1. Sitzung Religionsbegriff Flashcards
Religionsbegriff – was bedeutet „Religion“?
Für das vormoderne Japan kann kein klar umrissener Begriff von „Religion“ vorausgesetzt werden. Problematisch ist daher:
- was im japanischen Kontext als Phänomen der Religion gelten kann: Konstruktion der Außenperspektiven (=etische Darstellung).
- was ggf. die Menschen in der vormodernen japanischen Gesellschaft als ein Phänomen unterschieden haben, das nach heutigem Verständnis als Phänomen der Religion beschrieben werden könnte:
Rekonstruktion der Innenperspektiven aus einer Außenperspektive (=emische Darstellung).
- Heute gebräuchliche japanische Bezeichnungen für „Religion“
Eine allgemeine japanische Bezeichnung für den Begriff „Religion“ ist erst in der Meiji-Zeit (1868-1912) eingeführt worden, und zwar unter dem Eindruck der westlichen monotheistischen Religionssysteme:
shūkyō宗教 (wörtl. „Lehre der Ahnen“)
Historischer Kontext Religionsbegriff
Im Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Modernisierung seit den 1860er Jahren entsteht der Bedarf das religiöse Leben gesetzlich, institutionell und politisch zu erfassen und zu regeln. Daneben bleiben verschiedene überlieferte Bezeichnungen für religiöse Traditionen und Praxis bestehen. Diese implizieren aber kein übergreifendes oder allgemeines Verständnis von „Religion“ im Sinne eines gesellschaftlichen Phänomens.
ältere einheimischen Bezeichnungen
shintō 神道 Weg (zur korrekte Behandlung) von „Gottheiten“ (kami 神)
bukkyō 佛教 „Lehre des Buddha“
hō 法 wörtl. „Gesetz“, Übersetzungsbegriff für Skt. dharma,
eine traditionelle Selbstbezeichnung der buddhistischen Lehre.
modernes Religionsverständnis
****Es gibt jedoch keinen Oberbegriff (wie bspw. „Religion“), unter dem diese Bezeichnungen (etwa im Sinne von „Religionen“) subsumiert wurden.
Dabei ist aus heutiger, wissenschaftlicher Sicht zu berücksichtigen: Bei einem modernen (pluralistischen) Verständnis von Religion impliziert der Begriff „Religion“ immer auch eine Außenperspektive der Religion auf sich selbst:
- Religion versteht und bezeichnet sich selbst als Religion (etwa im Unterschied zur Wissenschaft, Politik, Wirtschaft usw.).
- Religion beschreibt und unterscheidet sich selbst als eine Religion neben anderen Religionen (bspw. im „interreligiösen Dialog“), d.h. sie anerkennt (oder nicht) andere Formationen als Religionen.
Beide Aspekte hängen aber nicht allein von den (gemeinsamen?) Kriterien und Definitionen von Religion, sondern auch von den vorherrschenden Deutungs-, Macht- und institutionellen Abhängigkeitsverhältnissen in einer Gesellschaft ab.
- Kriterien für die Unterscheidung von Religion
- Bezug auf überlieferte Doktrin, heilige Schriften, Wertekanon.
- Institutionen (Klöster, Schreine, etc.) und Autoritäten (Priester, Nonnen, etc.).
-
Bekenntnis, Zugehörigkeit zu einer „Gemeinde“, Abgrenzungen von anderen
Gruppierungen, „Abweichlern“, „Sekten“ u.ä. - Ritualpraxis, Feste, Bräuche
-** Beitrag zur Gesellschaft**
- Beschreibung der sozialen Funktionen.
Damit stellt sich aber auch die** Frage nach der Übertragbarkeit bzw. Relevanz vor allem der inhaltlichen Kriterien**, wie bspw.:
- Bezug auf Gottheiten,
- Jenseits- und Transzendenzvorstellungen,
- Idee der Erlösung,
- Berichte vom Ursprung der Welt und ihrem Ende, etc.
Die oben genannten inhaltlichen Kriterien lassen sich nur unter Vorbehalt auf die Situation in Japan übertragen. Aus diesem Grund ist eine an solchen Kriterien orientierte inhaltlich- substanzielle Definition von Religion problematisch.
- Inhaltlich-substanzielle Definition von Religion:
„Religion“ steht als Begriff zunächst im Zusammenhang der historischen Selbstbeschreibung christlicher Tradition, bisweilen verbunden mit einem Anspruch auf eine universale Gültigkeit. „Religion“ setzt dann u.a. voraus bzw. ist gleichbedeutend mit:
- monotheistischer Glaube
- Transzendenz, Gottesbezug
- universaler Wahrheitsanspruch, auch überweltlich, überzeitlich
- institutionell und verbindlich festgelegt (Kirche, Bekenntnis)
Unter solchen inhaltlichen Vorgaben könnte aber kaum von Religion in Japan gesprochen werden.
- Allgemeinere inhaltliche Definition:
Glaube an Gottheiten und ihre Mittler („privilegiertes Bewusstsein“) und entsprechende Autoritäten, wie bspw.:
- Priester, Medien, usw.
