1. Kap. Weltliche Normbildung im Übergang von Spätantike und Mittelalter Flashcards
Germanische Herrschaftsstrukturen
Heeres- und wohl auch Sakralkönigtum
• Egalitäre Elemente (auf adeliger Ebene)
– Wahlakklamation
– Thing
• bisweilen behauptet:
– „germanische Freiheit“,
– „demokratische Vorstufen“
Achtung: keine vollständige Gerechtigkeit (Unfreie, Sklaven, “keine” Rechte für Frauen)
Historische Tradition (germanische Freiheit) für die notwendigen politischen Reformen zu einem einheitlichen Verfassungsstaat
Germanen nach Tacitus:
- Heerführer und Könige müssen eine gewisse Legitimation aufweisen
- Keine “grundsatzlose” Herrschaft.
- politische Partizipation wird sehr stark gelebt (weil Germanen sind kein Staat, sondern ein Stamm = viele sollen an der Meinungsbildung beteiligt sein)
Dadurch: Diskurs, der nicht von der Stellung der einzelnen Teilnehmenden abhängig war, sondern von ihren Argumenten/Aussagen.
Migration ( + neue Reichsbildung) (1/2)
Völkerwanderung (375/568) aufgrund des sog. „Hunnensturms“ aus dem Osten = Wanderbewegungen der bedrängten Völker durch Europa
Konsequenzen:
– Beseitigung Westroms und Neugestaltung der Herrschaftsordnungen in Europa
– Zurückdrängen der römischen Rechtskultur
– Entstehung von Stammesherrschaften:
Untergang Westroms schafft ein politisches Vakuum und damit Platz für eine neue Herrschaftskultur (Stammesherrschaften)
= Basis für Normbildungen, denn es werden Normen benötigt, die diese neuen Ordnungen stabilisieren
Migration ( + neue Reichsbildung) (2/2)
-Herrschaftsbildungen unter verschiedenen Königen im Gebiet des weströmischen Imperium mit kontinuierlichen kriegerischen Auseinandersetzung
- durch Justinian (526-565) teilw. Restauration der römischen Herrschaft (damit c.i.c entstanden)
- daneben Etablierung neuer Reiche mit expansiver Tendenz (Franken, Westgoten, Burgunder, Langobarden)
- dadurch quasi eine “formative period”, denn von zwei Seiten (Justinian / versch. Stämme) werden Grundlagen für die europäische Rechtsprechung geschaffen.
Kollektive Identität
- Stammesrechte entstehen zw. spätantiker Migration und karolingischer Herrschaft (überall Kriege) im Zusammenhang mit neu gebildeten Reichen
– Gem. Selbstbeschreibung
• Häufig herrscherlich veranlasste
• schriftliche Aufzeichnung
• eines Komplexes von Regelungen
• für eine bestimmte ethnische Gruppe (einen Stamm),
• als lex/leges gekennzeichnet
Verschriftlichtes Recht:
− Ausdruck / Stabilisierung königlicher politischer Herrschaft (König als Gesetzgeber)
− Instrument der kollektiven Identitätsbildung/Identitätsbeschreibung
− Häufig Betonung der Rechtsverbesserung im Interesse der Streitschlichtung (Recht besitzt keinen Schutzzweck, ohne Akzeptanz)
= Elementarfunktionen von Rechtsetzung und Rechtsnovellierung für ethnische Gruppen
Bedeutung des Mediums Schrift für das Recht:
- Beständigkeit und damit Dauerhaftigkeit
Zwei Arten von leges
Schematisierung nach Funktionen:
Leges Romanae:
– Aufzeichnungen römischen Rechts für die ehemals römischen Einwohner eroberter Gebiete
– hier Funktion vergleichbar einem Einführungsgesetz
Übrige Leges:
– Verschriftlichung von bestehenden Gebräuchen (wie bereits gesehen)
– Versuch zur Gestaltung der sozialen Wirklichkeit (Fehdewesen, Handel) durch neue Normen
Personalitätsprinzip vs. Territorialitätsprinzip
Inhalt von leges
Normen zum Ausgleich von Unrecht:
– Recht wird als Schutzinstrument gegen Bedrohung von Leib, Leben und anderen Rechtsgütern gedacht (Symbol für diese anarchische Welt)
– Etablierung von Verfahrensnormen
In begrenztem Maß auch privatrechtliche Normen:
– insb. zum Handel
= Entstehung einer offenbar zunehmend differenzierten Wirtschaft (Recht als Grundlage und Rahmen für Wirtschaft)
Keine Staats- oder Verwaltungsrechtsnormen (erst mit Kapitularien), was zeigt, dass Herrschaftsstrukturen offenbar noch stark personal geprägt sind!
