12 Traumatologie Flashcards
Wie definieren Sie den Begriff „Fraktur“?
Bei einer Fraktur handelt es sich um eine vollständige Durchtrennung des Knochens. Es gibt traumatische und pathologische Frakturen. Traumatische Frakturen werden verursacht durch direkte oder indirekte Gewalteinwirkung, die die Stabilität und Elastizität des Knochens überschreitet. Pathologische Frakturen hingegen entstehen spontan oder durch geringe Traumen auf dem Boden einer pathologischen Knochenstruktur. Zu Ermüdungsfrakturen kommt es als Folge einer chronischen Schwächung oder im Rahmen rezidivierender Mikrotraumen.
Bei der Frakturheilung unterscheidet man eine primäre angiogene von einer sekundären Frakturheilung.
• primäre angiogene Frakturheilung (Kontaktheilung): Osteonüberbrückung des Frakturspalts ohne Kallusbildung = organtypische Regeneration
• sekundäre Frakturheilung: Im Bereich der Fraktur kommt es zunächst zu einem Hämatom. Dieses wird im weiteren Verlauf umorganisiert. Es sprossen Fibroblasten in den Frakturspalt ein. Durch chondrogene und desmale Ossifikation bildet sich im Bereich des Frakturspalts zunächst ein Kallus (Geflechtknochen), der sich während mehrerer Wochen in stabilen lamellären Knochen umwandelt.
Besondere Frakturformen sind die Fissur und die Infraktion. Bei einer Fissur handelt es sich um einen Knochenriss, bei der Infraktion um einen Spaltbruch.
Mit welchen Komplikationen nach Frakturen müssen Sie rechnen?
Zu den allgemeinen Komplikationen von Frakturen zählen:
• Begleitverletzungen von Nerven, Gefäßen und/oder Bandapparat
• Blutung (Schock), Fettembolie
• Verletzung innerer Organe (Beckenfraktur!)
• Infektion(Osteomyelitis, Wund- und Weichteilinfektionen)
• Crush-Syndrom (akutes Nierenversagen) bei hochgradigen Frakturen mit ausgedehnten Verletzungen des Muskelmantels ( Rhabdomyolyse)
• Kompartmentsyndrom (Muskellogensyndrom)
• komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS = complex regional pain syndrome, früher Morbus Sudeck oder sympathische Reflexdystrophie)
• Arthrose(v.a. bei Gelenkbeteiligung oder starken Fehlstellungen)
• Folgekrankheiten bei Immobilisation (Thrombose, Lungenembolie, Pneumonie etc.).
• ausbleibende oder verzögerte Frakturheilung (Ursachen: insuffiziente Reposition, Ischämie, Arteriosklerose, Diabetes mellitus, lokale Infektion, fehlende Immobilisation)
• Pseudarthrose: Es kann im Bereich des Frakturspaltsein„Falschgelenk“ entstehen.
Wie diagnostizieren Sie eine Fraktur?
Die Unfallanamnese liefert erste Informationen über die Art und Intensität des erlittenen Traumas. Bei der körperlichen Untersuchung unterscheidet man sichere und unsichere Frakturzeichen (› Tab. 10.1).
Zur Frakturdarstellung, genauen Lokalisation und Darstellung des Ausmaßes der Verletzung werden Röntgenaufnahmen in mindestens zwei Ebenen angefertigt. Bei Verdacht auf eine Klavikulafraktur genügt die a. p. Aufnahme. Bei besonderen Fragestellungen können Spezialaufnahmen erforderlich sein (z.B. bei Verletzungen im Bereich des Schultergürtels, der Hüfte oder des Fußes etc.). Im Zweifelsfall wird zum Seitenvergleich auch noch die Gegenseite geröntgt. Bei Frakturen der langen Röhrenknochen müssen die angrenzenden Gelenke mit geröntgt werden.