- Möglichkeit der Kommunikation mit und Beeinflussung von Gottheiten durch
Spezialisten (Ritualpraxis usw.)
- do ut des - „Ich gebe, damit du gibst“
- Trennung von Diesseits und Jenseits
- Moment der Transzendenz (?)
Diese allgemeinere inhaltliche Definition hätte aber im japanischen Kontext zur Folge, dass auch innerhalb einer Tradition zwischen religiösen und nicht-religiösen Aspekten unterschieden werden müsste. Beispielsweise: Ist buddhistische Doktrin eher„Religion“ oder „Philosophie“? Oder: Sind Shintō-Rituale „Religion“ oder „Brauchtum“? usw.
- Funktionalistische Definition:
Religion ist eine bestimmte Form menschlichen Handelns und Kommunizierens. Sie leistet u.a.:
- Sinndeutung von Welt
- Bezug zur Empirie: Wirklichkeitsdeutung
Funktion: Transzendierung von Einzelerfahrungen in ein überliefertes, normatives Deutungsschema als „Kommunikation von Sinn“ (Thomas Luckmann).
Institutionalisierung Bsp.
- Priesteramt,
- Gemeinde, Glaubensgemeinschaft,
- Mönchswesen, spezifische Lebensführung (Askese, Kleidung, Körperpflege und
-techniken, usw.) - Rituelle Pflege heiliger oder mythisch bedeutsamer Orte,
- Zuweisung entsprechender Funktionen zu bestimmten Gebäuden (bspw. Kloster,
Kirche, Tempel, Ahnenhalle, usw.)
Die Einordnung der Empirie in überlieferte religiöse Deutungsschemata
(= Wirklichkeits- deutung) ist in der Regel von (durch eine Institution autorisierte) „Sinnexperten“ abhängig. Sie erfolgt bspw.:
- diagnostisch, therapeutisch, lehrhaft,
- durch Überführung von „unbestimmter Kontingenz“ in „bestimmte Kontingenz“ als
Produktion von Sinn.
Deren **Wirklichkeitsdeutung ist aber nicht abhängig von Empirie **oder objektivierbaren oder transsubjektiven (aber nicht: intersubjektiven) Wahrheitsansprüchen (bspw. Evidenz).
In der Religion wird Empirie so gedeutet, dass die Deutung im Idealfall gerade nicht als falsch widerlegbar ist.
Das heißt:
Jedem diesseitigen Phänomen kann die religiöse Lehre ein jenseitiges Korrelat zuordnen, und zwar ohne dafür einen objektiv oder transsubjektiv gültigen Nachweis erbringen zu müssen (insofern: Glaube, intuitive Plausibilität).
„Religion ist Kommunikation im Medium Sinn“ (Niklas Luhmann)
Insofern ist eine Bedingung von Religion: Unentscheidbarkeit, Unbeobachtbarkeit des jenseitigen Korrelats. Religion kommuniziert somit die Setzung einer Grenze, die nur durch ein privilegiertes Bewusstsein erkennbar und ggf. überschreitbar ist - bspw. durch das Medium im Schamanismus u.ä.:
- Erfahrung jenseitiger Mächte, Jenseitsreisen, Mitteilung von Gottheiten etc.
Die Kommunikation der Grenze und Grenzüberschreitung findet jedoch stets diesseits der Grenze (im diesseitigen „hier und jetzt“) statt:
- re-entry der Unterscheidung in sich selbst; bspw. der Priester erklärt der Gemeinde, was nach dem Tod ist
Kriterien für die Unterscheidung von Religion im funktionalistischen Religionsbegriff
Die Religion kommuniziert Immanentes (diesseitige Erfahrung) als direktes oder indirektes Indiz für Transzendenz (Jenseits, göttliches Wirken usw.): „Jenseitiges“ kann aber nur im Diesseits als „Jenseitiges“ bestimmt werden: es findet ein sog. re-entry statt.
1. Religiöse Kommunikation
- weist bestimmten Erfahrungen, Gegebenheiten usw. einen jenseitigen „Sinn“ zu, wobei die Zuordnung selbst nicht beobachtbar und überprüfbar ist (d.h. sie verweist auf Transzendenz),
- vermittelt verbindliche Normen (bspw. Altruismus) und Praktiken (bspw. Rituale, Opfer, Gebete) zur Wahrung der Korrelate zwischen der unbeobachtbaren und der beobachtbaren Sphäre.
2. Religiöse Praxis beruht u.a. auf
- der Abhängigkeit der Praktizierenden von Autoritäten (Priester, Medien, Erleuchtete, usw.) mit entsprechender Deutungshoheit (bspw. für die Interpretation von Orakeln, der überlieferten Schriften u.ä.),
- Expertenwissen für die normkonforme Durchführung der Praxis (bspw. Rituale, Zeremonien usw.),
- kodifizierte, symbolische, exklusive Handlungsmuster (Rituale, Ämter, zu deren Ausübung nicht allein Fachkenntnis legitimiert).
Zusammengefasst:
Religion generiert spezifische Form der Kommunikation:
- Kommunikation des Unkommunizierbaren über die
- Beobachtung des Unbeobachtbaren
- Behandlung von Immanenz unter dem Aspekt von Transzendenz