09 - Intelligenz und Intelligenzdiagnostik Flashcards
Psychologische Diagnostik
Einsatz festgelegter Testverfahren zur Bewertung der Fähigkeiten, Verhaltensweisen und Persönlichkeitseigenschaften von Person
o Auch: Messung interindividueller Unterschiede
Geschichte der Diagnostik
- Weite Verbreitung erst seit 20. Jahrhundert
- Vor über 4000 Jahren in China: hoch entwickeltes Programm zur Testung von Beamten
-> Alle drei Jahre mündliche Prüfung
- Vor 2000 Jahren: schriftliche Tests für Beamte in Recht, Militär, Landwirtschaft und Geografie
- 1368-1644: Auswahl von Beamten durch dreistufigen, objektiven Selektionsprozess
- Chinas Selektionsverfahren wurden Anfang 19. Jh. von Briten beobachtet und beschrieben
o Modifizierte Versionen zur Auswahl von britischen (amerikanischen) Beamten
Sir Francis Galton
Schlüsselfigur in Entwicklung westlicher Intelligenztestung (1822-1911)
o Buch „Hereditary Genius“ (1869): großer Einfluss auf spätere Überlegungen zu Methoden, Theorien und Praxis des Testens
o Versuchte Darwins Evolutionstheorie auf Untersuchung menschlicher Fähigkeiten anzuwenden
Stellte vier wichtige Postulate zur Intelligenzdiagnostik auf:
- Intelligenzunterschiede sind quantifizierbar als unterschiedliche Grade von Intelligenz
- Unterschiede zwischen Personen folgen Normalverteilung
- Intelligenz oder mentale Fähigkeit kann durch objektive Testverfahren gemessen werden, bei denen es nur eine richtige Antwort auf jede Frage gibt
- Das exakte Ausmaß, in dem zwei Mengen von Testergebnissen zueinander in Beziehung stehen, kann durch Korrelation bestimmt werden
- Kontroverse Ideen: Genialität ist erblich -> Vater der Eugenik-Bewegung
Grundeigenschaften formaler Diagnostik
Diagnoseinstrument muss (1) reliabel, (2) valide und (3) standardisiert sein
Reliabilität
- Retest-Reliabilität: Maß der Korrelation zwischen den Testwerten derselben Personen im selben Test, der zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt wurde
- > Vollständig reliabler Test: r = +1, vollständig unreliabel: r = 0
- Interne Konsistenz: Korrelation der Items untereinander: z.B. gerade vs. ungerade Itemnummer -> Korrelation von halbierten Tests
Inhaltsvalidität
Gesamte Bandbreite des zu erforschenden Gebiets wird abgedeckt
Kriteriumsvalidität
Testergebnisse einer Person werden mit Abschneiden bei anderer Vergleichsgröße (Kriterium) verglichen
-> Bsp.: Test zum Studienerfolg, Kriterium: Noten im Studium, N.C.
- Hauptaufgabe von Testentwicklern: Angemessene und messbare Kriterien finden -> Häufig Schwierigkeiten, geeignete Kriterien zu finden, v.a. für Persönlichkeitsvariablen
- Sobald Kriteriumsvalidität eines Messinstruments nachgewiesen, vertrauen Forscher darauf, dass auch in Zukunft Vorhersagen auf dessen Basis gemacht werden können
Konstruktvalidität
Grad, in dem das zugrunde liegende Konstrukt adäquat gemessen wird
- Theorien/Konstrukte zu abstrakten Eigenschaften, da keine Kriterien möglich
- Neues Maß für Depression hat z.B. Konstrukvalidität, wenn Werte, die sich daraus ergeben, hochgradig mit validen Maßen der Merkmale korrelieren, die das Konstrukt der Depression definieren
(Bsp.: Zusammenhang zwischen Test zur Erfassung von Depression und Depressionsmerkmalen)
Lecci & Myers, 2008: Prüfung der Validität der Messskala Pretrial Juror Attitude Questionnaire (PJAQ)
- Identifiziert voreingenommene Juroren
- 617 Menschen bewerten in Fragebogen 29 Aussagen auf 5-stufiger Ratingskala
- Fällten anschließend Urteile zu Prozessen: mehr „schuldig“ als Durchschnitt -> voreingenommen, PJAQ sagte Voreingenommenheit erfolgreich hervor
Normen und Standardisierung
- Normen: Bezugsrahmen für Interpretation der unterschiedlichen Testergebnisse
- > z.B. Wert von 19 bei Depressionstest; Vergleich zum Populationsdurchschnitt; Testwert > 18 deutet auf eine klinisch relevante depressive Verstimmung hin (2 Standardabweichungen über Durchschnittswert der Normstichprobe)
- Normstichprobe wichtig für die Interpretation individueller Testergebnisse bei Übereinstimmung in wichtigen Bereichen wie Alter, sozioökonomischer Status und kulturellem Hintergrund
- Sinnvolle Normwerte nur bei gleichem Test unter standardisierten Bedingungen
- Standardisierung: Testinstrument wird bei allen Personen in gleicher Weise und unter denselben Bedingungen angewandt
Intelligenz: Definition nach Gottfredson, 1997
Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Fähigkeit, die unter anderem die Fähigkeiten zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zum Problemlösen, zum abstrakten Denken, zum Verstehen komplexer Ideen, zum raschen Auffassen und zum Lernen aus Erfahrung einschließt.
