Leiturteile des BVerfG Flashcards

1
Q

Elfes (BVerfGE 6, 32)

A

Das BVerfG stellte in dieser Grundsatzentscheidung fest, dass Art. 2 Abs. 1 GG die Handlungsfreiheit in einem umfassenden Sinne schützt. Anderer Ansicht war bis dahin die sog. Kernbereichslehre. Nach dieser Entscheidung umfasst die verfassungsmäßige Ordnung i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG die gesamte formell und materiell verfassungsgemäße Rechtsordnung. Die Ausreisefreiheit wird nicht durch Art. 11 GG, sondern durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet.

Weiterhin wurde entschieden, dass sich das BVerfG im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde für berechtigt (nicht aber verpflichtet) hält, auch Verstöße gegen objektives Verfassungsrecht zu überprüfen, da in der Anwendung einer verfassungswidrigen Vorschrift stets auch eine unzulässige Beschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit gesehen werden kann.

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2
Q

Lüth (BVerfGE 7, 198)

A

Das BVerfG entwickelte im Lüth-Urteil die Lehre von der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte. Die Grundrechte sind danach in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat und daher nicht unmittelbar zwischen Privaten zu beachten (anders bis dato und auch noch später das von Nipperdey geprägte BAG). Sie sind aber bei der Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts insofern zu berücksichtigen, als sie (im Kernbereich) Ausdruck einer objektiven Wertentscheidung sind. Somit haben sie vor allem im Hinblick auf die Generalklauseln des Zivilrechts (§§ 138, 242, 823, 826, 1004 BGB) eine Ausstrahlungswirkung.

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3
Q

Apotheken-Urteil (BVerfGE 7, 377)

A

Es handelt sich bei dieser Entscheidung um das Leiturteil zur sog. Drei-Stufen-Lehre. Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Berufswahl- und die Berufsausübungsfreiheit. Diese Freiheiten sind in unterschiedlichem Maße geschützt. Das BVerfG entwickelte ein dreistufiges Modell:

  • Eingriffe in die Berufsausübung sind aus vernünftigen Gemeinwohlerwägungen zulässig.
  • Eingriffe in die Berufswahlfreiheit, die an subjektive Merkmale des Grundrechtsträgers anknüpfen, sind nur zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter zulässig.
  • Eine Einschränkung der Berufswahlfreiheit, die an objektive Merkmale anknüpft, ist nur zum Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter zulässig. Anerkannt hat das BVerfG insofern zum Beispiel die Volksgesundheit und das Recht auf Leben.

Hinter dieser Formel verbirgt sich letztlich nur eine „Grobrasterung“ der Verhältnismäßigkeitsprüfung; die Grenzen zwischen den Stufen sind daher fließend.

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4
Q

Hamburger Deiche-Fall (BVerfGE 24, 367)

A

Das BVerfG beschäftigte sich in der Entscheidung mit der Reichweite der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG). Die Stadt Hamburg hatte infolge der Springflut 1962 Grundstücke unmittelbar durch Gesetz enteignet, um Deiche errichten zu können. Das Gericht befand: Die Garantie des Eigentums als Rechtseinrichtung diene der Sicherung des Eigentumsgrundrechts. Diese Institutsgarantie verbiete, solche Sachbereiche der Privatrechtsordnung zu entziehen, die zum elementaren Bestand grundrechtlich geschützter Betätigung im vermögensrechtlichen Bereich gehören. Ein den Bestand, nicht nur den Wert des Eigentums sichernder Rechtsschutz ist ein wesentliches Element der Eigentumsgarantie. Die Enteignung durch Gesetz (Legalenteignung) ist nur in eng begrenzten Fällen zulässig. Dies gelte auch deshalb, weil Rechtsschutz unmittelbar gegen ein Gesetz schwerer zu erlangen ist.

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5
Q

Mephisto (BVerfGE 30, 173)

A

Das BVerfG äußert sich hier zum Verhältnis von Kunstfreiheit und (postmortalem) Persönlichkeitsrecht. Auch die „schrankenlos“ gewährleistete Kunstfreiheit könne durch andere Grundrechte eingeschränkt werden (praktische Konkordanz).

