Sitzung 11: Psychische Störungen im Beginn in der Kindheit am Beispiel der Bindungsstörung Flashcards
Bindung: Definition nach Bowlby: Internes Arbeitsmodell
Bindung ist eine mentale Repräsentation der primären Bezugsperson, erkennbar an der äußeren Reaktion des Kindes bei (drohendem) Verlust oder Trennung von der primären Bezugsperson
Bindung: Definition: quasi-instinktives Verhaltenssystem
Bindungsverhalten des Säuglings (“attachment”) und elterliche Fürsorgeverhalten (“bonding”) als grundsätzliche Ausstattung für die emotionale Verbundenheit
Erwerb einer Bindung als zentrale Entwicklungsaufgabe im ersten Lebensjahr
- Gefühl für das Selbst: Entwicklung eines Gefühls für das eigene Selbst sowie eines grundlegenden Verständnisses der Welt und andere Menschen
- Aufbau von Erwartungen: wie sich primäre Bezugspersonen verhalten und was in neuen Situationen mit fremden Menschen passiert
- neue Situationen: frühe Bindungserfahrungen bestimmen, wie ein Kind neuen Situationen gegenübertritt -> um Bindungsverfassung zu sehen Verhalten des Kindes in neuen Situationen anschauen
Bindungsentwicklung in der Eltern-Kind-Beziehung
- zunehmende Fokussierung des Kindes auf die Bezugsperson
- Entstehung einer spezifischen emotionalen Beziehung vor allem in Phase 3 und 4 (Im Alter von ca. zwei Jahren)
- Kind entwickelt immer differenziertere Verhaltensweisen zur Herstellung von Nähe zur Bezugsperson
Bindungsentwicklung in der Eltern-Kind-Beziehung: Bindungsphasen und -entwicklung
- Phase: Das Kind zeigt gegenüber jeder beliebigen Person Bindungsverhalten
- Phase: Das Kind richtet seine Signale immer stärker an die Person, die es hauptsächlich versorgt
- Phase: Das Verhaltensrepertoire erweitert sich (z.B.: weggehender Mutter folgen), die Bindung an spezifische Bezugspersonen zeigt sich deutlich
- Phase: eine innere Vorstellung von Bindung entsteht
Bindungsstile nach M. Ainsworth
Typ A: Unsicher-vermeidende Bindung: Kind kann sich nicht auf die Bezugsperson (BP) verlassen, sucht nur in gefährlichen Situationen die BP auf -> häufiger Bindungstyp
Typ B: Sichere Bindung: BP erkennt die Bedürfnisse der Kindes und ist die sichere Basis -> Kind erforscht die Umwelt aktiv = günstige Bindung
Typ C: Unsicher-ambivalente Bindung: BP verhält sich sehr ambivalent, Kind dann auch, einmal sucht es Bindung und dann wieder nicht -> kommt auch oft vor
Typ D: Desorganisierte/ desorientierte Bindung: Bindungsmuster entsteht aufgrund widersprüchlicher Bindungserfahrungen, da BP Dinge tut, die dem Kind Angst machen. Kind zeigt widersprüchliches Verhalten von Annäherung und Vermeidung -> kommt weniger häufig vor
Bindungstyp vs. Bindungsstörungen
- Bindungstypen:
a) Bindungstyp ≠ Bindungsstörung
b) Entwicklungspsychologische Typologie: Bindungstypen sind nicht die Eigenschaften des Kindes, sondern die Eigenschaften der Bindung, die das Kind zu einer bestimmte BP hat
c) unischere Bindungstypen sind relativ häufig
d) Ein Kind kann zu ver. Personen unterschiedliche Bindungen aufweisen - Bindungsstörung:
a) Qualitative Einheit gestörter Interaktionen und Kontaktaufnahmen seitens des Kindes
b) Tritt bei Kleinkindern und jungen Kindern auf
c) Anhaltende Auffälligkeit im Muster der sozialen Beziehungen v.a. zu Betreuungspersonen
d) Muss sich vor dem Alter von 5 Jahren entwickeln
e) Bindungsstörungen eher selten, meist emotionale Störungen begleitend
f) Bindungsstörungen zeigen sich im Umgang mit allen Personen und in allen sozialen Beziehungen - bestimmte Bindungstypen können jedoch die Entstehung von bestimmten Bindungsstörungen (und psychischen Störungen allgemein) begünstigen
Raktive vs. Enthemmte Bindungsstörung
2 Typen nach ICD-10
1. Reaktiv (F94.1):
unmittelbare Auswirkungen von Deprivationsbedingungen (Deprivation als Ursache muss vorliegen!) mit Betonung des sozialen Rückzugs und Fokus auf Kleinkindalter (jüngere Kinder)
- Enthemmt (F.94.2):
