklärbar
- charakteristische Symptome (abhängig von der Art der konsumierten Substanz → Abbildung) nach der Reduktion oder dem vollständigen Absetzen
- Kernsymptom sind Affektstörungen
- zusätzliche relativ kurzanhaltende Beschwerden über ca. eine Woche (z.B. Müdigkeit, psychomotorische Unruhe oder Verlangsamung, Craving, Appetitsteigerung, Schlafstörungen, heftige Träume)
- Entzugssymptome sind immer zeitlich begrenzt, wobei Beginn und Dauer von der Substanz abhängen (Halbwertzeit = Zeit, in der der Blutspiegel einer Substanz auf die Hälfte des Wertes der maximalen Konzentration abgesunken ist)
- bei Opioidentzug bereits wenige Stunden nach der letzten Einnahme erste Entzugssymptome, Intensitätsmaximum innerhalb von drei Tagen, Abklingen nach 1 - 2 Wochen
- bei Benzodiazepinentzug innerhalb von 24h bei Präparaten mit kurzer HWZ, ansonsten erst nach vier bis sieben Tagen, Intensität eher fluktuierend (sensomotorische Symptome erreichen das Maximum frühre, gastrointestinale später) und abhängig von Entzugsregime (abrupter Entzug führt zu intensiveren Symptomen als graduierter Entzug), Abklingen erst nach 4 - 6 Wochen (bei 10-15% noch länger; “prolongiertes Entzugssyndrom”)
- kein charakteristisches Symptombild für Halluzinogenentzug
- neben den typischen Symptomen auch psychische und kognitive Symptome (Ängste, Konzentrationsprobleme), somatische Beschwerden (Mundtrockenheit) und Perzeptionsstörungen (Überempfindlichkeit, Kribbeln)
- i.d.R. Verstärkung der Beschwerden, die ursprünglich zur Einnahme führten
Medikamentenabhängigkeit: Epidemiologie - Konsum psychotroper Medikamente
- letzte Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen inkl. Antidepressiva, Neuroleptika und Anabolika aus dem Jahr 2012
- 18 - 64 Jahre: 20,3% (m) und 26,4% (w)
min. 1x pro Woche Konsum psychoaktiver Substanzen - 50 - 59 Jahre: 23,3% (m) und 31,6% (w)
- 9,2% berichteten einen als problematisch einzuordnenden, täglichen Konsum innerhalb der letzten 30 Tage (Anstieg um 1% zu früherer Erhebung; neue Beschaffungsmöglichkeiten)
- 18 - 64 Jahre: 20,3% (m) und 26,4% (w)
- in den letzten 30 Tagen täglich
- Schmerzmittel (4,2%)
- Beruhigungsmittel (1,2%)
- Schlafmittel (0,8%)
- Anregungsmittel (0,3%)
- Appetitzügler (0,1%)
- mit Ausnahme der letzten beiden Substanzgruppen höhere Prävalenzwerte für Frauen
- die meisten Befragten versuchen grundsätzlich ohne Medikamente auszukommen
- ein Fünftel beschreibt Medikamente als Mittel zur Lebensbewältigung
- insbesondere Frauen sahen sich außer Stande, den Tag ohne Medikamente zu bewältigen, fühlten sich ohne Medikamente nicht als vollwertiger Mensch und waren weniger geneigt auf Beruhigungs- und Schlafmittel zu verzichten
- bedeutsamer Zusammenhang zwischen Einstellung, Medikamente zur Lebensbewältigung einzusetzen und problematischem Konsum (Augustin et al., 2005)
Medikamentenabhängigkeit: Epidemiologie - Medikamentenabhängigkeit
- 12-Monatsprävalenz von Medikamentenmissbrauch und -abhängigkeit lag 2014 bei 2,1% in Deutschland
- Repräsentativbefragung 2012: 3,4% (18 - 64-Jährige)
- Prävalenzen eher unterschätzt, da besonders gefährdete Gruppe der 64+ nicht einbezogen wurde (diese erhalten die meisten Langzeitverordnungen von Psychopharmaka)
