7. Vorlesung (Zwangsstörungen) Flashcards
Was kennzeichnet Zwangsstörungen im Allgemeinen? (Diagnosekriterien)
A. Entweder Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen (oder beides) an den meisten
Tagen über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen.
B. Die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zeigen sämtliche folgende Merkmale:
1. sie werden als eigene Gedanken/Handlungen von den Betroffenen angesehen und
nicht als von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben;
2. sie wiederholen sich dauernd und werden als unangenehm empfunden, und min.
ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung werden als übertrieben und unsinnig
anerkannt;
3. die Betroffenen versuchen, Widerstand zu leisten. Gegen mindestens einen
Zwangsgedanken oder eine Zwangshandlung wird gegenwärtig erfolglos Widerstand
geleistet;
4. die Ausführung eines Zwangsgedanken oder einer Zwangshandlung ist für sich
genommen nicht angenehm.
C. Die Betroffenen leiden unter den Zwangsgedanken und – handlungen oder werden in
ihrer sozialen oder individuellen Leistungsfähigkeit behindert, meist durch den
besonderen Zeitaufwand.
D. Ausschlussvorbehalt: Störung nicht bedingt durch andere psychische Störung (z.B. F2,
F3)
Was sind Merkmale pathologischer Zwänge?
• Die Person erlebt einen inneren, subjektiven Drang, bestimmte Dinge zu denken oder
zu tun
• Die Person leistet Widerstand gegen den Drang
• Die Person erkennt Gedanken und Handlungen im Prinzip als sinnlos
• Die Person erlebt durch Gedanken oder Handlungen eine massive Beeinträchtigung des Lebensvollzugs
Wie verlaufen Zwangsstörungen typischerweise?
• später Behandlungsbeginn (ca. 7 Jahre nach Erstmanifestation der Symptome)
– Waschzwänge beginnen zu zwei Drittel eher akut, d.h. binnen weniger Tage oder
Wochen;
– Schleichender Beginn über Jahre hinweg bei Kontrollzwängen
• hohes Ausmaß der Verheimlichung, selbst gegenüber Partner*innen oder im
medizinischen Versorgungssystem (Beginn und Verlauf)
• Im Verlauf
– schwankende Intensität der Symptome
– Chronischer Verlauf: Es kommt nur sehr selten zu sog. Spontanremissionen (weniger
als 10% im Vergleich zu etwa 30% bei Ängsten im Zeitraum von 1–2 Jahren)
- Symptome können sich unter Stress verschlimmern
- es kann sich ein Vermeidungsverhalten Entwickeln, dass zu einem Teufelskreis führt
- angemessene Therapien: KVT, medikamentöse Therapie
Was sind Schutzfaktoren gegen die Entwicklung einer Zwangsstörung?
Potentiell präventive Faktoren
• Vermittlung von Selbstsicherheit, sozialer Kompetenz
—> für die Zwangsstörung relevante Verunsicherung gar nicht aufkommen zu lassen
• Vermittlung von kognitiver Flexibilität
—> gedankliche Einschränkung hinsichtlich negativer Erwartungen zu verhindern
• Vermittlung von Strategien der Bewältigung von Stress und Belastung
—> unspezifischen Belastungsfaktoren auf Verhaltens-, kognitiver und
psychobiologischer Ebene nicht zu einem Bedingungsfaktor für Verunsicherung und
für Zwänge werden zu lassen
Was sind typische Abwehrmechanismen bei Zwangsstörungen?
- Affektisolierung:
Die Person erlebt eine Situation, aber ihre Gefühle sind nicht wie erwartet präsent. Zum Beispiel spricht jemand über einen Verlust in einem sachlichen Ton, als ob er Nachrichtensprecher wäre. - Rationalisierung:
Die Person erklärt ihr Verhalten nicht durch persönliche Gefühle, sondern durch moralisch akzeptable und logisch erscheinende Gründe. Zum Beispiel erklärt jemand Schlafprobleme nach einer Trennung durch den Wetterumschwung. - Reaktionsbildung:
Die Person zeigt das Gegenteil ihres ursprünglichen Impulses oder Gefühls. Zum Beispiel bringt jemand seiner Therapeutin ein Geschenk mit, nachdem sie ihn mit einer kritischen Haltung konfrontiert hat. - Ungeschehenmachen:
Die Person führt Handlungen aus, die faktisch unwirksam sind, aber symbolische Bedeutung haben, um Bestrafung zu vermeiden. Zum Beispiel vermeidet jemand bestimmte Fugen auf dem Gehweg zu berühren, um Unglück zu vermeiden.
Was besagt die kognitiv-behaviorale Perspektive zur Ätiologie von
Zwangsstörungen?
