4. Sitzung: Religion und Herrschaftsordnung: Flashcards
Heian-Zeit 平安時代 Heian jidai, 794-1185 n.Chr.
Die Heian-Zeit gilt als Periode der kulturellen Blüte, geprägt vor allem durch die Ausdifferenzierung und Verfeinerung der höfischen Kultur.
- Kulturelle Entwicklungen:
- Neue Entwicklungen in der japanischen Literatur (Romanliteratur, bspw. Genji
monogatari u.a.), - Abnahme des Interesses an China und Verlust seiner Vorbildfunktion (dort Niedergang
der Tang-Dynastie) in Japan, - Einführung einer jap. Silbenschrift (später: hiragana).
- Politische Entwicklungen:
- zunehmende Dezentralisierung der Herrschaftsstruktur,
- wachsende Konkurrenz einflussreicher Familien um Einfluss; deren wirtschtliche Macht
und Grundbesitz führten zur Schwächung der Zentralmacht und Verlust der Autorität des
Tennō, - wachsendes Interesse des Hofes und der Aristokratie an buddhistischen Riten zum
„Schutz des Landes“ (護國 gokoku).
- Religiöse Entwicklungen:
- Pflege aufwändiger Rituale des tantrischen Buddhismus und seiner Doktrin, welche
japanische Gelehrte in China studierten. - Ausdifferenzierung divinatorischer und apotropäischer Ritualpraktiken.
- „Esoterisierung“ buddhistischer Doktrin und Praxis.
„Esoterisierung“ buddhistischer Praxis:
Die Heian-zeitlichen Entwicklungen setzen entsprechende Entwicklungen in Indien (vgl. „tantrischer Buddhismus“) und China ab dem 6. Jh. voraus, erfahren jedoch in Japan seit dem 8. Jh. in hohem Maß eine weiterführende Systematisierung der Ritualpraxis und Doktrin.
Dadurch wird eine stärkere Abgrenzung zur allgemeinen Praxis des Mahāyāna- Buddhismus möglich, aber nicht in dem Sinne, dass eine neue, davon unabhängige Lehre entstünde; vielmehr erfährt diese parallel eine exklusive „esoterische“ Ausformung:
Die Doktrin ist zunehmend auf die Durchführung (prächtiger) Rituale am Hof ausgerichtet (Ritualhandbücher), wobei durch besondere Ritualtechnik („Ritualmagie“) die Wirksamkeit der buddhistischen Praxis im Vordergrund steht: Zweckrationalität von Ritualpraxis.
- Wachsende Bedeutung von Schutzgottheiten nicht nur als „Erlösungshelfer“, sondern auch als „Wunscherfüller“ sowie Expertentum zu deren ritueller Behandlung.
- Auswahl der Ritualexperten setzt hierarchisch abgestufte Weihen innerhalb einer Lineage (Meister-Schüler-Abfolge) voraus und wird sehr restriktiv behandelt: Exklusivität und Ausschluss von Nicht-Eingeweihten (= Esoterik).
Wichtig: In der wissenschaftlichen Darstellung gebräuchliche Allgemeinbegriffe wie „esoterischer“ oder „tantrischer“ Buddhismus sind Neologismen der wissenschaftlichen Beschreibung; in der historischen Tradition wird v.a. der Sammelbegriff mikkyō 密教, („geheime Lehren“) verwendet - im Sinne einer „subtilen“ und „exklusiven“ Ausprägung des Mahāyāna.
- Buddhistische Riten als Mittel zum Schutz der Herrschaftsordnung
Als wesentliche Unterscheidungsmerkmale der esoterischen Traditionen müssen v.a. berücksichtigt werden:
- Praxis und Doktrin werden als technisch überlegene und besonders schnelle Verfahren zum Erlangen des „vollständigen Erwachens“ noch „in diesem Leben“ (sokushin jōbutsu 即身成佛) verstanden.
- Wegen ihrer besonderen rituellen Komplexität und spirituellen Ansprüche (bspw. in der Meditation) gilt die Praxis als nur wenigen dafür geeigneten Personen vorbehalten.
Praxis:
Der esoterische Buddhismus stellt sich in der Heian-Zeit als eine dezidiert elitäre und exklusive Ritualpraxis des Mahāyāna-Buddhismus dar, die vor allem von prominenten Mönchen mit guten Kontakten zum Hof und zur Aristokratie gepflegt wird und dort entsprechend privilegierte rituelle Dienste zum Schutz der Herrschaftsordnung verrichten. Rituelle Dienstleistungen werden ausgeführt u.a.:
- zum Schutz des Landes bzw. Herrschaftsbereichs (vor Krieg, Seuchen, Hungersnot, usw.).
- zum Schutz der Familie vor Unheil bzw. zur Sicherung ihres Wohlergehens,
- zur Sicherung von Kriegsglück
- zur Wahrsagung (bspw. Bestimmung günstiger Zeitpunkte für Unternehmungen, usw.)