a) weitreichende Auswirkungen von Heimunterbringung und multiplen Pflegeschaften beim älteren Kind im Vordergrund, das unselektiv und oberflächliche Bindungen sucht -> Kind sucht unangemessene soziale Nähe zu jeder Person
b) aus Studien von Kindern mit Institutionalisierung:
1/3 zeigen enthemmte Bindungsstörungen, wobei die Länge der Institutionalisierung im ursächlichen Zusammenhang der Störung steht
Ätiologie der Bindungsstörung
- eine der wenigen Störungen, in denen bereit in der Kriterien Hinweis auf die Ursache enthalten ist:
- Deprivation = Wegfall notwendiger emotionaler Zuwendung und/ oder mangelnde Befriedigung von Grundbedürfnissen, i.d.R. von primären Bezugspersonen verursacht (schließt auch Misshandlung ein)
- bei der Deprivation fehlt dem Kind eine emotional und sozial-kognitiv anregende Umwelt
- mögliche Störung ist eine “frühkindliche Gedeihstörung”: nicht nur seelische, sondern auch körperliche Entwicklung beeinträchtigt
- Alter des Kindes beim einsetzten der Deprivation spielt eine Rolle:
a) je früher der Beginn, desto ausgeprägter die psychische Problematik
b) besonders wichtig: konnte das Kind vor Einsetzen der Deprivation bereits eine Bindung erwerben? (“sensible Phase”) - Auch die Form und Intensität der Deprivation ist bedeutsam
Sichtweisen elterlicher Deprivation: Beck, Freud, Erikson & Skinner
- Beck: “Das Kind entwickelt dysfunktionale Schemata über Beziehungen”
- Erikson:” Es entwickelt sich kein Urvertrauen”
- Skinner: “Mangel an Verstärkung behindert die Entwicklung von Fertigkeiten”
- Freud: “Fixierung in der oralen Phase”
Epidemiologie der Bindungsstörung
- gehäuft in Indtitutionen, in denen Kinder zeitweise oder dauerhaft untergebracht sind oder auch bei Pflegekindern
- in der Gesamtpopulation sind Bindungsstörungen im Vergleich zu anderen psychischen Störungen eher selten
- ca. 1% (aber meist Bindungsstörung mit Enthemmung)
Verlauf und Prognose von Bindungsstörungen
- Verlauf ist bisher kaum untersucht
- allgemein anhaltende Beeinträchtigungen im Erleben und Verhalten: vermutlich durch dysfunktionale emotionale Erregung und unangemessene Emotionsregulation
- manchen Kinder zeigen erstaunliche Widerstandskraft gegenüber sehr aversiven Erfahrungen (aber immer seltener bei zunehmender Intensität der Deprivation)
Was kann man tun?: Schritte bei bereits vorliegender Problematik
- sicheres und stabiles Umfeld schaffen:
a) Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe
b) Sozial-/pädagogische Hilfen
c) Einschränkungen der elterlichen Sorge, falls notwendig: Fremdunterbringung, Förderung eines bindungsstabilen Umfelds
d) Gesellschaftliche Maßnahmen: z.B.: Gesetz zur gewaltfreien Erziehung
e) Elterntrainings
Formen der Kindesmisshandlung
- Physische Misshandlung: gewaltsame Handlungen, die zu Verletzungen führen
- Vernachlässigung: mangelhafte Pflege, Ernährung, Beaufsichtigung, Schutz, Anregung oder Förderung
- Psychische/Emotionale Misshandlung: Handlungen oder Unterlassungen, die Kinder bedrohen, ängstigen und/oder in Entwicklung ihres Selbstwerts behindern; Ablehnung, Demütigung, Isolation, Terrorisierung, Ignorierung, Korrumption
- Sexuelle Misshandlung:
a) Beteiligung von Kindern an sexuellen Aktivitäten Erwachsener;
b) Abgrenzung zur sex. Interaktion bei 5-jährigem Altersunterschied, wenn einer der Beteiligten unter 12 Jahren ist oder bei Unerwünschtheit der sexuellen Interaktion - Bezeugung Partnerschaftlicher Gewalt (Intimate Partner Violence IPV)
Formen der emotionalen Kindesmisshandlung
- Missachten:
a) Erniedrigen & Beschämen
b) verächtlich machen - Terrorisieren:
a) lebensbedrohliche Handlungen begehen
b) das Gefühl noch Unsicherheit vermitteln
c) Unrealistische Erwartungen mit Bedrohung von Verlust
d) Verletzung oder Gefahr bei Nichterfüllung - Ausbeutung oder Bestechung zur Ermutigung unangemessenen Verhalten (z.B.: zum Stehlen)
- Verleugnung emotionaler Zuwendung
- Vernachlässigung der seelischen oder körperlichen Gesundheit
- Beobachtung von intimer Gewalt