Erster Intelligenztest
bzw. erste Veröffentlichung eines Berichts über funktionierenden Intelligenztest
1905 von Alfred Binet (1857-1911) und Theodore Simon
- Reaktion auf Forderung des französischen Bildungs- und Erziehungsministers nach effektiveren Lernmethoden für Kinder mit Entwicklungsstörung
- Messung der geistigen Fähigkeiten notwendig für Entwicklung eines Lernprogramms
- Unterscheidung von normalen und entwicklungsverzögerten Kindern
- Altersgerechte Aufgaben mit objektiv richtigen und falschen Lösungen, unabhängig von Lebensumwelten der Kinder, kein auswendig gelerntes Wissen (z.B. von 20 bis 0 rückwärts zählen bei 8-jährigen Kindern)
- Berechnung von Intelligenzalter (Alter (Testwert der gemessenen Person) = Alter (Durchschnittswert); z.B. 5-jähriges Kind mit Entwicklungsalter von 4 Jahren)
-> Möglichkeit zur Trennung von Personen, die von Schulbildung profitieren konnten, von denen, die davon nicht profitieren konnten
Wodurch zeichnete sich der erste Intelligenztest von Binet aus?
- Altersgerechte Aufgaben -> objektiv richtig oder falsch
- Nicht von unterschiedlichen Lebensumwelten der Kinder beeinflusst
- Erfassen von Urteilsfähigkeit und Fähigkeit zum schlussfolgerndem Denken anstatt auswendig gelerntem Wissen
Intelligenzalter (Binet)
Vergleich mit Durchschnittsergebnis von gleichaltrigen normalentwickelten Kindern (unabhängig vom Lebensalter)
Wie wurde der Intelligenztest (von Binet) auch in anderen Ländern bekannt?
Wichtig für USA zu Beginn 20. Jh.:
- neue Gesetze zur allgemeinen Schulbildung: Diagnostik notwendig für Einschätzung von Immigranten und Schulkindern
- Ausbruch 1. WK: Feststellung der Eignung (z.B. für Offiziersausbildung)
• Test von Terman, Goddard & Yerkes in einem Monat entwickelt
- Dadurch: Flächendeckende Verbreitung der Diagnostik
IQ
numerisches, standardisiertes Maß der Intelligenz
-> Verbesserung des problematischen Vergleichs zwischen Lebens- und Intelligenzalter
Meiste Verwendung heute von zwei Gruppen von IQ-Tests:
- Stanford-Binet-Skalen
- Wechsler-Skalen
Stanford-Binet-Intelligenzskala
Lewis Terman (Universität Stanford): Weiterentwicklung, Standardisierung, Normierung der Intelligenzmessung von Binet -> „Stanford Revision of the Binet Tests“ (1916) -> Stanford-Binet-Intelligenzskala
-> Grundlage für Konzept des Intelligenzquotienten in heutiger Verwendung als Abweichungsquotient
Wurde bald Standardinstrument in klinischer Psychologie, Psychiatrie und Schulberatung
Enthält eine Reihe von Untertests, die jeweils auf bestimmtes Alter zugeschnitten sind
Wurde seit Einführung mehrmals überarbeitet:
- Ausdehnung auf IQ-Bestimmung bei sehr kleinen Kindern und hochintelligenten Erwachsenen
- Verbesserte Normen für altersbezogene Durchschnittswerte
Von wem wurde der Begriff “IQ” geprägt?
