9. Vorlesung (Posttraumatische Belastungsstörung) Flashcards
Wie ist der Begriff „Trauma“ im ICD-10 und DSM-IV definiert?
ICD-10:
„Ein Trauma ist eine Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation
außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartiges Ausmaßes (kurz oder lang
anhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde.“
Erweiterung des Trauma-Begriffes ab DSM-IV:
– Kein „außergewöhnliches Ereignis“
– Sondern: „potenzielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzungen oder
Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder anderen“
Was kennzeichnet die akute Belastungsreaktion? - Warum wird hier nicht von einer „Störung“ gesprochen?
Diagnosekriterien (akute Belastungsreaktion) bis zu einem Monat:
• Vorübergehende Störung die sich (bei einem psychisch nicht manifest gestörten
Menschen) als Reaktion auf eine außergewöhnliche physische oder psychische
Belastung entwickelt
– Klingt im Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen ab (2 Tage – 4 Wochen)
• Individuelle Vulnerabilität und zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen
(Coping-Strategien) spielen bei Auftreten und Schweregrad eine Rolle
• Symptomatik zeigt typischerweise ein gemischtes und wechselndes Bild
• Symptome beinhalten
• Zu Beginn: Art von “Betäubung“
• gewisse Bewusstseinseinengung und eingeschränkten Aufmerksamkeit;
Unfähigkeit, Reize zu verarbeiten; Desorientiertheit
• Im Verlauf: Weiteres Sich zurückziehen aus der Umweltsituation oder ein
Unruhezustand und Überaktivität
• Vegetative Angstsymptome (z.B. Tachykardie, Schwitzen, Erröten)
• Symptome erscheinen innerhalb von Minuten nach dem belastenden Ereignis und
gehen innerhalb von zwei oder drei Tagen, oft innerhalb von Stunden zurück
• Teilweise oder vollständige Amnesie bezüglich dieser Episode kann vorkommen
• Wenn die Symptome andauern, sollte eine Änderung der Diagnose in Erwägung
gezogen werden
Was kennzeichnete die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und
welche Entscheidungen sind bei der Diagnostik zwingend erforderlich?
Diagnosekriterien (PTBS) bis zu 2 Jahren (WICHTIG! Auswendig können müssen!)
ALLE Kriterien die erfüllt sein müssen:
A) Die betroffene Person war einem kurz- oder langhaltenden Ereignis oder Geschehen
von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das
bei nahezu jedem tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde.
B) Anhaltende Erinnerungen oder Wiedererleben der Belastung (Flashbacks) durch
aufdringliche Nachhallerinnerungen, lebendige Erinnerungen, sich wiederholende
Träume oder durch innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder
mit ihr in Zusammenhang stehen (bestimmte Trigger, ein Wort, ein Ort, ein
Gegenstand). - diese Symptome schließen auf eine PTBS, gibt es nicht bei der
Anpassungsstörung oder Belastungsreaktion
C) Umstände, die der Belastung ähneln oder mit ihr in Zusammenhang stehen, werden
tatsächlich oder möglichst vermieden. Dieses Verhalten bestand nicht vor dem
belastenden Erlebnis (zB kein Auto fahren oder Flugzeug fliegen).
- negative Verstärkung, durch dauerhaftes vermeiden von den Umständen bleibt die
PTBS erhalten, da man keine positiven Erfahrung in dem Bereich mehr machen kann
und man sich mit seiner Meinung nur selbst bestätigt
D) Entweder 1. oder 2.:
1. Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, einige wichtige Aspekte der Belastung zu
erinnern.
2. Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (nicht
vorhanden vor der Belastung) mit zwei oder mehr der folgenden Merkmale:
a) Ein- und Durchschlafstörungen
b) Reizbarkeit oder Wutausbrüche
c) Konzentrationsschwierigkeiten
d) Hypervigilanz
e) erhöhte Schreckhaftigkeit
E) Die Kriterien B.,C. und D. treten innerhalb von sechs Monaten nach dem
Belastungsereignis oder nach Ende einer Belastungsperiode auf.
