Panikstörung und Agoraphobie Flashcards
Panikstörung
Hauptmerkmal:
Zeitlich umgrenzte Episoden akuter Angst
Plötzliches und z.T. als spontan erlebtes Einsetzen unangenehmer Symptome
(spontan = keine offensichtlichen Auslöser)
DSM: “Eine Panikattacke ist eine klar abgrenzbare Episode intensiver Angst und Unbehagens, bei der mindestens 4 der nachfolgend genannten Symptome abrupt auftreten und innerhalb von 10 Minuten einen Höhepunkt erreichen.”
- Palpitationen (Herzrasen), Herzklopfen oder beschleunigter Herzschlag
- Schwitzen
- Zittern oder Beben
- Gefühl der Kurzatmigkeit oder Atemnot
- Erstickungsgefühle
- Schmerzen oder Beklemmungsgefühle in der Brust
- Übelkeit oder Magen-Darm-Beschwerden
- Schwindel, Unsicherheit, Benommenheit oder der Ohnmacht nahe sein
- Derealisation (Gefühl der Unwirklichkeit) oder Depersonalisation (sich losgelöst fühlen)
- Angst, die Kontrolle zu verlieren oder verrückt zu werden
- Angst zu sterben (Todesangst)
- Parästhesien (Taubheiten)
- Anfalldauer ca. 30min, Gipfel max. nach 10min
- min. 4 von 13 körperlichen und kognitiven Symptomen
- min. 4 erreichen innerhalb von Minuten einen Gipfel (“anfallsartiger Charaker”)
- keine Folge von Substanzen oder medizinischen Krankheitsfaktoren
- nicht besser durch andere psych. Störung erklärbar
- min. ein Panikanfall, im Anschluss über einen Monat oder länger min. ein Symptom von:
- anhaltende Sorgen über das Auftreten weiterer Panikanfälle oder ihrer Konsequenzen
- deutlich fehlangepasste Verhaltensänderung (z.B. Vermeidungsverhalten)
- Wenn Vermeidungsverhalten: “Panikstörung mit Agoraphobie”
- Differentialdiagnose: Vocal Cord Dysfunction (VCD; Stimmritzenkrampf, akut einsetzende Verkrampfung der Stimmbänder mit Atemnot und Todesangst)
- Panikattacken gar nicht so selten in Bevölkerung (15-20%), Panikstörung sehr selten (3-5%); Unterschied = häufigere Attacken, zwischendurch Sorge vor weiteren Attacken
- Kinder von Personen mit Panikstörung tragen hohes Risiko für Ausbildung der Störung
Agoraphobie
Ausgeprägtes Vermeidungsverhalten mit massiver Beeinträchtigung der Lebensführung
Vermeidung von Orten, die im Falle einer Panikattake nur schwer zu verlassen wären (oder es sehr peinlich wäre) oder keine Hilfe zur Verfügung stünde, z.B.:
- öffentliche Orte und Menschenansammlungen
- Autofahren
- Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln
- Fahrstühle
- Schlange stehen
- Einkauf in Kaufhäusern oder Supermärkten
- Besuch von Kinos, Theatern oder Gaststätten
- Alleinsein
Begleitung oder Sicherheitssignale helfen (z.B. Dabeihaben von Medikamenten, Telefonnummer des Arztes oder Entspannungsformeln)
Wenn keine Panikanfälle in den gefürchteten Situationen auftreten: “Agoraphobie ohne Panikstörung”
ICD 10
Das Vorliegen oder Fehlen einer Panikstörung (F41.0) in der Mehrzahl der agoraphobischen Situationen kann nach ICD mit der fünften Stelle angegeben werden.
F40.0 Agoraphobie.00 ohne Panikstörung
.01 mit Panikstörung
Für F40.00 kann der Schweregrad nach dem Ausmaß der Vermeidung angegeben werden, unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Bedingungen. Für F40.01 gibt die Zahl der Panikattacken den Schweregrad an.
F41.0 Panikstörung (episodisch paroxysmale Angst)
.00 mittelgradig
.01 schwer
F40.0: Agoraphobie nach ICD-10
= eine relativ gut definierte Gruppe von Phobien mit Befürchtungen das Haus zu verlassen, Geschäfte zu betreten, in Menschenmengen und auf öffentlichen Plätzen zu sein, alleine mit Bahn, Bus oder Flugzeug zu reisen.
- Zusätzlich meistens Panikstörung (wird mit der fünften Stelle angegeben: F40.01), aber auch oft depressive und zwanghafte Symptome sowie soziale Phobie.