- im Rahmen von therapeutisch-medizinischen, divinatorischen und astrologischen Anwendungen
Doktrin:
Ein wesentliches Merkmal des „esoterischen Buddhismus“ ist die restriktive Weitergabe der Ritualtechnik und die Ausbildung einer strengen Hierarchie, die durch entsprechende Weihe gesichert wird (daher Esoterik). Erst die Erlangung der jeweiligen Einweihungsstufen legitimiert zur Durchführung der betreffenden Rituale; dies ist verbunden mit der Vermittlung eines dafür erforderlichen Wissens (Ritualhandbücher usw.), das wiederum nur an wenige von einem Meister dafür Auserwählte weitergegeben werden darf.
Die legitime Weitergabe wird den wenigen ausgewählten Schülern in einer Meister-Schüler- Linie („lineage“) durch rituelle Weihe bestätigt (Sk. abhiṣeka; Jap. 灌頂 kanjō) und ggf. dem Hof gegenüber bekannt gemacht. Aus diesem Exklusionsmodell resultiert u.a. der während der Heian-Zeit beobachtbare Fokus auf rituelle Dienstleistungen für die Eliten:
- Zunehmende Bedeutung von rituellen „Weihen“, der sog. „Scheitelbenetzung“ (灌頂 kanjō; Skt. abhiṣeka), welche in Abstufungen entsprechend würdig befundenen Adepten gespendet werden (quasi als Ausweis der „Beförderung“).
- Zugleich wird die exklusive Legitimität der Überlieferung vor den Herrschaftseliten bezeugt und diese ihrerseits in den Überlieferungsprozess eingebunden.
- Daraus resultiert für alle Beteiligten ein gesteigertes Sozialprestige, und mit den entsprechenden Kontakten ist letztlich auch größerer Einfluss am Hof verbunden.
Ästhetik:
Für die Praxis werden spezifische Anlässe geschaffen, in denen es vor allem geht um:
- apotropäische Ritualmagie („Schutzzauber“) für Land und Familie.
- Betonung des Zeremoniellen, geprägt durch eine gezielt aufwändige und kostspielige Liturgie, die sowohl exklusive Sachkenntnis als auch entsprechende wirtschaftliche und logistische Möglichkeiten für die Umsetzung der Rituale erfordert – dies im Rahmen der damaligen Patronage und ästhetischen Vorlieben der Aristokratie.
- Der mit der Durchführung der Riten verbundene Aufwand erfordert wachsende Investitionen und zunehmend verfeinerte ästhetischen Präferenzen der Eliten.
D.h. der mit der Ritualmagie verbundene Effizienzgedanke wird nicht am ökonomischen Aufwand, sondern an der gewünschten Prachtentfaltung, Reputationsproduktion und den ritualmagischen Versprechen festgemacht.
Ökonomie der „Überbietung“:
- Verwendung möglichst kostbarer Materialien (Stoffe, Weihrauch, Parfums, usw.) für Opfergaben und wertvoller Ritualgegenstände.
- Prachtentfaltung und Reputationsproduktion durch Exklusivität.
- Seitens der Mönche besondere Kunstfertigkeit erforderlich für die Durchführung der Rituale (Gesänge, Auftreten, Gestik, Kleidung, etc.).
- Auf die Bedürfnisse der Angehörigen der kaiserlichen Familie, der Hofaristokratie und
hoher Militärs zugeschnittene Ritualpraxis, die für ihre Durchführung aufkommt.
Dieser prestigeorientierte, strenge „Ritualismus“ prägte anhaltend das ästhetische Bewusstsein der Eliten und ihre Förderung des Kunsthandwerks, von Literatur, Dichtung, Tuschemalerei, Musik, und später insbesondere die rituellen Aspekte des Theaters (hier v.a.: Nō-Theater 能).
Konkurrenz der Mönche Kūkai und Saichō
Die o.g. Aspekte der buddh. Praxis kommen ab dem 9. Jh. in der sog. „geheime Lehre“ des Buddhismus (mikkyō 密教) besonders stark zur Geltung.
Bis in die Gegenwart wirkungsgeschichtlich prägende Vertreter
Saichō und Kūkai nehmen im Jahr 804 an einer Gesandtschaft nach China teil;
Kūkai bleibt bis 806 in China. Nach Kūkais Rückkehr nach Japan entwickelt sich zwischen beiden Mönchen ein Konkurrenz- verhältnis, das sowohl um Fragen der Auslegung der Doktrin und Pflege der Ritualpraxis, damit im Zusammenhang stehend aber auch um fürstliche Protektion und Einfluss kreist.
Saichō bittet den jüngeren Kūkai, ihn in die höhere Ritualpraxis und die entsprechenden Einweihungsstufen einzuführen und ihm dies durch „Scheitelbenetzung“ (灌頂 kanjō, Sk. abhiṣeka) zu bestätigen. Kūkai lehnt dies ab und begründet ab. Im Ergebnis wechseln einige Schüler Saichōs zu Kūkai. Dadurch bildet sich allmählich eine institutionelle Trennung der esoterischen Taimitsu- (Tendai, auf dem Berg Hiei) und
der Tōmitsu- (Shingon, auf dem Berg Kōya) Überlieferungen heraus. Beiden miteinander konkurrierenden Traditionen gelingt es, in ihren jeweiligen Einflussbereichen u.a. die „Scheitelbenetzung“ (灌頂 kanjō) als Sakrosanktheitsritual für höfische Eliten bzw. die Angehörigen der Aristokratie zu etablieren.