Die Diagnostik PTBS erfordert immer zwei Entscheidungen:
– Überprüfung, ob ein traumatischer Stressor in der Vergangenheit bei den Betroffenen
vorlag
– Überprüfung, ob und in welchem Ausmaß die Symptomatik einer PTBS vorliegt
Wie sehen generelle Merkmale für Anpassungsstörungen aus? (Diagnosekriterien)
Diagnosekriterien (Anpassungsstörungen) bis zu sechs Monaten:
• Identifizierbare psychosoziale Belastung, von einem nicht außergewöhnlichen oder
katastrophalen Ausmaß; Beginn der Symptome innerhalb eines Monats.
• Symptome und Verhaltensstörungen wie bei affektiven Störungen (F3), Störungen des Kapitels F4 und Störungen des Sozialverhaltens.
– Die Kriterien der einzelnen Störung werden aber nicht erfüllt
• Die Symptome dauern nicht länger als sechs Monate nach Ende der Belastung oder ihrer Folgen an, außer bei der längeren depressiven Reaktion (F43.21).
Bis zu einer Dauer von sechs Monaten kann die Diagnose eine Anpassungsstörung gestellt werden.
Was sind mögliche Reaktionen auf traumatische Ereignisse?
• Akute Belastungsreaktion
• Anpassungsstörungen
• Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
—> Nicht jeder, der ein traumatisches Erlebnis hatte entwickelt eine Traumafolgestörung
• Das Erleben eines Traumas ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung
für die Diagnostizierung einer PTBS
• Weitere mögliche psychische Störungen sind spezifische Phobien, Depressionen oder
Somatisierung
Welche weiteren Merkmale treten häufig im Zusammenhang mit PTBS auf?
Weitere Merkmale (Dissoziation):
• Losgelöst-sein von psychischen Prozessen, die in der Regel konkordant miteinander ablaufen
• Dissoziative Prozesse können …
– adaptiv sein (z. B. Absorption auf eine Tätigkeit, Totstellreflex,
Empfindungslosigkeit sowie verzerrte Zeitwahrnehmung bei extremer Gefahr),
– u. a. durch Lernprozesse und Reizgeneralisierung z. B. nach lang anhaltender Traumatisierung dysfunktional und symptomaufrechterhaltend sein
• Kann bei extremen Erregungszuständen auftreten und eine Verarbeitung von Erlebnissen verhindern
• Man unterscheidet zwischen …
– Derealisation (Empfindungen des Abgetrennt seins von der Umgebung)
– Depersonalisation (Empfindungen des Abgetrennt seins von Aspekten des Selbst, wie z. B. psychogene Amnesie)
• Störungsbilder, bei denen Dissoziation ein Leitsymptom darstellt (z. B. die dissoziative Identitätsstörung) werden in ICD-10 separat aufgeführt
Weitere Merkmale (Intrusionen) Flashbacks!:
Intrusionen/intrusive Erinnerungen …
• spontan auftretende, Auslöser-abhängige, ungewollte Erinnerungen an Aspekte der Traumatisierung
• bestehen in der Regel aus kurzen sensorischen Fragmenten des Traumas
– Betroffene „sehen“ vor ihrem geistigen Auge Teilaspekte des Traumas
– haben dabei manchmal gleichzeitig sensorische Eindrücke, die an das Ereignis erinnern
• sie hören etwas, was während des Traumas geschah
• spüren Schmerzen oder andere körperliche Eindrücke von damals
Wie verlaufen PTBS häufig?