- Kognitive Verzerrungen:
Menschen mit Zwangsstörungen haben verzerrte Denkmuster wie Überverantwortung oder Perfektionismus. - Fehlinterpretation von Gedanken: Normale Gedanken werden als bedrohlich oder gefährlich wahrgenommen.
- Verstärkung von Zwangshandlungen:
Kurzfristige Erleichterung nach Zwangshandlungen verstärkt das Verhalten. - Konditionierung:
Durch wiederholte Assoziation zwischen Gedanken und Handlungen entstehen Zwangshandlungen.
Was sind im Rahmen kognitiv-behavioraler Therapieschulen Aspekte der Informationsverarbeitung, die zentral sind für die Symptomentstehung bei
Zwangsstörungen?
• Erwartungen von Patientinnen sind deutlich verzerrt in Richtung der Überbewertung
negativer Erwartungen
• Verantwortung: Patientinnen zeigen eine Art „inflated responsibility“, d.h. sie
übernehmen Verantwortung für Ereignisse, die sie nicht selbst beeinflussen können
(im Sinne eines magischen Denkens)
• Unsicherheit hinsichtlich der Erinnerungsleistung; obwohl sie keine schlechteren
Gedächtnisleistungen aufweisen, vertrauen sie ihren Erinnerungen nicht. Das Ritual
vermittelt entsprechende (vermeintliche) Sicherheit
• Vermischung von Gedanken und Handlungen (»thought action fusion«; Rachman,
1997, 2002): Patient*innen sehen bereits in ihren Gedanken eine Gefahr!„Wenn ich
so oft daran denke, könnte ich es möglicherweise auch tun!“
Wie werden Zwangsstörungen im Rahmen von kognitiv-behavioralen
Therapieverfahren behandelt?
- Beziehungsaufbau:
Therapeut schafft eine unterstützende Beziehung, indem er Sachkenntnis vermittelt und gemeinsam mit dem Patienten den Zwang erkundet. - Motivations- und Zielklärung:
Patient wird dabei unterstützt, seine Motivation zur Veränderung zu entwickeln, indem er die negativen Auswirkungen der Zwangsstörung erkundet und persönliche Ziele identifiziert. - Problembezogene Informationserfassung und Verhaltensanalyse:
Es wird eine detaillierte Erfassung der Zwänge vorgenommen, einschließlich der Identifikation von Auslösern, Vermeidungsverhalten und involvierten Familienmitgliedern. Prädisponierende, auslösende und aufrechterhaltende Bedingungen werden analysiert. - Verschiebung der Problemdefinition:
Der Fokus wird von den objektiven Inhalten der Zwangsgedanken hin zu den subjektiven Emotionen und den zugrunde liegenden Problemen verschoben. Normale aufdringliche Gedanken werden erklärt und zwischen Gedanken und Taten differenziert. - Erarbeitung eines Erklärungsmodells für die Aufrechterhaltung:
Ein Verständnis für die Mechanismen, die die Zwangsstörung aufrechterhalten, wird erarbeitet, einschließlich der Funktionalität der Zwangshandlungen als Bewältigungsstrategie für negative Emotionen und der Vermeidung von Angst. - Exposition mit Reaktionsverhinderung:
Der Patient wird schrittweise den angstauslösenden Situationen ausgesetzt, während er lernt, Zwangshandlungen zu unterlassen oder zu reduzieren. Dies hilft, die Angst zu bewältigen und alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln. - Kognitive Interventionen:
Dysfunktionale Annahmen werden identifiziert und durch rationale Überlegungen und alternative, funktionalere Einstellungen umstrukturiert. - Stabilisierung der Erfolge und Rückfallprophylaxe:
Die erlernten Strategien werden zusammengefasst und der Patient erhält Techniken zur Bewältigung von Stress sowie Informationen über die Gefahr eines Rückfalls und Strategien zur Rückfallvermeidung.
Beschreibe den Ablauf einer Exposition mit Reaktionsverhinderung im Rahmen einer verhaltenstherapeutischen Behandlung von Zwangsstörungen.
- Allgemeine Hinweise:
In vivo-Exposition ist oft effektiver als in sensu.
Die Auswahl der Expositionssituationen erfolgt nach einer Entscheidungshierarchie, wobei praktische Relevanz für den Patienten berücksichtigt wird. - Vorbereitung und Planung der Exposition:
Der Patient trifft eine aktive Entscheidung und hat Autonomie über den Prozess.
Angehörige, die in die Zwänge des Patienten involviert sind, werden informiert und instruiert.
Der Ablauf der Exposition wird genau besprochen. - Ziele der Exposition:
Der Patient wird mit den gefürchteten Auslösern konfrontiert, während die Ausführung der Zwangsrituale verhindert wird.
Der Patient erlebt, dass Unruhe, Angst und Unbehagen zwar unangenehm sind, aber im Zeitverlauf auch ohne Zwangshandlungen abnehmen können. - Vorgehen bei der Exposition:
Der Therapeut erkundigt sich vorab nach dem Befinden des Patienten und bestärkt ihn.
