10. Sitzung: Religionspolitik der Taishō- und Shōwa- Zeit (1912–1945) Flashcards
- Religionsfreiheit gemäß der Meiji-Verfassung (1889)
Religionsfreiheit wird mit dem Artikel 28 gewährt:
Art. 28. Alle japanischen Untertanen genießen, soweit es nicht gegen Frieden und Ordnung verstößt, und nicht ihren Pflichten als Untertanen Abbruch tut, Freiheit des religiösen Bekenntnisses.
- Fünf Stufen in der japanischen Religionspolitik 1868–1945:
(1) 1870 - ca. 1900: Konstruktion und Anerkennung eines nationalen „Bekenntnisses“ (nicht im engeren Sinne religiösen Glaubens): Ideologie des „Staatsshintō“, Versuch seiner Verbreitung als modernen, wissenschaftsnahen Staats- und Tennōkult in der Bevölkerung.
(2) Ca. 1900 – 1913: Tolerierung und Anerkennung von anderen Religionen (weitgehender Schutz der Religionsfreiheit), Zurückhaltung der Regierung gegenüber Fragen aktiver Religionspolitik.
(3) Seit 1906 wachsende staatliche Unterstützung des Shintō und seiner Institutionen, stößt auf Ablehnung seitens der Buddhisten und Christen (sehen im Shintō u.a. eine Konkurrenz im Sinne einer bevorzugten organisierten „Religion“).
(4) Nach 1912 (Taishō-Zeit 1912–26) auf Initiative des Vize-Innenministers Takejirō Tokonami (床次 竹二郎 1866–1935) zunehmende Einbindung der drei als „gleichwertig“ anerkannten Religionen in die politische Ordnung: 1. Shintō,
2. Buddhismus, 3. Christentum.
(5) Zwischen 1926–45 (Shōwa-Zeit: 1926–89) ideologische und institutionelle Annäherung der anerkannten Religionen an Staat und Regierung.
- Klassifizierung des Shintō:
- Schrein-Shintō: Jinja shintō 神社神道 , v.a. in Abgrenzung zu den höfischen Shintō- Riten des Tennō.
- Staatsshintō: Kokka shintō 国家神道 : nach dem 2. Weltkrieg gebräuchliche Bezeichnung für eine seit der Meiji-Zeit eingeführte ideologische Doktrin, welches Shintō-Ritus und staatliche Autorität assoziiert; 1945 aufgelöst.
- “Sekten”-Shintō: Kyōha shintō 教派神道 - seit 1882 gebräuchliche Bezeichnung für 13 anerkannte Shintō-Denominationen.
- Historische Voraussetzungen und Motive der Religionspolitik
(1) Konkurrenzverhältnis zwischen den drei anerkannten Religionen; buddhistischer und christlicher Widerstand gegen Versuche der Regierung, dem Shintō als eine Art „nationales Bekenntnis“ breitere Akzeptanz in der Bevölkerung zu verschaffen (bspw. durch verfügte Einrichtung von Hausaltären).
(2) Annäherung von Regierung und Religionsvertretern in Opposition zu
(a) liberalen, gewerkschaftlichen und sozialistischen politischen Bewegungen
und
(b) den sog. „neuen Religionen“ (shin shūkyō 新宗教).
(3) 1882 wurden 13 Shintō-Denominationen vom Schrein-Shintō als „Sekten- Shintō“ 教派神道 kyōha shintō bzw. 宗派神道 shūha shintō unterschieden; zu diesen zählen auch einzelne „neue Religionen“. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie sich auf historische Gründungsfiguren und Traditionen aus der späteren Edo- und Meiji-Zeit zurückführen lassen (gemäß historischer und ideologischer Kriterien).
(4) Seit der Taishō-Zeit (1912–26) u.a. in Folge von
- Zerfall der traditionellen Familienstrukturen auf dem Land
- sozialer Dynamiken v.a. in den urbanen Zentren,
- Entstehung eines Proletariats
zunehmender Zulauf zum „Sekten-Shintō“ und den „neuen Religionen“, damit verbunden zugleich starke Ausdifferenzierung und Pluralität insbesondere der nicht anerkannten religiösen Gruppierungen.
(5) Politische Folge: Bemühung um staatliche Kontrolle und ggf. polizeiliche Repression der zunehmend pluralen und als (zumindest potentiell) „subversiv“ erachteten religiösen Landschaft.
- „Neue Religionen“ (shinshūkyō 新宗教) und politische Repression
Shinshūkyō ist ein abwertend verwendeter Sammelbegriff für neue religiöse Körperschaften und Bewegungen, die ab ca. Mitte des 19. Jh. entstanden sind. Diese werden
- oft durch Spenden ihrer Anhänger finanziert,
- bilden eher heterogene Formen von Doktrin, Praxis und Organisation heraus:
a) Die „neuen Religionen“ werden nicht vom Staat als Religionen anerkannt,
b) sie bezeichnen sich selbst u.a. als dem Shintō oder Buddhismus zugehörig,
c) formulieren eklektische Lehren, die sich aus unterschiedlichen Traditionen speisen,
u.a. Daoismus, Konfuzianismus, Christentum, usw.