- Studie 1998: mehr als 2/3 der Benzodiazepin-Langzeit-Konsumenten aus Allgemeinarztpraxen verweigerten eine Medikationspause bzw. den Entzug
Medikamentenabhängigkeit: Epidemiologie - Entzugssyndrom
- Schwierigkeiten beim Entzug von Benzodiazepinen bei
50 - 80% der Langzeitkonsumenten (1 Jahr oder länger) - “sichere” Einnahmedauer kann nicht bestimmt werden, da einzelne Präparate sich unterscheiden
- Triazolam: nach 10 Tagen Entzugssymptome
- Diazepam: erst nach 6 Wochen
- man kann davon ausgehen, dass nach einer Einnahmedauer von 3 Monaten min. 25% der Patienten Entzugssymptome entwickeln
- Rate steigt auf 80% bei Einnahme von einem Jahr oder länger
- zur Prävention dürfen Sedativa/Hypnotika gemäß Arzneimittelrichtlinie nur bis max. 4 Wochen verordnet werden (alles darüber hinaus ist extra zu begründen)
Medikamentenabhängigkeit: Komorbidität
- viele komorbide Störungen
- als iatrogene Störung wird Medikamentenabhängigkeit durch Bemühung um Genesung von körperlichen und/oder psychischen Beschwerden ausgelöst
- langfristige Medikation kann außerdem weitere Störungen verursachen (z.B. Stürze nach Sedierung, Depression, kognitive Beeinträchtigungen)
- häufigste Komorbide Störungen bei Sedativa-/Hypnotikaabhängigkeit:
- Angststörungen (31 - 43%)
- Schlafstörungen (ca. 35%)
- hohe Komorbiditäten von Angst- und Schlafstörungen bei Benzodiazepinabhängigkeit nicht verwunderlich, da diese insb. zur Anxiolyse und Sedierung verordnet werden
- Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit (16 - 53%)
- Kreuzabhängigkeit und -toleranz (Effekte können ersetzt/gesteigert werden), wechselseitige Toleranzeffekte führen zu schneller Abhängigkeitsentwicklung, v.a. bei bereits bestehender Abhängigkeit ggü. einer der beiden Substanzen
- Depression (20 - 33%)
- Benzodiazepine sind bei Depression kontraindiziert, da sie eine Verstärkung der Symptomatik und Suizidtendenzen auslösen
- werden trotzdem verschrieben
- großer Teil komorbider Depressionen ist aber Folge des Substanzkonsums bzw. sekundär zur Abhängigkeit und weiteren Störungen
- Persönlichkeitsstörungen (53%)
- bei Opioidabhängigkeit stehen komorbide Schmerzstörungen im Vordergrund, aber auch eine erhöhte Rate komorbider Abhängigkeit von anderen psychotropen Medikamenten, insb. Benzodiazepinen, bei Depression und Angststörungen
Medikamentenabhängigkeit: Diagnostik
- Screening
-
Kurzfragebogen zum Medikamentengebrauch
- weitere Abklärung nötig, wenn mehr als 4 von 12 Items positiv beantwortet werden
-
Kurzfragebogen zum Medikamentengebrauch
- Diagnostische Interviews
- zur Verifizierung von Verdachtsdiagnosen
- gleichzeitige Diagnostik weiterer komorbider Störungen: SKID/SCID, DIPS
- Abhängigkeitsdiagnose im Vordergrund: Substance Abuse Modul des Composite Diagnostic Interviews (CIDI-SAM)
- erlaubt auch Aussagen über Beginn, Persistenz und Schweregrad
- berücksichtigt die drei Substanzgruppen Tabak/Nikotin, Alkohol und andere psychotrope Substanzen
- zur Verifizierung von Verdachtsdiagnosen
- Therapieverlauf/-planung
-
Trierer Inventar für Medikamentenabhängige erfasst suchtbezogene Erlebens- und Verhaltensweisen von bereits als medikamentenabhängig diagnostizierten Personen auf fünf Skalen
- negative Folgen des Konsums
- positive Folgen und Funktionalität
- süchtig auffälliger Konsum
