9. Sitzung: Religionspolitik in der Meiji-Zeit (1868– 1912) Flashcards
- Historischer Kontext
明治時代 Meiji jidai (1868-1912) „Ära Aufgeklärte Herrschaft“:
- Umfassende politische Reformen nach Vorbild der europäischen konstitutionellen Monarchien,
- Institution des Tennō als Staatsoberhaupt,
- Aufhebung der bisherigen feudalen Herrschaftsordnung und ihrer Einbindung
buddhistischer Institutionen in die Lokalverwaltung, hier v.a. das danka-System
Nationalistische Revision der ideologischen Grundlagen der Monarchie als Maßnahme zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft:
- Einführung westlicher „Technik“ im kulturellen, wissenschaftlichen und politischen Bereich,
- Nachwirkung der Schule der „Landeskunde“ (kokugaku 国学), die seit der späten Edo-Zeit eine Rekonstruktion der alten japanischen Kultur (d.h. „bereinigt von Fremdeinflüssen“) anstrebte,
- Politische Neubegründung des Status des Tennō als Gegenstand eines u.a. von Shintō-Mythologemen inspirierten Personenkults.
Achtung: Im Sinne Luhmanns kann hierbei kaum von einer Religion gesprochen werden. Es handelt sich um ein ideologisches System, das u.a. Anleihen bei mythologisch geprägten sowie modernen westl. Legitimitätsvorstellungen macht. Es stützt sich u.a. auf Begriffe von Genealogie, Souveränität, Sakralität und Unantastbarkeit, die in der Verfassung begründet sind.
- Tennō-Ideal im historischen Vergleich: Heian- und Meiji-Zeit:
In der Heian-Zeit nimmt bspw. der Tennō die “Schuld” seiner Untertanen auf sich.
Das politische Bestreben der Meiji-Verfassung zielt indessen darauf ab:
- den Tennō als Gegenstand eines nationalen „Bekenntnisses“ (bona fide) zu etablieren, dies
- nach dem Vorbild europäischer konstitutioneller Monarchien,
- verbunden mit einer Sakralitätsvorstellung, die sich an westlichen deistischen
Religionsauffassungen orientiert,
- diese jedoch in einen am Shintō orientierten genealogischen, rituellen und
mythologischen Kontext einschreibt, wobei
- Shintō-Praxis und -Verständnis ebenfalls einer fundamentalen Revision unterworfen werden.
- Trennung von Shintō und Buddhismus
In religionspolitischer Hinsicht wurden daher eingeleitet u.a.:
- eine „Trennung des Shintō vom Buddhismus“ (shinbutsu bunri 神仏分離), der als nicht in Japan entstandene Religion und wegen seiner institutionellen Verknüpfung
mit der Edo-zeitlichen feudalen Herrschaftsordnung (vor allem danka-System)
ideologisch diskreditiert und historisch obsolet schien, - eine sog. „Wiederbelebung des Shintō des Altertums“ (fukku shintō 復古神道) –
tatsächlich eine Neukonstruktion auf Grundlage der religionspolitischen Überlegungen zur Funktion des Tennō als modernes monarchisches Staatsoberhaupt.
Wichtige politische Slogans während der Umsetzung der entsprechenden politischen Maßnahmen zwischen 1868 und 1872: - Haibutsu kishaku 廃仏毀釈
„Den Buddhismus auslöschen und seine Priester vernichten“ - Shinbutsu bunri 神仏分離 „Trennung von kami und Buddha“
- Institutioneller Prozess
Als institutionelle Aspekte der Umsetzung der religionspolitischen Maßnahmen sind u.a. zu berücksichtigen:
- 1868 Einrichtung des „Schrein-Amts“ (jingikan 神祇官, wörtl.: „Amt für kami und lokale Gottheiten“, nominell ein Amt aus dem 8. Jhdt.), bis August 1871 tätig.
- 4. April 1868: Dekret an Shintō-Priester, die auch buddhistische Funktionen ausüben („die buddhistische Robe tragen“), und an alle „Schrein-Mönche“ (buddhistische Ordinierte an Shintō-Schreinen), alle religiösen Tätigkeiten einzustellen.
- Daran anschließend Laisierung des buddhistischen Klerus und seiner Institutionen bzw. ihre Auflösung in Shintō-Institutionen.
Reaktionen auf buddhistischen Widerstand gegen diese Maßnahmen:
- staatlich geduldete oder provozierte Gewalt gegen buddhistische Mönche, u.a. Verbrennung buddhistischer Schriften, Plünderung und Zerstörung von Tempeln, regional verschieden stark ausgeprägt.