Tab. 10.1 Sichere und unsichere Frakturzeichen
Unsichere Frakturzeichen
• Schwellung • Functio laesa • Schmerz
Sichere Frakturzeichen
• groteske Achsenverbiegungen
• abnorme Beweglichkeit
• sichtbare Fragmente bei offenen Frakturen
• Krepitation
Nennen Sie uns drei grundlegende Prinzipien bei der Behandlung von Frakturen.
Ziel einer Frakturbehandlung ist eine Wiederherstellung der Knochenkontinuität, der umgebenden Weichteile und des Band- und Sehnenapparats. Die Therapie von Frakturen gliedert sich zeitlich gesehen in drei Phasen:
• Reposition: Die Frakturenden werden in ihre ursprüngliche anatomische Stellung zurückgeführt.
• Ruhigstellung (Osteosynthese/Gips): Die Frakturenden und der umgebende Muskel, Band- und Sehnenapparat werden bis zur endgültigen knöchernen Ausheilung der Fraktur stabilisiert und so weit möglich ruhiggestellt.
• Wiederherstellung der Funktion: Durch Physiotherapie wird die ursprüngliche Beweglichkeit der Extremität weitestgehend wiederhergestellt.
Nennen Sie uns verschiedene Bruchformen und beschreiben Sie uns den jeweiligen Verlauf der Frakturlinie.
Je nach Verlauf der Frakturlinie und Art des Traumas unterscheidet man verschiedene Bruchformen (› Tab. 10.2).
Tab. 10.2 Verschiedene Frakturformen
Art der Fraktur : Verlauf der Frakturlinie
Unfallmechanismus
→ Quer- oder Schrägfraktur : quer oder schräg
kurzes heftiges Anpralltrauma
→ Torsionsfraktur : spiralförmig
Verdrehung der Längsachse des Knochens (z. B. beim Skifahren oder Fußballspielen)
→ Biegungsfraktur : Biegungskeil auf der traumatisierten Seite
Überschreiten der Knochenelastizität
→ Abrissfraktur : Frakturenden oft stark disloziert
Einwirken von Zugkräften eines Bands oder einer Sehne
→ Kompressionsfraktur
Erwachsene: Kompression , Kinder: Wulstbildung
Stauchung in Knochenlängsachse
→ Mehrfragment- und Trümmerfraktur
Mehrfragmentfraktur: (4–6 Fragmente) Trümmerfrakturen (> 6 Fragmente)
breite, rasant auftreffende Gewalteinwirkung
→ Zwei-Etagen- oder Stückfraktur
zwei Frakturen in geringem Abstand
Anpralltrauma (z. B. Stoßstange gegen Unterschenkel eines Fußgängers)
Worum handelt es sich bei der AO-Klassifikation für Frakturen?
Die AO (Arbeitsgemeinschaft Osteosynthese) wurde 1958 in der Schweiz gegründet. Mitglieder sind Chirurgen aus aller Welt, die sich in einer Organisation zusammengeschlossen haben, um weltweit einheitliche Standards und Operationspraktiken zu etablieren. Die AO-Klassifikation dient der weltweit einheitlichen Klassifikation und Kodierung von Frakturen.
Die Verschlüsselung erfolgt in einer dreigliedrigen Systematik je nach Lokalisation und Morphologie der Fraktur
• frakturierter Knochen
• Knochensegment
• Morphologie (z. B. Frakturtyp, Anzahl der Fragmente, Begleitverletzungen, Dislokation etc.)
Die AO-Klassifikation orientiert sich eng am Schweregrad der Fraktur. Sie dient daher der Therapieplanung und der Einschätzung der Langzeitprognose.
Kommen wir zur osteosynthetischen Versorgung von Frakturen. Was muss man dabei beachten und worauf kommt es an?