Die Kunstfreiheit schütze sowohl den Werkbereich als auch den Wirkbereich. Kunst wird wie folgt definiert: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden. Alle künstlerische Tätigkeit ist ein Ineinander von bewussten und unbewussten Vorgängen, die rational nicht aufzulösen sind. Beim künstlerischen Schaffen wirken Intuition, Phantasie und Kunstverstand zusammen.“

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6
Q

Strafgefangene (BVerfGE 33, 1)

A

Das BVerfG entschied, dass die Grundrechte auch im Verhältnis von Strafgefangenen zu der Strafvollzugsanstalt gelten. Sog. „besondere Gewaltverhältnisse“, in denen die Grundrechte nicht gelten, gebe es grundsätzlich nicht.

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7
Q

Nassauskiesungsbeschluss (BVerfGE 58, 300)

A

Das BVerfG unterscheidet hier erstmals streng zwischen der entschädigungspflichtigen Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) und der grundsätzlich nicht entschädigungspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG) und beendete damit die entgegenstehende Rechtsprechung des BGH, wonach eine Inhalts- und Schrankenbestimmung bei besonderer Schwere in eine Enteignung „umschlagen“ konnte. Sieht der Geschädigte in der staatlichen Maßnahme eine Enteignung, kann er Entschädigung nur aufgrund des Enteignungsgesetzes verlangen. Fehlt eine Regelung zur Entschädigung, muss der Geschädigte sich um Rechtsschutz gegen die Enteignung selbst bemühen, ein „dulden und liquidieren“ (wie zuvor nach der Rechtsprechung des BGH) gibt es nicht mehr.

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8
Q

Vertrauensfrage Kohl (BVerfGE 62, 1) und Schröder (BVerfGE 114, 121)

A

Die Urteile sind vor dem verfassungsrechtlichen Hintergrund zu sehen, dass es kein Selbstauflösungsrecht des Bundestages gibt und das Grundgesetz nur ein konstruktives Misstrauensvotum erlaubt. Um vorgezogene Neuwahlen zu erreichen, kann deshalb nur eine auf Auflösung des Bundestages gerichtete Vertrauensfrage gestellt werden (Art. 68 GG). Die Urteile befassen sich mit der Frage, wann eine solche Vertrauensfrage zulässig ist.

In der Entscheidung von 1983 lautete die Kernaussage: Der Bundeskanzler, der die Auflösung des Bundestages auf dem Wege des Art. 68 GG anstrebt, soll dieses Verfahren nur anstrengen dürfen, wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiter zu regieren. In der Entscheidung von 2005 ergänzte das BVerfG: Die auflösungsgerichtete Vertrauensfrage ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Handlungsfähigkeit einer parlamentarisch verankerten Bundesregierung verloren gegangen ist. Beide Entscheidungen gestanden dem Bundeskanzler allerdings eine gewisse Einschätzungsprärogative bei der Beurteilung der Handlungsfähigkeit zu, wodurch sich die praktischen Auswirkungen dieser Rechtsprechung in Grenzen hielten.

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9
Q

Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1)

A

In dieser Entscheidung erkannte das BVerfG das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (APR) nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. 1 Abs. 1 GG an. Eine Einschränkung dieses Rechts dürfe nur aufgrund überwiegender Allgemeininteressen durch Gesetz unter strenger Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgen.

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10
Q

Brokdorf-Beschluss (BVerfGE 69, 315)

A

Der Brokdorf-Beschluss ist die Leitentscheidung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG. Das Recht des Bürgers, durch Ausübung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungsbildungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehöre zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens. Diese grundlegende Bedeutung des Freiheitsrechts sei vom Gesetzgeber beim Erlass grundrechtsbeschränkender Vorschriften sowie bei deren Auslegung und Anwendung durch Behörden und Gerichte zu beachten.

Die Anmeldepflicht nach § 14 Versammlungsgesetz sei daher nur verfassungskonform, wenn diese bei Spontanversammlungen keine Anwendung finde. Eine Auflösung oder ein Verbot einer Versammlung komme nur zum Schutz gleichwertiger Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und nur bei einer unmittelbaren, aus erkennbaren Umständen herleitbaren Gefährdung dieser Rechtsgüter in Betracht. Überdies mache eine gewaltbereite Minderheit eine Versammlung noch nicht insgesamt zu einer unfriedlichen Versammlung.

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11
Q

Josefine Mutzenbacher (BVerfGE 83, 130)

A

Josefine Mutzenbacher ist der Name einer fiktiven Prostituierten, die in einem gleichnamigen Werk über ihre Erfahrungen berichtet. Das Buch wurde aufgrund seiner Inhalte von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert. Hiergegen wandte sich der Verleger des Werkes.