- Durchführung der Maßnahmen war abhängig vom Ermessensspielraum der lokalen Behörden und dem Ausmaß der Gegenwehr der Buddhisten (buddh. Proteste wurden zum Anlass für polizeiliche Maßnahmen und weitere Repression genommen).
März 1872: Ende der Verfolgungen in Folge der Auflösung des Schrein-Ministeriums - Mehrjähriger Prozess der Verfolgung, institutionellen Unterdrückung und gewaltsamen Konflikte führt zu gesellschaftlichen Spaltungsphänomenen mit dem Effekt, dass Shintō und Buddhismus im kulturellen Bewusstsein der Menschen stärker unterschieden werden. Buddhismus wird als „un-japanisch“ bewertet.
- Säkularisierung buddhistischer Tempel führt zum Ausverkauf von Kunstgegenständen und Artefakten. In der Folge kommt es zu einem verstärkten Handel v.a. mit buddhistischen Plastiken, Bildern, Drucken, Manuskripten und Ritualgegenständen im internationalen Kunstmarkt.
- Eine Folge davon ist der sog. „Japonismus“ in der Kunst und eine allgemeine Japan- Begeisterung im Westen.
- „Normalisierung“ und „Indifferenz“ als religionspolitische Maßnahme:
- April 1872: Einrichtung des Religionsministeriums (kyōbushō 教部省), das nun für die Belange u.a. von Shintō und Buddhismus zuständig ist.
- 1875: Beendigung der Unterdrückungsmaßnahmen und dann Liberalisierung der „buddhistischen Angelegenheiten“ ist de facto Ausdruck einer politisch-strategischen „Indifferenz“ der staatlichen Institutionen gegenüber dem Buddhismus.
- Der Status der buddhistischen Priester und Mönche ist nicht länger geschützt; vielmehr wird eine „Liberalisierung“ buddhistischer Praxis entgegen der überlieferten Normen quasi ermutigt, bspw.:
a) Konsum von Fleisch
b) Heirat
c) Haartracht
Die Unterscheidung von buddhistischen Laien und Priestern wird vor dem Gesetz bedeutungslos. Ungeachtet des Ansehens einer institutionellen Zugehörigkeit ist nun allein die Gesetzestreue von Praktizierenden entscheidend.
Die Liberalisierung erzeugt einen neuen religiösen „Markt“ im Rahmen der neuen säkularen Herrschaftsordnung: - Liberale Haltung ist de facto eine Nicht-Anerkennung buddhistischer Institutionen durch den Staat,
- Beliebigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber religionsspezifischen Belangen schließt aber nicht ein aktives Bemühen um ihre Kontrolle durch die Behörden aus.
Buddhistischer Opportunismus
In der Folge bemühen sich buddhistische Institutionen verstärkt um Anerkennung durch politische Kräfte, bspw. durch Übernahme opportuner ideologischer Positionen:
- Unterstützung der nationalistischen und dann zunehmend imperialistischen und militaristischen Politik der späteren Meiji-Zeit,
- Legitimierung von Krieg als einem spirituellen Durchgang zur „Befreiung“,
- Befürwortung von „Selbstlosigkeit“, „Selbstopfer“ und sozialen Engagements als
Wiedergutmachung der staatlichen „Wohltaten“,
- die politische Position, dass eine aktive Unterstützung des Staates auch dem Schutz
der buddhistischen Lehre vor ausländischen Feinden diene,
- das Ideologem von der „Abhängigkeit von Herrschergesetz und buddhistischer
Lehre“ (ōbō buppō sōi 王法仏法相依),
- Bereitstellung von buddhistischen Feldgeistlichen.
Der buddhistische Widerstand in der späten Meiji-Zeit gegen die Annäherung an die Regierungspolitik bleibt marginal, er wird politisch und polizeilich verfolgt.
- Ergebnisse der Meiji-zeitlichen Religionspolitik:
- Trennung von Shintō und Buddhismus im Bewusstsein der breiten Bevölkerung
- Durchsetzung einer modernen Herrschaftsordnung mit dem Tennō als Souverän und Gegenstand einer für alle Untertanen verbindlichen Verehrung als menschlicher kami(Staatsshintō).
- Kategorialer Status des Shintō als Religion (bzw. Nicht-Religion) bleibt ungeklärt.
- Einbindung von Religion in einen nationalistischen Egalitarismus: religiös begründete Universalitätsvorstellungen werden mit Begriffen von Nation und Souverän (Tennō) verknüpft.