Rechtswidrigkeit: Rechtfertigender Notstand Flashcards
Welche zivilrechtlichen Notstände existieren?
- § 228 BGB: Defensivnotstand
- § 904 BGB: Aggressivnotstand
–> sind spezieller als § 34 StGB, daher davor zu prüfen!
Defensivnotstand, § 228 BGB
- Hauptanwendungsfall ist der Tierangriff; wenn Tier von Besitzer aufgehetzt wird, dann ist § 32 StGB einschlägig, weil durch menschliches Verhalten drohende Gefahr
Voraussetzungen:
- Notstandslage: Gefahr der Verletzung eines Rechtsguts (von sich oder einem anderen), die durch die fremde Sache droht
- notstandsfähig sind Rechtsgüter aller Art, auch reine Vermögensinteressen
- Gefahr muss von der fremden Sache ausgehen
- drohende Gefahr = die Wahrscheinlichkeit eines alsbald erfolgenden Schadenseintritts muss bestehen (keine Gegenwärtigkeit iSd § 32 StGB)
- Gefahr muss von der Sache ausgehen, auf die eingewirkt wird - Notstandshandlung: Beschädigung oder Zerstörung der Sache, von der die Gefahr ausgeht
- Erforderlichkeit (hier auch Fluchtmöglichkeit ergreifen!)
- Verhältnismäßigkeit: der eingetretene Schaden darf nicht außer Verhältnis zur abgewendeten Gefahr stehen (Leben und Gesundheit stehen höher als Vermögensinteressen; bei Sachgütern ist Wert entscheidend, aber auch ideelle Interessen sind ggf. zu berücksichtigen!) - Abwehrwille als subjektives Element
Aggressivnotstand, § 904 BGB
= Ausdruck des allgemeinen Aufopferungsgedankens; erlaubt Einwirkung auf Sachen, von denen keine Gefahr ausgeht
Voraussetzungen:
- Notstandslage
- notstandsfähig sind eigene und fremde Rechtsgüter aller Art
- gegenwärtige Gefahr = drohende Gefahr genügt, auch Dauergefahr - Notstandshandlung
- Einwirkung auf eine Sache
- Einwirkung muss gezielt und nicht nur zufällig erfolgen, sonst nur § 34 StGB
- der drohende Schaden muss gegenüber dem resultierenden Schaden unverhältnismäßig groß sein (gleiche Abwägung wie oben, aber höhere Anforderungen, weil Dritter die Beeinträchtigung nur als ultima ratio hinnehmen muss) - Abwehrwille als subjektives Element
Rechtfertigender Notstand, § 34 StGB (allgemeines Notstandsrecht)
Voraussetzungen:
I. Notstandslage
gegenwärtige rechtswidrige Gefahr für ein Rechtsgut
- Rechtsgut = alle Individualrechtsgüter und Güter der Allgemeinheit (Unterschied zu § 32 StGB)
- kann Notstand oder Notstandshilfe sein
- Gefahr = Zustand, der jederzeit in eine konkrete Rechtsgutsbeeinträchtigung umschlagen kann; aus objektiver ex-ante Sicht eines objektiven Dritten zu bestimmen
- Gegenwärtigkeit = Zustand, dessen Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten lässt, sofern nicht alsbald Abwehrmaßnahmen ergriffen werden.