- Akute Phase:
- Symptome wie Flashbacks, Albträume treten auf
Beispiel: Therapeutische Intervention: Einsatz von Atem- und Entspannungstechniken zur sofortigen Angstbewältigung. - Chronische Phase:
- Symptome können bestehen bleiben, haben aber weniger Intensität
Beispiel: Langfristige Psychotherapie zur Bewältigung von Traumafolgen. - Remission und Rückfälle:
- Symptome können vorübergehend abnehmen und dann wieder auftreten
Beispiel: Fortlaufende Psychoedukation und Selbstmanagement-Strategien. - Späte PTBS:
- Symptome treten Monate oder Jahre nach dem Trauma auf
Beispiel: Therapeutische Intervention: Kognitive Umstrukturierung zur Bewältigung verzögerter Symptome. - Behandlung und Bewältigung:
- Mit Psychotherapie und Medikation können Symptome verbessert werden
Beispiel: Einsatz von Expositionstherapie, um traumatische Erinnerungen zu verarbeiten.
Was sind Besonderheiten des Traumagedächtnisses?
Das kognitive Modell der chronischen PTBS (Ehlers & Clark):
Annahmen zum „Traumagedächtnis“:
– Ein Trauma wird im Gedächtnis anders als nichttraumatische Erfahrungen abgespeichert
– Besonderheiten des Traumagedächtnisses machen es Betroffenen unmöglich, das Trauma als etwas zu sehen, das zwar aversiv war, aber nicht notwendigerweise noch aktuell negative Folgen für das eigene Leben haben muss
• Bedeutung von Triggern (mit Trauma verbundene Reize)
• Durch intrusive Qualität der Erinnerungen („hier und jetzt Qualität“) fehlt das
Bewusstsein, dass es sich um eine Erinnerung (= vergangenes Ereignis) handelt
• Manchmal Emotionen ohne spezifische Erinnerungen
Wie sieht die Einteilung von Traumata aus?
Einteilung von Trauma:
Dauer
– Typ 1 (kurz andauernd, einmalig, plötzlich, überraschend)
– Typ 2 (Serie von traumatischen Einzelereignissen, lang dauernde, mehrfache
traumatische Ereignisse)
Art der Verursachung
– Akzidentiell (zufällige traumatische Ereignisse)
– Man-made (intendierte, interpersonelle traumatische Ereignisse)
Primär vs. Sekundär
– Primär: Selbst erlebt
- Sekundär: Beobachtet
Wie trägt Sicherheitsverhalten zur Aufrechterhaltung der PTBS bei?
Sicherheitsverhalten bei PTBS trägt zur Aufrechterhaltung der Störung bei, indem es die PTBS-Symptome aufrecht erhält, anstatt die Verarbeitung des Traumas zu fördern:
Vermeidung von traumabezogenen Reizen:
- Betroffene meiden Orte oder Situationen, die das Trauma auslösen könnten, was die Verarbeitung des Traumas verhindert
Ritualisiertes Verhalten:
- Betroffene entwickeln Rituale zur Angstkontrolle, die kurzfristig beruhigen, aber langfristig die Angst verstärken
Kontrolle und Sicherheit:
- Sicherheitsverhalten vermittelt ein Gefühl von Kontrolle, verstärkt aber die Hilflosigkeit
Verstärkung von Vermeidungstendenzen:
- Sicherheitsverhalten verstärkt die Tendenz, unangenehme Situationen zu vermeiden, was die Konfrontation mit der Angst erschwert
Was sind Ziele der Psychotherapie von PTBS?
Ziele der traumaspezifischen Psychotherapie:
• Intrusives Wiedererleben reduzieren (nicht beseitigen!)
• Dysfunktionale Bewertungen und Überzeugungen modifizieren
• Kognitives und behaviorales Vermeidungsverhalten reduzieren
—> Durchbrechen des Teufelskreises, der PTBS aufrecht erhält
Wie sieht der Ablauf einer traumaspezifischen Psychotherapie aus?