Beim Anlegen einer Osteosynthese sollte das OP-Trauma so gering wie möglich gehalten werden. Darum werden Frakturen nach Möglichkeit sparsam freigelegt. Die Fraktur wird zuerst reponiert und schließlich mithilfe einer Osteosynthese adaptiert. Unterschieden werden lagerungs-, übungs- und belastungsstabile Osteosynthesen. Eine operative Frakturbehandlung ist immer indiziert bei:
• offenen Frakturen 2. und 3. Grades
• dislozierten Gelenkfrakturen
• Mehrfachverletzungen (Pflegeerleichterung)
• dislozierten Extremitätenfrakturen
• Pseudarthrosen
• Epiphysenfrakturen (Aitken II und III)
Die osteosynthetische Versorgung einer Fraktur sollte nach Möglichkeit in den ersten Stunden nach dem Trauma vorgenommen werden, bevor es zu ausgedehnten Hämatomen, Weichteilschwellung und lokalen Entzündungsreaktionen kommt. Ist das Umgebungsgewebe stark angeschwollen, sollte die Operation auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, wenn die Extremität abgeschwollen ist.
Merke: Man unterscheidet lagerungsstabile, übungsstabile und belastungsstabile Osteosynthesen.
Die konservative Therapie einer Fraktur beschränkt sich auf die Reposition und Ruhigstellung der Fraktur. Zur operativen Behandlung von Frakturen stehen verschiedene osteosynthetische Verfahren zur Verfügung. Welche Arten von Osteosynthesen kennen Sie?
Man unterscheidet bei den Osteosynthesen zwischen intramedullären (Marknägel etc.) und extramedullären Kraftträgern. Es kommen folgende Osteosyntheseverfahren zum Einsatz:
• Plattenosteosynthesen gehören zu den extramedullären Kraftträgern. Sie kommen meist bei Gelenks- oder gelenksnahen Frakturen zum Einsatz. Mithilfe von Schrauben wird die Platte proximal und distal des Frakturspalts fixiert. Auf diese Art können auch größere Frakturabschnitte überbrückt werden, wie es zum Teil bei Trümmerfrakturen oder Spiralbrüchen erforderlich ist.
• Schrauben fixieren das distal gelegene Fragment am schraubenkopfnahen Fragment und komprimieren nach Festziehen den Frakturspalt. Je nach Art und Beschaffenheit des Knochens wählt man zwischen Spongiosa- und Kortikalisschrauben.
• Marknägel dienen vor allem der Stabilisierung langer Röhrenknochen. Der Nagel wird axial in die Markhöhle eingeschlagen (mit oder ohne Vorbohrung). Bei unzureichender Rotationsstabilität müssen die Frakturenden mithilfe von Verriegelungsnägeln fixiert werden. Kontraindikationen sind lokale Infektionen, Epiphysenverletzungen bei Kindern und evtl. höhergradig offene Frakturen. Auf die Frakturstelle wirkt kein zusätzliches Trauma ein, da der Marknagel frakturfern eingebracht und vorgeschoben wird.
• Bohr- oder Spickdrähte werden in den Knochen eingebohrt zur Fixation der Fragmente gegeneinander. Entweder wird die Fraktur offen reponiert und mit Drähten fixiert (z. B. bei Epikondylusfrakturen des Humerus) oder es erfolgt eine geschlossene Reposition gefolgt von einer perkutanen Spickung (z. B. bei distalen Radiusfrakturen). Mit Bohr- oder Spickdrähten lässt sich höchstens eine Übungsstabilität erreichen.
• Zuggurtungen mit Drahtschlinge (z. B. bei Olekranon- oder Patellafrakturen) arbeiten nach dem Prinzip, Zug- in Druckkraft umzusetzen. Post- operativ sind sie übungsstabil.
• Fixateur externe: Bei höhergradig offenen Frakturen, Beckenringfrakturen und Trümmerfrakturen werden proximal und distal des Frakturspalts Schanz-Schrauben eingedreht. Eine externe Verbindung der Schrauben durch Metallrohre sorgt für eine Ruhigstellung im Bereich der Fraktur. Oft erfolgt sekundär eine Stabilisierung der Fraktur durch ein anderes Osteosyntheseverfahren.
Worin liegen die Vorteile einer operativen Frakturtherapie gegenüber der konservativen Therapie?
Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile, daher muss die Entscheidung, ob operativ oder konservativ vorgegangen wird, für jeden Patienten individuell gefällt werden. Entscheidend sind dabei das Alter des Patienten, die Art, Lokalisation und Stellung der Fraktur und die Genese und Traumatisierung der Fraktur bzw. des umgebenden Weichteilmantels (› Tab. 10.3).
Tab. 10.3 Vergleich von operativer und konservativer Frakturtherapie
Konservativ
Vorteile
• kein OP-Risiko (Gefäß- und Nervenverletzungen, Anästhesie)
• keine Infektionsgefahr
• keine Metallentfernung erforderlich
• meist kein Krankenhausaufenthalt erforderlich
Nachteile
• meist schlechtere Reposition
• lange Immobilisation
• häufiger CRPS, Achsenfehler, Verkürzung, Arthrose
• Gips: keine Weichteilinspektion möglich, häufiger Nervenläsionen
Operativ Vorteile • schnellere funktionelle Behandlung möglich • sichere Reposition, bessere Ruhigstellung • seltener Pseudarthrosen Nachteile • OP-Trauma und -Risiken • Anästhesie erforderlich • Metallentfernung erforderlich
Nach welchen Kriterien werden offene Frakturen eingeteilt?
Offene Frakturen werden gemäß dem Ausmaß der sie begleitenden Weichteilverletzungen in vier Grade eingeteilt (› Tab. 10.4).
Offene Frakturen sollten wie alle Frakturen mit besonderer Sorgfalt in Hinsicht auf steriles Arbeiten behandelt werden. Eine frühzeitige Antibiotikagabe (kein Reserve-Antibiotikum!) soll das Infektionsrisiko reduzieren.
Bei höhergradig offenen Frakturen mit ausgedehnten Weichteildefekten kann eine primäre Versorgung mittels Fixateur externe erforderlich sein, um eine Verschleppung von Bakterien in den Knochen hinein und weitere Weichteiltraumatisierungen zu verhindern.
Frakturen der langen Röhrenknochen (Humerus, Femur, Tibia) werden je nach Morphologie der Fraktur mit Marknägeln versorgt, um eine weitere Traumatisierung des Gewebes zu vermeiden.
Tab. 10.4 Einteilung offener Frakturen nach Tscherne u. Oestern (1982)
Grad I : kleinflächige Hautdurchspießung durch ein Knochenfragment von innen (→ punktförmige Verletzung)
Grad II : ausgedehnte Weichteilverletzungen und Gewebekontusion über dem Frakturgebiet
Grad III : frei liegende Fraktur mit ausgedehnter Weichteilzerstörung (Muskeln, Nerven und Gefäßen)
Grad IV : subtotale Amputation, die Extremität hängt nur noch an Weichteilen
Wie lautet Ihre Diagnose, wenn Sie sich das nächste Röntgenbild anschauen (› Abb. 10.1)? Wie alt, denken Sie, ist der Patient?
Das Röntgenbild zeigt den distalen Unterarm mit Handgelenk a.p. und im seitlichen Strahlengang. Die Fraktur erscheint im Röntgenbild wie ein gebrochener grüner Ast. Man bezeichnet Brüche dieser Art deshalb als Grünholzfraktur. Hier ist der distale Radius betroffen. Die Grünholzfraktur stellt eine typische Fraktur des Kindesalters dar. Bei der klassischen Grünholzfraktur handelt sich dabei um eine unvollständige Fraktur eines Röhrenknochens (meist Radius).
Es tritt keine Fragmentverschiebung, immer jedoch eine Achsabweichung sowie Druck-, Biegungs-, Stauchungs- schmerz auf. Die Kortikalis auf der konkaven Seite der Achsabknickung ist intakt oder lediglich angebrochen, die der Gegenseite komplett unterbrochen. Da Grünholzfrakturen typische Frakturen des Kindesalters sind und man im Röntgenbild die noch offenen Epiphysenfugen erkennt, handelt es sich bei dem Patienten um ein Kind.
Wie würden Sie eine Grünholzfraktur behandeln?