Es wird betont, dass es keine Überraschungen geben wird, und Psychoedukation wird kurz gehalten.
Der Patient wird ermutigt, so viel Verantwortung wie möglich zu übernehmen.
Während der Durchführung wird das Angstniveau des Patienten erfragt, und die Expositionsübung endet mit einer Hausaufgabe, die genau besprochen wird. - Nach der Exposition:
Der Therapeut stellt mögliche Fragen zur optimalen Nutzung der Erfahrung aus der Exposition und zur Erreichung kognitiver Veränderungen.
Der Patient reflektiert über die gemachten Erfahrungen und seine Einschätzung der Gefährlichkeit der Stimuli sowie darüber, wie er sich zukünftig in ähnlichen Situationen verhalten möchte und wie sich sein Gefühl bei neuerlichen Expositionen mit diesem Stimulus verändert haben könnte.
Welche Formen von Zwangsstörungen werden im ICD-10 unterschieden?
Zwangshandlungen:
- Waschen
- Kontrollieren
Zwangsgedanken:
- Bilder, Impulse
- Gedanken
Wie ist das SORKC-Modell aufgebaut?
S —> Fusseln, Türklinken, Staub (auch imaginär)
O —> “Ich komme aus der Gosse. Ich bin dreckig.”
R —> Verhalten: Täglich mehrstündige Putzrituale
Kognitionen: „Alles muss sauber sein.”
„Die anderen könnten mich schmutzig finden.”
Emotionen: Gefühl des Unwohlsein, Unruhe
Physiologie: Schwitzen, Atembeschwerden
K —> kurzfristig: Entspannung, Befriedigung, „alles ist ok“
C —> langfristig Erschöpfung, Zeitmangel, Hautveränderungen
Welche zwei Möglichkeiten der Symptomentstehung gibt es?
• Ein unbewusster antisozialer Zwangsimpuls wird über sekundäre Bearbeitung zu einer
bewussten Zwangsbefürchtung (phobisches Ausmaß)
– Über versuchte Abwehr entstehen Zwangsgedanken, die zu einer Zwangshandlung
führen
• Ein bewusster antisozialer Zwangsimpuls wird über versuchte Abwehr (Einspruch des
Gewissens) zu Zwangsgedanken, die zu einer Zwangshandlung führen
• Therapie von Zwangsstörungen auf höherem Strukturniveau
• Reduktion und Felxibilisierung rigider Über-Ich-Anteile mit dem Ziel einer Integration
inkongruenter, bislang abgewehrter Selbstanteile
• Mit Hilfe von Deutungen, welche Konflikte zwischen Trieb und rigidem Über-Ich
fokussieren
• CAVE: Dienen Zwangssymptome nicht der Triebabwehr sondern der Ich-
Stabilisierung (bei drohendem psychotischen Erleben) sind stützende und
stabilisierende Interventionen indiziert
Allgemeine Fakten zur Zwangsstörung? (Zentrale Themen, Epidemiologie, Komorbidität)
Zentrale Themen von Zwangsstörungen:
• Inhalte und Themen von Zwangshandlungen und – gedanken haben keine
ätiologische Bedeutung
• Kulturell und evolutionstheoretisch ist aber interessant, dass spezielle Themen eine
besondere Rolle spielen:
– Schuld
– Religiosität
– Versündigung
– Schmutz, Verunreinigung
– Sexualität
– Aggressivität und Tod
Epidemiologie:
• Lebenszeitprävalenz: ca. 2-3%
• Beginn: um 22 Lj.
– oft schleichend ab Pubertät
– Beginn nach 40 Lj. selten
• Geschlechterverhältnis etwa gleich
– Frauen häufiger Waschzwang
– Männer häufiger Kontrollzwang und Zwangsgedanken
• Gesellschaft: v.a. Patient*innen aus mittleren und oberen sozialen Schichten sind
betroffen
Komorbidität:
• Ca. 50–70% komorbid Depression zu finden
– Übergang von Zwängen zur Depression ca. doppelt so häufig zu wie der
umgekehrte Verlauf
—> Eine länger dauernde Zwangserkrankung führt zur Isolation und Hilflosigkeit, als
klassisches Muster einer depressiven Entwicklung
• Weiterhin hohe Komorbidität mit Phobien
– im DSM 5 erstmalig eigene Kategorie für Zwangsstörung
• CAVE: Differentialdiagnosen=
Im Gegensatz zu Angststörungen, ASS und zwanghafter Persönlichkeitsstörung
erleben Personen mit Zwangsstörungen ihre Gedanken und Impulse als sinnlos und
unangemessen
!Sie versuchen (erfolglos) Widerstand zu leisten