Psychotherapie (allgemeine Hinweise):
• Herstellung von Sicherheit und Schutz als Maxime in jeder Form der Psychotherapie von PTBS
• Keine therapeutischen Intervention in der Schockphase
• Psychoedukation als Frühintervention
Phasen der traumaspezifischen Psychotherapie:
1. Psychoedukation
2. Stabilisierungsphase
3. Bearbeitungsphase
4. Integrationsphase
- Stabilisierungsphase:
• Fokus auf erste Maßnahmen zur Symptomreduktion
• Sicherheit schaffen, Beziehungsangebot
• Informationsvermittlung
• Abklärung des individuellen Stabilisierungsbedarfs (hinreichende Emotionsregulierung vorhanden?)
• Ressourcen-Aktivierung und Organisation, z.B.
– Selbstberuhigungsstrategien
– Imaginationsübungen - Bearbeitungsphase:
• Fokus auf intrusivem Wiedererleben und dessen Bewältigung
• Dosiertes Wiedererleben und Verbalisierung des traumatischen Ereignisses und damit verbundener Gefühle, z.B.
– EMDR (“eye movement desensitization and reprocessing“, Shapiro, 1998): Konfrontation mit der belastenden Erinnerung unter Nutzung bilateraler Stimulation
• Während der Konfrontation leitet TherapeutinPatientin zu rhythmischen Augenbewegungen an
– PITT („Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie“, Reddemann) Merken!
• Kognitive Umstrukturierung
– Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen zu Schuld und Verantwortung
– Umgang mit Ärger, Wut und Selbstverachtung
• Patient*innen sollen lernen, das Trauma als einen vergangenen Teil des eigenen Lebens in die individuelle Biographie einzuordnen - Integrationsphase:
• Trauerarbeit
• „Loslassen“ des Traumas
• Soziale Neuorientierung
• Neuer Selbst- und Weltbezug
• Abschied (von Therapie und bisheriger Trauma-Identität)
Was sind Allg. Infos zur PTBS? (Epidemiologie, Komorbiditäten)
Epidemiologie (Prävalenz):
- Die meisten Menschen erleben in ihrem Leben mind. ein nach ICD/DSM definiertes traumatisches Ereignis
– Höhere Wahrscheinlichkeit bei Männern
– Nur ca. 10-20% entwickeln eine chronische PTBS
- Lebenszeitprävalenz zur Entwicklung einer PTBS 8%
– Frauen 12%
– Männer 6%
– CAVE: Dunkelziffer!
- Prävalenz der PTBS in Risikopopulationen 58%
– Bundeswehr, Feuerwehr, Polizei, Katastrophenschutz, etc.
Unterschiede in Prävalenz der PTBS in Abhängigkeit von Art des Traumas:
– Physische, v.a. sexuelle Angriffe: 55%
– Kriegs- und Vertreibungsopfer: 50%
– Andere Gewaltverbrechen: 25%
– Schwere Organerkrankungen (z.B. Herzinfarkt): 15%
– Verkehrsunfälle: 8%
– Naturkatastrophen: 5%
Verlauf von PTBS:
- Häufig chronischer Verlauf
– Remission nach einem Jahr bei 1/3 der Betroffenen
– Psychotherapie-Effekte
- Dauer der PTBS kürzer mit Psychotherapie als ohne (36 vs. 96 Monate)
- Nur bei ca. 50% nach 2 Jahren Symptomremission
– 1/3 der Betroffenen bleiben langfristig ohne Remission (mit und ohne Psychotherapie)
- Später Symptombeginn (verzögerte PTBS) nur bei 3- 10%
Komborbiditäten:
• Bei 1/3 der Betroffenen besteht primär eine andere psychische Störung
—> Risikofaktor für die Entwicklung einer PTBS nach Trauma
• Bei 2/3 der Betroffenen entstehen Komorbiditäten nach PTBS
• Fast alle psychischen Störungen können sekundär nach einer PTBS entstehen:
– V.a. affektive Störungen, Angststörungen, schädlicher Gebrauch von Substanzen
und Abhängigkeitsstörungen
– Eine weitere Störung bei 87,5% der Betroffenen, zwei oder mehr Komorbiditäten bei
77,5% der Betroffenen