Vom deutschen Psychologen William Stern (1912)
Definition: Verhältnis des Intelligenzalters zum Lebensalter (multipliziert mit 100, um Nachkommastellen zu vermeiden)
IQ = Intelligenzalter / Lebensalter * 100
Bsp.: 10 Jahre/ 8 Jahre * 100 = 125 => überdurchschnittlich
6 Jahre / 8 Jahre * 100 = 75 => unterdurchschnittlich
8 Jahre / 8 Jahre * 100 = 100 => Durchschnitt
Wechsler-Intelligenzskala
- Problem bei Stanford-Binet: keine Gruppenvergleich bei Erwachsenen möglich
- David Wechsler vom Bellevue Krankenhaus NYC verringerte bei Intelligenzdiagnostik Erwachsener die Abhängigkeit von verbalen Items
- 1939: Veröffentlichung der „Wechsler-Bellevue-Intelligenzskala“
- Kombination von verbalen Untertests mit nicht-verbalen, handlungsbezogenen Untertests -> Ermöglichte die zusätzliche Angabe von Verbal-IQ und Handlungs-IQ
- 1955: Wegen Änderungen Umbenennung zu „Wechsler Adult Intelligence Scale“ (WAIS)
- Deutsch: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene (HAWIE)
- > Heute gilt Version „WAIS-IV“ (ab 18 Jahren) bzw. „HAWIE-R“ (ab 16 Jahren)
HAWIE-R
14 Untertests, die verbale und Handlungsaspekte des IQ abdecken
o Verbal: z.B. Wortschatz, Verständnis
o Handlung: Handhabung von Gegenständen, wenig/kein verbaler Inhalt
o Drei Bewertungen: Verbal-IQ, Handlungs-IQ, Gesamt-IQ
Weitere Wechsler-Intelligenzskalen und wofür sie nützlich sind
- Wechsler Intelligence Scale for Children – Fourth Edition (WISC-IV, 2003)
- Deutsch: Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder – IV (HAWIK – IV, 2007)
- > Für Kinder von 6 Jahren bis 16 Jahren und 11 Monaten
- Wechsler Preschool and Primary Scale of Intelligence – Third Edition (WPPSI – III, 2002)
- > Für Kinder von 4 bis 6 Jahren
- Deutsch: Hannover-Wechsler-Intelligenztest für das Vorschulalter – III, HAWIVA – III)
- > Für Kinder von 2 Jahren und 6 Monaten bis 7 Jahren und 3 Monaten
-> Besonders nützlich bei Untersuchung einer Person über längeren Zeitraum hinweg -> z.B. wenn Kind das pädagogische Fördermaßnahmen durchläuft
IQ-Tests heute
keine Division des Intelligenzalters durch Lebensalter
- > Stattdessen: Zusammenzählen der Punkte und direkter Vergleich mit Gesamtpunktzahl anderer Personen derselben Altersklasse
- IQ von 100 = Mittelwert (50% der Personen in der gleichen Altersgruppe hatten einen niedrigeren Punktwert)
Kriterien für Diagnose einer geistigen Behinderung
- IQ unter 70 (2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert eines Intelligenztests)
- Beginn der Störung vor Vollendung des 18. Lebensjahres
- Einschränkungen in angepasstem Verhalten
“Geistige Behinderung” früher und heute
- Früher: IQ von 70 bis 75 = „geistige Zurückgebliebenheit“
- Heute: „geistige Behinderung“, da Definition adaptive Fähigkeiten einschließt
- Keine Kategorisierung anhand des IQs, sondern Erschaffung eines sozialen Umfelds, das Bedürfnissen der Betroffenen entspricht
Ursachen:
- Genetische Faktoren
- z.B. Genmutationen: Down-Syndrom, Phenylketonurie
- Vererbung aber nur selten (IQ zwischen 55 und 70) - Umweltfaktoren (pränatale Umstände)
- Krankheiten in der Schwangerschaft (Syphilis, Röteln)
- Alkohol oder Drogen
Down-Syndrom
von zusätzlichem genetischen Material auf 21. Chromosom verursachte Krankheit -> oft niedriger IQ
Phenylketonurie (PKU)
ebenfalls potenziell negative Auswirkung auf IQ
-> Bei Diagnose in der Kindheit Kontrolle der negativen Effekte durch strikte Diät
Geistige Behinderung und Vererbung
- Vererbung spielt wahrscheinlich nur bei geistigen Behinderungen im IQ-Bereich zwischen 55 und 70 eine Rolle
- Schwerere Formen geistiger Behinderungen vermutlich durch Auftreten spontaner genetischer Veränderungen in der Entwicklung eines Menschen, die nicht erblich sind
- Ausschlaggebend für geistige Behinderungen sind meist pränatale Umstände
Wann Verdacht auf Lernbehinderung?
Bei großem Unterschied zwischen ermitteltem IQ und tatsächlicher Leistung -> Verdacht auf Lernbehinderung (vor Diagnose Ausschluss von Faktoren wie geringer Motivation, schlechter Unterrichtsqualität oder physischen Problemen)
Ab welchem IQ ist man hochbegabt?
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„Drei-Ringe“-Konzeption von Joseph Renzulli (2005)
erweiterte Definition von Hochbegabung
-> Hochbegabung in Schnittfläche von überdurchschnittliche Fähigkeiten, herausragender Kreativität und einem hohen Maß an Zielstrebigkeit
-> Erklärung, warum unterschiedliche Begabungen in verschiedenen Bereichen des akademischen Spektrums vorkommen (verbale vs. mathematische Aufgabenbereiche)