Klassische Grünholzfrakturen bergen das Risiko, dass die nur angebrochene Kortikalis sehr schnell heilt und somit die Kortikalis der gegenüberliegenden Seite in ihrer Heilung blockiert. Es kommt ohne Behandlung in fast 30 % zu Refrakturen oder zu Wachstumsstörungen. Bei Frakturen mit einer Achsverschiebung von < 10° kann eine konservative Therapie versucht werden. Bei größeren Achsknicken muss die Fraktur zunächst vervollständigt, dann reponiert und mit einem Gips ruhiggestellt werden. Ist die Fraktur nach der Reposition instabil, wird sie mithilfe von Spickdrähten immobilisiert.
Kennen Sie andere unvollständige Frakturen des Kindes?
Andere unvollständige Frakturen im Kindesalter sind die:
• metaphysäre Wulstfraktur, bei der die spongiösen Knochenfragmente ohne Dislokation ineinander geschoben sind. Das Periost ist intakt. Es handelt sich im eigentlichen Sinn um eine gestauchte Grünholzfraktur und tritt praktisch nur in den ersten 5 Lebensjahren auf.
• Bowing Fracture, bei der der Knochen verbogen, jedoch nicht die gesamte Kortikalis durchtrennt ist. Es existiert keine klare Frakturlinie. Stattdessen finden sich viele Haarrisse.
Für welche Frakturen gilt die Einteilung nach Aitken?
Die Einteilung nach Aitken dient der Klassifikation von Epiphysenverletzungen (› Abb. 10.2). Sie spielt bei der Indikationsstellung zur Operation eine wichtige Rolle. Eine Aitken-I-Fraktur (Salter II) wird in der Regel konservativ, eine Aitken-II-Fraktur (Salter III) meist operativ versorgt. Bei einer Aitken-III-Fraktur (Salter IV) ist die Indikation zur OP immer gegeben. Die Fragmente müssen in der Wachstumsfuge millimetergenau reponiert und adaptiert werden.
Die Aitken-Klassifikation ähnelt der Einteilung der Epiphysenverletzungen nach Salter-Harris.
Aitken 0 = Salter 1: Epiphysiolyse ohne Begleitfraktur
Aitken I = Salter 2: Partielle Epiphysiolyse mit Absprengung eines metaphysären Elements.
Aitken II = Salter 3: Partielle Epiphysiolyse mit Epiphysenfraktur.
Aitken III = Salter 4: Fraktur durch Epi- und Metaphyse.
Aitken IV = Salter 5: Kompressionsfraktur mit radiologisch darstellbarer axialer Stauchung der Epiphysenfuge
Welche Komplikationen können nach Frakturen der Epiphysen eintreten?
Da die Wachstumsfuge betroffen ist und Reparaturvorgänge einsetzen, werden hauptsächlich Veränderungen des Knochenwachstums beobachtet:
• Wachstumsverzögerung oder -stopp
• Schiefwachstum
• überschießendes Längenwachstum
Das Risiko für Komplikationen steigt von Aitken 0 bis IV (Salter I bis V).
Merke: Epiphysenverletzungen beeinflussen vor allem das Knochenwachstum: es kann zu verzögertem, schiefem oder überschießendem Längenwachstum kommen.
Bei ausgedehnten Knochendefekten, z.B. im Rahmen einer Trümmerfraktur, ist es manchmal erforderlich, eine Knochenplastik durchzuführen. Wo entnehmen Sie Material zur Füllung des Defekts?
Ausgedehnte Knochendefekte, bei denen durch große Zwischenräume eine primäre Frakturheilung ausgeschlossen erscheint, erfordern eine Füllung des Defekts mit knöchernem Material. Infrage kommen dabei autologe oder homologe Transplantationen rein spongiösen oder kortikospongiösen Materials. Dieses wird gewöhnlich dem Beckenkamm, seltener dem Trochanter, dem Tibiakopf, einer Rippe oder dem Radius entnommen. Nach der Operation muss die Fraktur ruhig gestellt und evtl. einer Extensionsbehandlung zugeführt werden. Eine gute Durchblutung der Knochenenden ist Voraussetzung für ein gutes Einheilen und Verwachsen des Transplantationsmaterials mit den Frakturenden.