- Medikamente als Lebenshilfe
- Absetzversuche und polyvalenter Konsum
- Substanzspezifische Symptomlisten zur Erfassung von Entzugsbeschwerden gibt es für Opioide und Sedativa/Hypnotika
- Skalen zur Erfassung von Angst und Depression sollten ebenfalls in der Eingangs- und Verlaufsdiagnostik eingesetzt werden, da hohe Ängstlichkeit und Depression den Entzugserfolg gefährden können und zusätzliche Behandlungsmaßnahmen erfordern
-
Trierer Inventar für Medikamentenabhängige erfasst suchtbezogene Erlebens- und Verhaltensweisen von bereits als medikamentenabhängig diagnostizierten Personen auf fünf Skalen
- Medizinisches Konsil
- vor Entzug müssen neben organischen Ursachen der beklagten Symptomatik auch die Notwendigkeit der Medikation und mögliche Komplikationen des Entzugs medizinisch abgeklärt werden
- von einem Entzug ist abzusehen, wenn die Substanz die einzige wirksame Behandlungsstrategie schwerwiegender körperlicher Erkrankungen darstellt (z.B. Benzodiazepine bei Epilepsie)
- konstitutionelle Faktoren des Patienten und entzugskomplizierende Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten (z.B. erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle bei abruptem Benzodiazepinentzug und paralleler Einnahme von Antipsychotika)
- Entzugssymptome sind nicht vital bedrohlich, können bei einzelnen, vorbelasteten Patienten aber durchaus zu einer deutlichen Verschlechterung der organischen Beschwerden führen
- vor Entzug müssen neben organischen Ursachen der beklagten Symptomatik auch die Notwendigkeit der Medikation und mögliche Komplikationen des Entzugs medizinisch abgeklärt werden
Medikamentenabhängigkeit: Störungskonzept - Forschungszweige
- zwei Forschungszweige zum Störungskonzept der Abhängigkeit
- Fokus auf biologischen Faktoren
- Forschung primär an Tieren
- trotz physiologischer Ähnlichkeiten bei Medikamentenwirkung spielen soziokulturelle Faktoren bei Menschen eine wesentliche Rolle
- Menschen können erst retrospektiv (nach Eintritt der Abhängigkeit) untersucht werden, deshalb oft nicht unterscheidbar, welche Merkmale vorher vorhanden waren und als Auslöser in Frage kommen und welche erst mit der Abhängigkeit entstanden sind
- Fokus auf psychologischen Faktoren
- Fokus auf biologischen Faktoren
- Langzeit- und Kohortenstudien sollten zukünftig vermehrt zur Klärung der prämorbiden Merkmale beitragen
- Therapeuten sollten ein grundlegendes Verständnis der biologischen Wirkung von Medikamenten und Mechanismen der Abhängigkeit besitzen, die sie den Patienten als Erklärungsmodell vermitteln können
Medikamentenabhängigkeit: Physiologische Wirkweise psychoaktiver Substanzen
- wirken auf Neurotransmittersysteme des Gehirns
- hemmen/stimulieren Aktivität und verändern so die Weiterleitung von Signalen zwischen den Nervenzellen
- Neurotransmittersysteme beeinflussen sich gegenseitig und stehen auch mit den Hormonsystemen der autonom-vegetativen Aktivierung in Verbindung, wodurch ein genereller Einfluss psychoaktiver Substanzen entsteht
- Befindlichkeitsveränderungen (z.B. Beruhigung) mit verlangsamten kognitiven Verarbeitungsprozessen und längeren Reaktionszeiten gekoppelt
- viele Hirnareale weisen eine Anhäufung bestimmter Rezeptortypen auf und bedienen sich so bevorzugt eines Neurotransmitters; manche Medikamente wirken spezifisch auf einen oder wenige Rezeptortypen und beeinflussen somit am stärksten die Funktionen der jeweiligen Areale
- unmittelbare Wirkung gut erforscht, aber noch viel Unklarheit über Veränderungen hirnphysiologischer Prozesse durch Langzeiteinnahmen
-
Sedativa
- Barbiturate: blockieren Neurotransmissionsprozesse in der Formatio Reticularis, die eine unspezifisch aktivierende Wirkung auf die Hirnrinde hat, und haben damit eine stark sedierende Wirkung, bei erhöhter Dosis auch auf lebenswichtige Prozesse wie Atmung → Gefahr der zufälligen oder absichtlichen Selbsttötung; Schmerzwahrnehmung bleibt ungedämpft → Schmerzen werden noch bis zur Erreichung des Komas empfunden
- Benzodiazepine: wirken über GABA-Rezeptoren (Gamma-Aminobuttersäure) und verstärken die hemmende Wirkung des Neurotransmitters, somit wirken sie auf alle Areale des GABAergen Systems (20-40% aller Neuronen sondern GABA ab, ist in vielen Arealen verbreitet, daher Wirkung auf limbisches System, Cerebellum, Basalganglien, Formatio reticularis und Hippocampus mit den entsprechenden Folgen Angstlösung, Muskelentspannung, antikonvulsiver Wirkung, Beruhigung und Gedächtnisstörungen)
- für Toleranz und Entzugssymptome nach Beendigung der Langzeiteinnahme von Benzodiazepinen werden zwei Prozesse verantwortlich gemacht:
- Reduktion oder Einstellung der körpereigenen Produktion hemmender Substanzen
- Veränderungen der Rezeptorsensibilität (werden empfindlicher)
- nach Beendigung der Einnahme wird körpereigene Produktion hochgefahren und Rezeptorempfindlichkeiten hinunterreguliert, beides erfordert Zeit → Entzugssymptomatik
- Opioide
- Opiatrezeptoren im Gehirn lassen darauf schließen, dass es körpereigene (endogene) Substanzen mit ähnlicher molekularer Struktur gibt → Endorphine wie Enkephalin = körpereigenes Schmerzmittel mit hoher Rezeptordichte im Rückenmark, subkortikalen Kernen (Atemregulation, Hustenreflex), im limbischen System und in der Hirnrinde (stimmungsaufhellende und bewusstseinsverändernde Wirkung)
- langfristige Einnahme führt zu Toleranz und Beendigung zu Schmerzsymptomatik
- v.a. Rückgang endogener (körpereigener) Schmerzmittel (Endorphine) verantwortlich
- Stimulanzien
- Amphetamin hat durch Freisetzung von Katecholaminen (v.a. Noradrenalin, Dopamin) eine anregende Wirkung auf das gesamte Nervensystem
- stimuliert Formatio reticularis, die unspezifisch exzitatorische Impulse an die Hirnrinde sendet
- spezifisch anregende Wirkung auf das Atemzentrum und Bereiche des Hypothalamus, die das Hungergefühl regulieren
- führt zu Steigerung von Aufmerksamkeit, stimmung und Selbstvertrauen, erhöhter motorischer Aktivität und Sprechverhalten
- aktiviert Nucleus accumbens (Belohnung)
- hohe Dosis kann psychotische Symptome verursachen
- Amphetamin hat durch Freisetzung von Katecholaminen (v.a. Noradrenalin, Dopamin) eine anregende Wirkung auf das gesamte Nervensystem
Medikamentenabhängigkeit: Modelle
- im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung können unterschiedliche Faktoren entscheidend sein, wahrscheinlich sind anfänglich soziokulturelle Faktoren (z.B. Akzeptanz von Medikamenten) entscheidend, gefolgt von Lernerfahrungen (z.B. verstärkende Wirkung durch Linderung) bis schließlich die körperliche Abhängigkeit die Einnahme aufrecht erhält
- vier Erklärungsansätze
- soziokulturelle Faktoren
- internationale Unterschiede bzgl. Verordnungsgewohnheiten von Ärzten (Tranquilizer in Deutschland, Spanien, Belgien und England häufiger verordnet)
- Unterschiede in der Akzeptanz von Medikamenten bei psychischen Problemen zwischen verschiedenen sozioökonomischen Schichten (untere eher Medis, mittlere eher Psychotherapie)
- Geschlechtsunterschiede (Frauen eher als Männer) und Alterseffekt (nimmt im Alter zu)
- Persönlichkeitsmodelle
- interindividuelle Unterschiede darin, wie schnell Abhängigkeit einsetzt (Vulnerabilität)
- diskutierte “Suchtpersönlichkeit” (ängstlich, depressiv, impulsiv, antosoziale Tendenzen) bisher nicht empirisch belegt
- Lernerfahrung
- Verstärkung durch Linderung aversiver Zustände: Missbrauch und Abhängigkeit als Form der Selbstmedikation, durch die die Vermeidung aversiver Zustände gelernt wird
- Belohnungsschaltkreise im Gehirn reagieren spezifisch auf Stimulation (v.a. mesolimbischer Schaltkreis mit Ncl. Accumbens), nicht nur durch Substanzen, sondern auch durch Tätigkeiten aktivierbar (z.B. Kuscheln, Musik)
- Assoziatives Lernen: situative Faktoren spielen bei Suchtentwicklung eine große Rolle (klassische Konditionierung), z.B. durch Aufforderungscharakter bestimmter Umgebungen oder Teilreize (z.B. Getränk), die Cravingreaktion auslösen; Studien zeigen sogar Bedeutung der Umgebung für Toleranz (höhere Toleranz in gewohnter Umgebung)
- genetische Faktoren
- noch keine schlüssigen Befunde außer zu Alkoholismus (genetische Disposition safe)
- soziokulturelle Faktoren
Medikamentenabhängigkeit: Therapeutisches Vorgehen
- klassische Unterteilung von Entzugs- und Entwöhnungsphase ist nur bedingt auf den Bereich der Medikamentenabhängigkeit übertragbar
- Entzug = Behandlungsfokus auf Vermeidung von körperlichen Komplikationen
- Entwöhnung = Psychotherapeutische Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Abstinenz
- gehen bei der Behandlung von iatrogen angestoßenen Abhänigkeiten ineinander über
- Abhängigkeit ist nur in seltenen Fällen der primäre Grund für die Konsultation, deshalb müssen alternative Bewältigungsstrategien zum Medikament als “einzige Hilfe” gegen die Beschwerden vermittelt werden
- drei zentrale Ansatzpunkte/Behandlungsziele:
- Entzug der abhängigkeitsverursachenden Substanz
- Vermittlung von nicht-medikamentösen Bewältigungsstrategien im Umgang mit akuten Entzugssymptomen
- Behandlung psychischer/somatopsychischer Probleme, die im Zusammenhang mit der Medikamenteneinnahme stehen (z.B. Schmerzen, Ängste, Schlafstörungen, Unruhe)
- Entzug ist nicht nur bei Abhängigkeit indiziert, sondern auch zur Prävention und zur Erzielung des optimalen Behandlungserfolgs
- “Zustandsabhängiges Lernen” , das die Generalisierung neu erlernter Bewältigungsstrategien auf die Zeit nach dem Absetzen erschwert und Fehlattributionen der erzielten Behandlungsfortschritte auf Medikationseffekte sprechen für den Entzug der Medikamente vor Beginn einer verhaltenstherapeutischen Behandlung von Angststörungen und Depression
- Patienten profitieren weniger von Therapie bei Angststörungen, wenn weiterhin Benzodiazepine eingenommen werden