Das BVerfG entschied, dass der Bundesprüfstelle bei ihrer Wertungsentscheidung ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zustehe. Die Grenzen dieses Spielraums seien allerdings überschritten, wenn Grundrechtsbelange gar nicht in der Entscheidung berücksichtigt wurden. Die Bundesprüfstelle verkannte hier, dass „pornographische“ Schriften durchaus auch Kunst i. S. d. Art. 5 Abs. 3 GG sein können und stellte diesen Belang somit auch nicht in die abwägende Entscheidung mit ein.

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12
Q

Bürgschaftsentscheidung (BVerfGE 89, 214)

A

Nach dieser Entscheidung müssen die Zivilgerichte - insbesondere bei der Konkretisierung und Anwendung von Generalklauseln wie § 138 BGB und § 242 BGB - die grundrechtliche Gewährleistung der Privatautonomie in Art. 2 Abs. 1 GG beachten. Daraus ergibt sich ihre Pflicht zur Inhaltskontrolle von Verträgen, die einen der beiden Vertragspartner ungewöhnlich stark belasten und das Ergebnis strukturell ungleicher Verhandlungsstärke sind. Ansprüche aus einem Bürgschaftsvertrag, in dem die geschäftlich unerfahrene Bürgin ein hohes und schwer abschätzbares Unternehmerrisiko und ungewöhnlich hohe Haftungsrisiken übernimmt, ohne eigene wirtschaftliche Interessen zu verfolgen, sind daher nicht zu gewähren.

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13
Q

Glykolwein (BVerfGE 105, 252)

A

Das BVerfG stellte in dieser Entscheidung fest, dass sachlich und richtig gehaltene Informationen der Bundesregierung über bestimmte Produkte keinen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG darstellen, wenn der Markt nicht verzerrt wird und die rechtlichen Voraussetzungen für die Information, insbesondere die öffentliche Zuständigkeitsordnung (vertikal, d. h. Bund/Länder und horizontal, d. h. welches Bundesorgan?), eingehalten werden. Aus der Leitungsfunktion der Bundesregierung, welche sich aus Art. 65 ff. GG ergibt, folge die Befugnis (und u. U. auch die Verpflichtung), die Bevölkerung zur Abwehr von Gefahren zu informieren.

Anmerkung: Der problematische Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis erklärt sich daraus, dass nach Ansicht des BVerfG eine Konkretisierung der Zuständigkeitsordnung des Grundgesetzes kaum möglich ist, da Informationen meist infolge unvorhersehbarer Entwicklungen gegeben werden.

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14
Q

Online-Durchsuchung (BVerfGE 120, 274)

A

In dieser Entscheidung von 2007 erkannte das BVerfG das Recht auf Gewährleistung der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme („Computer-Grundrecht“) als Teil des APR an. Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems, mittels derer die Nutzung des Systems überwacht und seine Speichermedien ausgelesen werden können (etwa in Form eines Bundes-Trojaners), sei verfassungsrechtlich nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen. Die heimliche Infiltration eines informationstechnischen Systems sei grundsätzlich unter den Vorbehalt richterlicher Anordnung zu stellen. Das Gesetz, das zu einem solchen Eingriff ermächtigt, müsse Vorkehrungen enthalten, um den Kernbereich privater Lebensgestaltung zu schützen (Art. 1 Abs. 1 GG).

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15
Q

Selbsttötung (NJW 2020, 905)

A

In seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit des Verbots der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung erkannte das BVerfG als weiteren Teil des APR auch das selbstbestimmte Recht zu Sterben an. Die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, sei als Akt autonomer Selbstbestimmung zu respektieren. Dabei umfasse die Freiheit sich das Leben zu nehmen insbesondere die Möglichkeit angebotene Hilfe zu beanspruchen. Das Verbot in § 217 Abs. 1 StGB habe die Inanspruchnahme von Hilfe aber faktisch unmöglich gemacht. Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben sei in angemessenen Ausgleich mit dem Schutz des Lebens und der Pflicht des Staates zum Schutz der Selbsbestimmung von Suizidwilligen zu bringen. Das BVerfG lässt dabei erkennen, dass es ein Verbot, das „im Einzelfall einen Zugang zu freiwillig bereitgestellter Suizidhilfe real eröffnet“ als verfassungsgemäß erachten würde. Ausdrücklich wird klargestellt, dass keine Pflicht zur Suizidhilfe bestehen kann.

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