Worin liegt die Gefahr bei ausgedehnten Weichteiltraumen nach Frakturen einer Extremität?
Ausgedehnte Weichteiltraumen einer Extremität führen zu einem Fraktur- bzw. Muskelhämatom. In engen Muskellogen, wie sie insbesondere am Unterschenkel oder am Unterarm vorliegen, steigt der Gewebedruck. Dies führt zu einem Kompartmentsyndrom. Durch die Druckerhöhung im Gewebe kommt es zur Kompression der Gefäße. Die Perfusion in den distalen Arealen wird reduziert oder sogar komplett unterbrochen. Unbehandelt führt ein Kompartmentsyndrom zu ausgedehnten Muskelnekrosen. Auch motorische und sensible Nerven können durch die Kompression schwer geschädigt werden. Daher müssen bei ausgedehnten Hämatomen und Weichteilschwellungen distal der Schwellung regelmäßige Kontrollen von Durchblutung, Motorik und Sensibilität (DMS) erfolgen. Unbehandelt führt ein Kompartmentsyndrom zum narbigen Umbau und zur Kontraktur der Muskulatur, im schlimmsten Fall zum Verlust der Extremität und zur Sepsis. Durch eine ausgeprägte Rhabdomyolyse kann der Patient ein akutes Nierenversagen (Crush-Niere) entwickeln.
Wo tritt ein Kompartmentsyndrom bevorzugt auf?
Das Kompartmentsyndrom entsteht meist als Folge von Traumen des Unterschenkels oder des Unterarms.
Am Unterschenkel existieren vier Kompartimente: ventral die Tibialis-anterior-Loge, lateral die Peroneusloge, in der Tiefe dorsal die Tibialis-posterior-Loge und dorsal oberflächlich die Loge mit dem M. triceps surae.
Am häufigsten findet man ein Kompartmentsyndrom im Bereich der Tibialis- anterior-Loge.
Am Unterarm existieren zwei Muskellogen: das der tiefen Unterarmbeuger und das der Handinnenmuskeln. Entwickelt sich im Bereich der tiefen Unterarmbeuger ein Kompartmentsyndrom, kann es unbehandelt zur Volkmann-Kontraktur führen.
Typisch für ein Kompartmentsyndrom sind abgeschwächte bis erloschene periphere Pulse mit Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen.
Welche klinischen Befunde erwarten Sie bei einem Kompartmentsyndrom?
In der Regel tritt ein Kompartmentsyndrom als Folge eines starken Traumas, einer längeren Kompression, einer Reperfusion oder sehr selten als Folge einer massiven muskulären Überbelastung auf. Klinisches Leitsymptom sind zunehmende, durch Analgetika kaum zu beeinflussende Schmerzen. Außerdem imponiert das Kompartmentsyndrom ähnlich wie eine Thrombose mit:
• Umfangzunahme der betroffenen Extremität
• glänzende und gespannte Haut
• Schmerzen in Ruhe, Muskeldehnungsschmerzen
• Überwärmung
Sensibilitätsstörungen und abgeschwächte oder gar aufgehobene periphere Pulse sind absolute Spätsymptome. Es ist mit dauerhaften Schäden zu rechnen. Druckmessungen in den einzelnen Muskellogen durch das Einführen von Drucksonden und Doppler-Sonografie bestätigen die Diagnose.
Merke: Geprüft werden die 4 „K“: Kontraktilität, Konsistenz, Kolorit, Kapillardurchblutung.
Kompartmentsyndrom
Welche Therapie leiten Sie ein?
Entscheidend ist eine schnelle Druckentlastung der betroffenen Muskelloge. Dies geschieht durch eine Freilegung der betroffenen Muskelloge und Faszienspaltung zur Druckentlastung. Nekrosen werden abgetragen. Die Wundheilung wird meist primär offen durchgeführt. Nach Verbesserung der Druckverhältnisse in der Loge kann ein sekundärer Wundverschluss erfolgen.