Geltung von Leges: grundsätzlich nach Personalitätsprinzip (keine territoriale Rechtsgeltung)
Karl der Grosse und die karolingischen Reformen
Karl hat ein unglaublich grosses Reich erschaffen -> Problem mit Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs
Ausbau von Verwaltungsämtern am Hof (747-814)
- Sendung von Königsboten über das Königreich
Lenkungsanspruch durch Verschriftlichung der politischen Kommunikation:
- weltliche Amtsträger erlernen anfänglich Lesen und Schreiben
Insb.: Karolingische Bildungsreform
– Vereinnahmung der Antike für seine Gegenwart (fundamentale Erkenntnisse, die nützlich sein können)
– Etablierung einer neuen Schrift
Insb.: Karolingische Gerichtsreform
– Nachhaltig fortwirkende Neustrukturierung der Gerichtsfunktion
Gericht:
Ursprungsort: Thing
- Gerichtsversammlung
- Urteile wohl ursprünglich durch alle Versammelten beschlossen
Änderung der Entscheidungsinstanz (seit etwa 770):
- Rachinburgen (lex salica)
- “Scabini”
- Vorsitz hat ein Richter (Graf oder Zentenar) als Repräsentant der Gerichtsgewalt ohne eigenständige Entscheidungsmacht
Ausformung eines Miteinanders („Dualismus“) von zwei Seiten
1. Richter (als Träger der Gerichtsgewalt – Garantie für Verbindlichkeit und Vollstreckung der Urteile)
2. Urteiler (als Repräsentanten der Gerichtsgemeinde)
Frühe Ausdifferenzierung von Zuständigkeiten:
urspr. Allkompetenz aller Gerichte (v. a. Königsgericht, Grafengerichte, Schöffengerichte)
nun seit Karl dem Grossen, Unterscheidung zwischen:
- Causae maiores (Tötungen, Körperverletzungen)
- Causae minores (Übrige Fälle)
(etwa seit 12. Jh: Unterscheidung zwischen Hoch-(Blut-) und Niedergerichtsbarkeit)
Entwicklungen verdeutlichen Gerichtsbarkeit aufgrund ihrer streitschlichtenden Funktion:
- frühes Element in der Evolution von Gesellschaften und Recht
- essentialer Bestandteil hoheitlicher Herrschaft: Verbindliche Streitentscheidung immer auch Ausübung und Durchsetzung von Herrschaftsanspruch
Kapitularien
Erstmals belegt im 8. Jahrhundert (gesetzesähnliche Herrschaftsanordnungen)
Bis zum 9. Jahrhundert ist die Lex der bestimmende Normtypus:
- Kapitularien geben dem Recht eine weitere Form, nebst (z.T. auch als Zusatz zu den Leges)
- Lex und Kapitularien haben dann koexistiert
Unterschied zu den Leges:
- Kapitulare grundsätzlich eindeutig als herrscherliche Erlasse erkennbar (nicht lediglich Aufzeichnungen)
- Regelungsbereich auch Verwaltung/Königsgericht
- Kapitulare damit Ausdruck von Verdichtung königlicher Herrschaft unter den Karolingern
Kapitularien lösen Stammesrechte als die Regelform verschriftlichen Rechts ab und bilden bis etwa Ende des 9. Jahrhunderts den wichtigsten Normtyp
Inhalt der Kapitularien
- Regelungen zur Ahndung von Unrecht
- Erbrechtliche Normen
- Verwaltungsregelungen insbesondere über Strukturen der höfischen Verwaltung und die Gerichtsverfassung
- Regelungen über die Struktur der Kirche und deren Schutz (Kirchenrecht)
Grundstrukturen frühen Unrechtsausgleichs
- Fehde
- Busse
- Gericht
Fehde
Ausgangspunkt: Rache
urspr. Sanktion für Unrecht:
Rache durch Zufügung (Vergeltung) des gleichen Unwertes
= keine normative Begrenzungen
Ziele:
- (Wieder-)Herstellung der verletzten Ehre des Familienverbandes durch öffentlichen Akt der Gewalt
- Genugtuung durch Sühnehandeln in Form von erlaubter Selbsthilfe durch Gewalt gegen den Täter
Germanische Stämme sind sozial stark durch die Struktur der Familie geprägt, deren Ehre erhalten bleiben muss
Busse
- Compositio = Busse
- Entstehung im Rahmen der Stammesrechte
- Interesse der Eindämmung von Gewalt durch Selbsthilfe seit etwa 5. Jh.
Inhalte:
- Zahlungspflicht des Täters in je vorgeschriebener Form
- Verzicht des Opfers auf Selbsthilfe und Einigung mit dem Täter
Funktionen der Busse:
- Ausgleichsfunktion: Beseitigung des materiell eingetretenen Schadens
- Genugtuungsfunktion: Herstellung der verletzten Ehre durch Anerkennung von Fehlverhalten in Form von Geldzahlung
- Befriedungsfunktion: Herstellung des sozialen Friedens durch Ausgleich zwischen den Parteien
Sonderformen:
- Wergeld (Vir = Mann) – Ersatzzahlung an die Familie des Opfers für Tötung
- Fredus/Friedensgeld: Zusätzliche Zahlung an einen Hoheitsträger