Charakteristische Merkmale der religiösen Inhalte und ihrer Anhänger:
- In der Regel unsystematische, eklektische Traditionsbezüge
- chiliastische bzw. messianische Heilslehren
- oft von charismatischen „Gurus“ geleitet
- oft diesseitige Glücksversprechen als Sinnangebote
- spirituelle Erweckungs- und Glückseligkeitslehren
- Sammelbecken für von trad. Religionen enttäuschte Laien, insbesondere auf dem Land,
unter Tagelöhnern, Stadtbevölkerung mit geringer Bildung.
- Ōmoto bzw. Ōmoto-kyō 大本 教, „Lehre der großen Grundlegung“
In den 1930er Jahren besonders einflussreiche und dann als „staatsgefährdend“ unterdrückte „neue Religion“:
- Ōmoto bzw. Ōmoto-kyō 大本 教, „Lehre der großen Grundlegung“
1892 von Deguchi Nao 出口 なお gegründet.
- die Funktion des religiösen Oberhaupts wird genealogisch bestimmt und seit der
Gründung von Frauen wahrgenommen (seit 2001: Deguchi Kurenai 出口 紅, geb. 1956).
Globale Ausrichtung der Ōmoto hinsichtlich Doktrin und Organisation:
- Inklusivistische Grundauffassung:
a) kami bzw. Gottheiten aus unterschiedlichen Traditionen können als Aspekte oder Manifestationen eines einzigen Gottes betrachtet werden,
b) prominente spirituelle Lehrer aus anderen Religionen können anerkannt, ihre Lehren mit der Ōmoto-Doktrin vereinbart bzw. ihr angeeignet werden.
- universaler Anspruch, durch die Praxis der „großen Grundlegung“ eine friedliche Weltgemeinschaft zu errichten;
- in Europa wird die Pariser Mission gegründet (tätig 1925 bis 1933): Lehrt u.a., dass Ōnisaburō Deguchi der neue Messias sei;
- mit Bezug auf die buddhistische Tradition wird u.a. gelehrt, dass Ōnisaburō Deguchi der Buddha Maitreya sei (auch hier: messianische Auffassung).
- für den japanischen Traditionskontext wird insbesondere
Kunitokotachi no Mikoto 国常立尊 als Beschützer von Nation und Staat verehrt. Dadurch wird auch der Versuch eines genealogischen Traditionsbezugs im Sinne des Shintō unternommen:
a) Kunitokotachi no Mikoto wird im Nihon shoki und im Kojiki als einer von drei
ursprünglichen Weltschöpfungsgottheiten erwähnt und
b) im Yoshida-Shintō mit dem „Herrn des Himmels“ (Amenomi-naka-nushi 天御中主)
identifiziert.
Um die Ōmoto-Lehre international etablieren zu können,
- wird die missionarische Literatur u.a. in Esperanto verfasst,
- Ludwig Lezjer Zamenhof (1859–1917, Erfinder des Esperanto) der Status eines kami zugeschrieben,
- Esperanto als eine Sprache der Ōmoto-Doktrin instituiert.
In der Zeit des Militarismus und Ultranationalismus (1935–45) sieht sich die Ōmoto-Lehre starker politischer Repression ausgesetzt:
- Verfolgung in Japan nach 1935: Mitbegründer Deguchi Onisaburō (1871–1948) wird zu
Zwangsarbeit und Gefängnis verurteilt (1935–42).
- Anschließend „Wende“ zur Unterstützung des Militarismus.
- 1949 Neuorganisation, bezieht seitdem pazifistische Positionen.
Aktuell zwischen 50.000 und 170.000 Mitglieder in Japan.
- Die Rolle der Religion im militaristischen Staat
Seit 1936 werden 5 Begründungen zur Verfolgung v.a. der „neuen Religionen“ verwendet:
1. Majestätsbeleidigung
2. Stiftung von Unfrieden in der Bevölkerung (bspw. durch Aberglaube und magische
Praktiken)
3. Verweigerung medizinischer Versorgung
4. Betrug an der Bevölkerung (bspw. durch Spenden usw.)
5. Beschädigung der öffentlichen Moral
Seit 1937 (Kriegsbeginn 2. Jap.-Chin. Krieg):
Einbindung der anerkannten drei Religionen (Shintō, Buddhismus, Christentum) in die ideologischen und institutionellen Belange der Kriegsführung:
- Tennō-Verehrung und patriotische Gesinnung.
- Unterstützung der Armee an der Front (Feldgeistliche, Tätigkeit im Lazarett, usw.).
- Unterstützung der Zivilbevölkerung an der „Heimatfront“.