Was versteht man unter einem CRPS?
Unter einem CRPS (Complex Regional Pain Syndrome) versteht man ein komplexes Krankheitsbild im Bereich einer traumatisierten Extremität. Das Trauma selbst kann zum Teil sehr gering und vom Patienten kaum wahrgenommen worden sein. Synonym wurden früher Begriffe wie Morbus Sudeck, sympathische Reflexdystrophie oder Algodystrophie benutzt.
Die Pathogenese des CRPS ist noch nicht komplett geklärt. Vermutet wird eine Entzündungsreaktion, bei der gewisse Entzündungsmediatoren nicht ausreichend abgebaut werden. Dies verlängert das Entzündungsgeschehen. Auch im ZNS lösen diese Mediatoren spezielle Veränderungen aus. Es kommt zu einer Sensibilisierung der Neurone der zentralen schmerzregulierenden Zentren. Zusätzlich kommt es zu einer Fehlfunktion des Sympathikus, was zu einer Veränderung von Durchblutung und Schweißsekretion der Haut führt. Vasokonstriktion und verstärkte arteriovenöse Shunts führen zur Minderperfusion und Hypoxie des Gewebes. Es kommt zu einer Azidose. Typische Symptome des CRPS sind:
• Durchblutungsstörungen
• Ödeme
• Hautveränderungen
• Schmerzen
• Funktionseinschränkungen
• im Spätstadium Knochen- und Muskelatrophien
Es kommt im weiteren Verlauf zu einer kortikalen Reorganisation. Darunter versteht man eine Veränderung einzelner Repräsentationsbereiche im Bereich des zerebralen Kortex, wodurch es zu einer Ausweitung der Symptome über das ursprünglich betroffene Areal hinaus kommen kann.
Je nach Ausmaß der Veränderungen werden drei Stadien unterschieden (› Tab. 10.5).
Tab. 10.5 Stadieneinteilung des CRPS
Stadium : Klinik , Therapie
I : (0–3 Monate posttraumatisch)
Schwellung, Rötung, Wärme, Schmerz, Funktionsstörung, teigige Weichteilschwellung, glänzende, livide verfärbte Haut, Schmerzen, verminderter Muskeltonus
Ruhigstellung
Medikamente: Kalzitonin (Miacalcic Nasalspray®), NSAID, Adalat®, Valium, ggf. peripherer Schmerzkatheter
II : (3–6 Monate posttraumatisch)
blasse, glänzende Haut, Ödemrückgang, nachlassende Schmerzen, beginnende Muskelatrophie, radiologisch fleckige Knochendystrophie
Physiotherapie, Analgesie (s. o.)
III : (6–12 Monate posttraumatisch, irreversibel)
Weichteilschrumpfung, Muskelatrophie, blasse glänzende Haut, Kontrakturen, radiologisch diffuse Osteoporose
Physiotherapie, Quengelschienen, warme Bäder, Dehnungsbehandlung, Analgesie
Was ist eine Oberst-Leitungsanästhesie?
Eine Oberst-Leitungsanästhesie ist eine Lokalanästhesie für Operationen an Fingern und Zehen. Über eine Blockade der peripheren Nerven durch Injektion je eines Depots eines Lokalanästhetikums distal des Grundgelenks werden kleine Eingriffe an den Phalangen möglich. Insgesamt werden pro Finger oder Zehe je vier Depots gesetzt (› Abb. 10.3).
Was ist die häufigste Ursache von Klavikulafrakturen und wie sieht die Therapie aus?
Klavikulafrakturen sind entweder Folge eines Sturzes auf die Schulter (direktes Trauma) oder eines Sturzes auf den ausgestreckten Arm (indirektes Trauma). In etwa 80 % der Fälle ist die Fraktur im mittleren, in 5 % im medialen und in etwa 15 % im lateralen Drittel der Klavikula lokalisiert. Ungefähr 90% aller Klavikulafrakturen werden konservativ mittels Rucksack- (mediales und mittleres Drittel) oder Gilchrist-Verband (laterales Drittel) über 4–6 Wochen behandelt.