- Vermeidung steht im Vordergrund
- Ausmaß der Vermeidung bestimmt den Schweregrad; kommt Panikstörung hinzu, bestimmt die Zahl der Panikattacken den Schweregrad)
- Durch Vermeidungsverhalten oft nur wenig Angsterleben bei Agoraphobikern
Diagnostische Kriterien Agoraphobie
A Deutliche und anhaltende Furcht vor oder Vermeidung von mindestens zwei der folgenden Situatuonen
- Menschenmengen
- Öffentliche Plätze
- Alleine reisen
- Reisen mit weiter Entfernung von Zuhause
B min. 2 Angstsymptome müssen in den gefürchteten Situationen seit Auftreten der Störung mindestens zu einem Zeitpunkt gemeinsam vorhanden gewesen sein
- Vegetative Symptome (Herzklopfen, Schweißausbrüche)
- Thorax und Abdomen (Atembeschwerden, Thoraxschmerzen) Psychische Symptome (Schwächegefühl, Angst zu sterben oder verrückt zu werden)
- Allgemeine Symptome (Hitzewallungen, Kälteschauer)
C Deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome; die Betroffenen haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind
D Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder Gedanken an diese
E Ausschlussvorbehalt: Die Symptome des Kriteriums A sind nicht bedingt durch Wahn, Halluzinationen oder andere Symptome der Störungsgruppe organische psychische Störungen (F0), Schizophrenie (F2), affektive Störungen (F3) oder eine Zwangsstörung (F42) oder sind nicht die Folge von kulturell akzeptierten Anschauungen.
Lebenszeitprävalenz
Panikstörung: 0,5 - 4,7% (Median 2,1%)
Agoraphobie: 0,9 - 7,8% (Median 2,3%)
Frauen sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer; je stärker die phobische Komponente, umso höher der Frauenanteil
Komorbidität und Störungsbeginn
hohe Komorbidität mit anderen Angststörungen, Depressionen, somatoformen Störungen und Abhängigkeitsstörungen
nur 14,2% keine Komorbidität
unbehandelte Panikstörung: 71,4% affektive Störung, 28,6% Medikamentenabusus, 50% Alkoholabusus
Panikstörung: Beginn meist im jungen Erwachsenenalter
(Mitte 20)
Agoraphobie (mit und ohne Panikstörung): in manchen Studien einige Jahre später, meistens simultan zur Panikstörung
große Streuungen des Beginns, bei Männern 2. Gipfel des Erstauftretens von Panikanfällen ab dem 40. Lebensjahr
Verlauf
- ungünstig
- nur 14,3% Spontanremission nach 7 Jahren
- häufig Folgeprobleme (affektive Störungen, Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch)
- starke psychosoziale Beeinträchtigung
- hohes Inanspruchnahmeverhalten bzgl. des Gesundheitssystems
- gehäuft schwerwiegende Lebensereignisse kurz vor Beginn der Panikstörung (80% der Patienten), meist mehr als ein Ereignis (Tod, plötzliche schwere Erkrankung oder akute Gefahr des Patienten, von Angehörigen oder Freunden, Schwangerschaft, Geburt)
- über 90% der ersten Panikanfälle an einem öffentlichen Ort
Risikofaktoren Panikstörung
- Geschlecht (weiblich)
- Lebensalter (Mitte 20, Männer auch 40+)
- Lebensereignisse (Tod, Erkrankung, akute Gefahr, Schwangerschaft, Geburt)
- Familienstand (häufig nach Verlust durch Trennung, Scheidung oder Tod)
Diagnostik
Gespräch, Fragebögen, Tagebücher, Hyperventilationstests
- Zentrale Befürchtung
- zentrale Befürchtungen erfragen
- typisch für Panikstörung: Furcht vor einer unmittelbar drohenden körperlichen oder geistigen Katastrophe
- Panikattaken in anderen Zusammenhängen betreffen eher Peinlichkeit/Blamage (soziale Phobie), direkt vom phobischen Objekt ausgehende Gefahren (spezifische Phobie) oder Kontamination/mangelnde Verantwortlichkeit (Zwangsstörungen)
- Komorbidität
- Abfolge des Auftretens der Störungen (z.B. Depression, Abusus)
- mögliche funktionale Beziehungen der Störungen untereinander
- manchmal ist eine direkte Behandlung der komorbiden Störungen unabhängig von der Angstproblematik erforderlich (z.B. wenn Panikanfälle nur in Phasen schwerer Depression auftreten)
- strukturierte Interviews haben sich in diesem Stadium des diagnostischen Prozesses als hilfreich erwiesen
- Somatische Differenzialdiagnose
- genaue Erhebung der eingenommenen Medikamente
- sorgfältige organische Differenzialdiagnose (viele der körperlichen Symptome können auch durch organische Erkrankungen verursacht werden)
- Problemanalyse
- Bedingungen, die die Ängste auslösen, verschlimmern, verringern und aufrechterhalten
- Hilfesuchendes Verhalten
- Bisherige Behandlungsversuche
- Bewältigungsstrategien