- hier auch Dauergefahr (Haustyrann und Spanner) = gefahrdrohender Zustand von längerer Dauer, der jederzeit in eine RGB umschlagen kann; dieser ist gegenwärtig, wenn er nur durch unverzügliches Handeln wirksam abgewendet werden kann
- auch rechtswidrig
II. Notstandshandlung
Erforderlichkeit
- geeignet, die Gefahr abzuwenden
- Handlung muss das zur sicheren Erfolgsabwendung mildeste Mittel darstellen (nicht gleich effektiv! Notwehr, weil hier auch Ausweichen und Einschalten obrigkeitlicher Hilfe)
III. Abwägung der widerstreitenden Interessen
- wesentliches Überwiegen des geschützten Interesses gegenüber des benachteiligten Interesses
Gesichtspunkte:
- Rang der kollidierenden Rechtsgüter (Leben genießt höchsten Rang, keine Relativierung oder Quantifizierung, keine Abwägung von Leben gegen Leben; persönliche Rechtsgüter stehen höher als wirtschaftliche)
- Ausmaß der drohenden Verletzungen
- Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts
- Größe der Rettungschance
- Schutzwürdigkeit kollidierender Rechtsgüter (wenn Gefahr selbstverschuldet, kann man auf Gedanken des Defensivnotstands nach § 228 BGB zurückgreifen und anderen Maßstab “nicht außer Verhältnis” anlegen! Bsp. war Spannerfall; BGH ließ es offen und kam zu § 35 StGB)
Dem Problembereich der Abwägbarkeit menschlichen Lebens ist die Perforation zugeordnet: Schwierig, aber iE wohl § 34 StGB, weil Mutter ihr Leben nicht dem Kinde opfern muss; ggf. übergesetzlicher Notstand)
- Angemessenheit der Tat (sozialethische Einschränkung des Notstandsrechts)
III. Subjektives Rechtfertigungselement
- Kenntnis vom Vorliegen der objektiven Notstandsvoraussetzungen und
Gefahrabwendungswille
Hauptfälle der Unangemessenheit der Tat:
- entscheidend sind die anerkannten Wertvorstellungen der Gesellschaft
- Täter stellt sich auf die Seite des Unrechts = nicht gemeint, dass er Straftatbestand erfüllt, sondern dass er Werkzeug des Unrechtstäters wird = der dem Unrechtstäter geleistete Dienst kann im Sinne der Einheit der Rechtsordnung nicht zugleich gerechtfertigt sein, weil das Recht nicht dem Unrecht dienen darf (Nötigungsnotstand)
- Eingriff in unantastbare Freiheitsrechte (Kern der Grundrechte);
zwangsweise Blutentnahme ist Verstoß gegen Art. 1,2 GG; Gegenargument ist §81b StPO, der Blutentnahme zum Zwecke der Strafverfolgung erlaubt!! - erhöhte Opferpflicht durch besondere Gefahrtragungspflichten bei bestimmten Berufen oder engen persönlichen Beziehungen; Arg. e § 35 S. 2, wo für diese Fälle sogar Entschuldigung versagt wird, dann erstrecht für Rechtfertigung!
- s. Fall Beulke zur Verhinderung des Schwangerschaftsabbruchs
Behandlung des Nötigungsnotstands?
A wird mit vorgehaltener Pistole von B genötigt, die Scheibe des C einzuwerfen.
Frage: Kommt § 34 zur Anwendung mit der Folge, dass dem Opfer das Notwehrrecht genommen wird; oder § 35, dass Täter auch noch mit Schädigungen des Opfers zu rechnen hat?
Prüfung:
Strafbarkeit des A
§ 303
TB +
RW:
- § 32 (-), weil sich Handlung nicht gegen Angreifer richtet
- § 34?: Notstandslage und -handlung (+); Angemessenheit, § 34 S. 2?
–> Auswirkungen: man versagt dem Dritten sein Notwehrrecht, wenn man § 34 anwendet; das könnte angemessen sein, wenn es um hochwertige Güter des Genötigten geht und in der Interessenabwägung “gewinnt”; gewisse “Opferbereitschaft” des Opfers ist zu fordern; Wortlaut unterscheidet nicht
–> bei § 35 würde Opfer (eingeschränktes) Notwehrrecht haben; dafür spricht auch, dass der Genötigte auf die Seite des Unrechts trete (Angemessenheit scheidet aus); andererseits macht er es ja nicht freiwillig, sondern in einem Zustand des seelischen Drucks, was dem § 35 entspricht; außerdem Strafbarkeitslücken bei eigenhändigen Delikten (Meineid), weil Anstiftung nicht möglich und mittelbare Täterschaft existiert nicht.
vermittelnde Ansicht: §34 nur anwendbar, wenn Gefahr für Leib, Leben oder körperliche Unversehrtheit des Täters (höchstpersönliche RG), aber eben nicht für Opfer; ansonsten § 35
–> nach § 35 entschuldigen