Eine operative Therapie ist indiziert bei:
• sehr weit lateral gelegener Fraktur mit Instabilität im Akromioklavikulargelenk
• schweren Begleitverletzungen mit Gefäß- und Nervenläsionen
• offener Fraktur oder drohender Durchspießung der Haut oder Pleura
• Pseudarthrose oder ausbleibender Frakturheilung nach 6 Wochen
• Herauslösung des lateralen Klavikuladrittels aus dem Periostschlauch (Kinder, Jugendliche)
• massive Dislokation der Frakturenden
Die meisten Klavikulafrakturen werden heutzutage mithilfe von Prevot-Nägeln stabilisiert. Alternativ dazu kommen je nach Lokalisation und Art der Fraktur Platten, Schrauben und Drähte zur Stabilisierung des Knochens zum Einsatz.
Ein 45-jähriger Mann ist beim Skifahren auf die Schulter gestürzt. Nach dem Sturz klagt er über massive Schmerzen im Schultergelenk. Bei der körperlichen Untersuchung kann der Patient die Schulter schmerzbedingt nicht bewegen. Sie tasten eine knöcherne Erhebung am lateralen Klavikularand. Die Röntgendiagnostik ergibt folgende Bilder (› Abb. 10.4)
Wie lautet Ihre Diagnose?
Die Anamnese, Klinik und die Röntgenaufnahmen erlauben die eindeutige Diagnose einer Schultereckgelenkluxation. Dabei handelt es sich um eine Luxation im Akromioklavikulargelenk, meist ausgelöst durch einen Sturz auf die Schulter bei abduziertem Arm bzw. bei starker Hebelwirkung am Schultergürtel. Je nach Ausmaß der Verletzung teilt man Schultereckgelenk- luxationen nach Rockwood in 6 Grade (› Tab. 10.6) ein. Die Rockwood- Klassifikation hat die früher gebräuchliche Tossy-Klassifikation weitgehend ersetzt. Beim Verdacht auf eine Schultereckgelenkluxation werden beide Schultern im a. p. Strahlengang unter passiver Belastung (Gewichte am hängenden Arm) geröntgt. Nach Ermüden der Muskulatur wird eine Panorama-aufnahme angefertigt. Entscheidend ist der Seitenvergleich mit der gesunden Seite. Bei Rockwood III ist im Röntgenbild, wie auch in diesem Fall, ein deutlicher Hochstand des lateralen Klavikulaendes sichtbar (› Abb. 10.5).
Tab. 10.6 Rockwood-Klassifikation der Schultereckgelenkluxation
Grad : Morphologie , Klinik
→ Rockwood I (Tossy I)
Bänderüberdehnung oder -zerrung (Ligg. acromioclaviculare u. coracoclaviculare)
Schmerzen, Schwellung
→ Rockwood II (Tossy II)
Ruptur des Lig. acromioclaviculare und Überdehnung des Lig. coracoclaviculare
Schmerzen, Hochstand und Instabilität des AC-Gelenks (Subluxation)
→ Rockwood III (Tossy III)
Riss aller Bänder im AC-Gelenk (Ligg. acromioclaviculare und coracoclaviculare)
Hochstand des lateralen Klavikulaendes, komplette Luxation (Klaviertastenphänomen)
→ Rockwood IV
wie Rockwood III mit Dorsalverschiebung der lateralen Klavikula
Luxation des AC-Gelenks und Dorsalverschiebung des lateralen Klavikulaendes
→ Rockwood V
wie Rockwood III mit Abriss der Mm. deltoideus und trapezius vom distalen Klavikulaende
massiver Hochstand der Klavikula, AC-Gelenksspalt 2–3× so weit wie auf der Gegenseite, radiologisch sind der Arm und die Skapula nach distal disloziert
→ Rockwood VI
Luxation der Klavikula unter das Akromion oder das Korakoid
tief stehende, unter dem Akromion oder dem Korakoid fixierte Klavikula