- Erklärung des Patienten für sein Problem
Wichtig: Konfrontationsverfahren sind bei Agoraphobien unabhängig vom Ergebnis der Problemanalyse indiziert! (anders als traditionelles verhaltenstherapeutisches Vorgehen, bei dem Problemanalyse Grundlage für Therapieplanung ist)
Das psychophysiologische Modell der Panikstörung
Panikreaktion = besonders intensive Form der Angst, die sich qualitativ nicht von anderen Angstreaktionen unterscheidet
Panikanfälle entstehen durch positive Rückkopplung zwischen körperlichen Symptomen, deren Assoziation mit Gefahr und der daraus resultierenden Angstreaktion
positive Rückkopplung = Aufschaukelungsprozess; psychophysiologischer Teufelskreis, läuft sehr schnell ab und kann mehrmals durchlaufen werden
- Physiologische oder psychische Veränderung (durch interne oder externe Einflussfaktoren, z.B. Hitze, Koffein, Anstrengung, Erregung)
- Wahrnehmung dieser Veränderung
- Assoziation mit Gefahr
- Angst bzw. Panik
- Weitere physiologische Veränderungen, körperliche und/oder kognitive Symptome
- Wahrnehmung
- Assoziation mit Gefahr
- Steigerung der Angst
Psychophysiologisches Modell: Reduktion der Angst
- durch die wahrgenommene Verfügbarkeit von Bewältigungsmöglichkeiten (z.B. hilfesuchendes Verhalten, Vermeidungsverhalten, flache Atmung, Ablenkung, Reattribution von Körperempfindungen)
- durch automatisch einsetzende negative Rückkopplungsprozesse (z.B. Habituation, Ermüdung)
Psychophysiologisches Modell: Einflussgrößen auf den Aufschaukelungsprozess
Kurzfristig: momentane psychische und körperliche Zustände, momentane situative Faktoren
Längerfristig:
- Überdauernde situative Einflüsse
- Individuelle Prädispositionen (vor dem ersten Panikanfall, aber auch im Laufe der Störung entwickelte wie z.B. Aufmerksamkeitszuwendung auf Gefahrenreize, Interozeptionsfähigkeit)
- Sorge/Angst vor weiteren Panikanfällen
- Individuelle Lerngeschichte
- Kognitiver Stil
- Physiologische Dispositionen (z.B. erhöhte Sensitivität der α2-adrenergen Rezeptoren oder mangelnde körperliche Fitness)
False Alarm Theory: bei hoher allgemeiner Anspannung reichen schon “alltägliche” Stressoren zum Überschreiten der Schwelle für Panikanfälle, während bei niedriger allgemeiner Anspannung “große” Stressoren nötig sind -> erklärt auch, warum die erste Panikattacke meist in stressigen Lebensphasen auftritt
Das kognitiv-verhaltenstherapeutische Konzept der Agoraphobie
Zwei-Faktoren-Theorie:
- Ursprünglich neutrale Reize werden aufgrund traumatischer Ereignisse mit einem zentralen motivationalen Angstzustand assoziiert (klassische Konditionierung)
- Die darauf folgende Vermeidung dieser Reize wird durch den Abbau des unangenehmen Zustandes verstärkt (operante Konditionierung)
Empirisch umstritten, hauptsächlich tierexperimentell belegt, Übertragbarkeit fraglich
Weitere Theorien:
- Einfache vs. komplexe Agoraphobie: Angst vor der phobischen Situation vs. Angst vor den Konsequenzen der Angst
- Agoraphobie = “Angst vor der Angst”, daher Vermeidung; moderne Variante der Zwei-Faktoren-Theorie von Mowrer
- Hohe subjektive Vulnerabilitätseinschätzungen, dysfunktionale Kognitionen (in Kindheit erworben; Beck-Modell) und hohe Angstsensitivität: Interpretation körperlicher Empfindungen als Hinweis auf Bedrohung oder Krankheit löst Angstreaktion aus
- Interozeptives Konditionieren: Körperliche Empfindungen wie schneller Herzschlag werden zu konditionierenden Reizen für Panikanfälle, mit denen durch Konditionierung höherer Ordnung wiederum externe Situationen assoziiert werden (die dann vermieden werden)
- Defizite im Extinktionslernen: Verzögerte oder verringerte Extinktion konditionierter Angstreize bei Agoraphobikern
Evidenzebenen
Ia: Evidenz aus einer Metaanalyse von mindestens 3 randomisierten kontrollierten Studien (randomized controlled trials; RCT)
Ib: Evidenz aus einer randomisierten kontrollierten Studie oder einer Metaanalyse von weniger als 3 RCT
IIa: Evidenz aus zumindest einer methodisch gut kontrollierten Studie ohne Randomisierung
IIb: Evidenz aus zumindest einer methodisch guten, quasi-experimentellen deskriptiven Studie
III: Evidenz aus methodisch guten, nicht-experimentellen Beobachtungsstudien (z.B. Vergleichsstudien, Korrelationsstudien, Fallstudien)
IV: Evidenz aus Berichten von Expertenkomitees oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten