5 Ätiologie: Soziologische Theorien dissozialen Verhaltens Flashcards
Anomietheorie nach Merton
- Anomie = sinkende Verbindlichkeit sozialer Normen für Individuen
- entsteht, wenn die kulturellen Ziele / Werte wie zB Anerkennung (KULTURELLE STURUKTUR) und die sozialstrukturell bestimmte Verteilung / Verfügbarkeit legitimer Mittel zur Zielerreichung wie zB Geld, Macht, Beziehungen (SOZIALE STRUKTUR) auseinanderklaffen
- Dies erfordert dann eine irgendwie geartete “Lösung” des Individuums: Eine solche ist KRIMINALITÄT, eine Form der Innovation: Kulturelle Ziele werden akzeptiert, die Mittel zu ihrer Erreichung sind nicht vorhanden und werden durch illegale Mittel ersetzt.
Nenne weitere Anpassungstypen an die Anomie / Desorientierung neben Innovation/Kriminalität.
- Konformität: Kulturelle Ziele akzeptiert, legale Mittel vorhanden
- Ritualismus: kulturelle Ziele soweit reduziert, bis mit legalen Mitteln erreichbar
- Sozialer Rückzug: Kulturelle Ziele und legale Mittel werden abgelehnt (Selbst- oder Fremdexklusion)
- Rebellion: Kulturelle Ziele und legale Mittel werden aufgehoben und durch neue substituiert
Bewertung des Anomie-Ansatzes hinsichtlich Erklärungswert
+ Altersverläufe: gut durch maturity gap (reifungsbedingte Diskrepanz: man hat als Jugendlicher zwar schon kulturelle Ziele, aber noch keine legitimen Mittel; das ändert sich mit Eintritt ins Berufsleben)
- unterschiedliche Deliktgruppen: Eigentumsdelinquenz / instrumentelle Gewalt gut, andere weniger
- Geschlechterunterschiede: spekulativ: Haben Frauen andere Ziele / Mittel?
Bewertung des Anomie-Ansatzes hinsichtlich praktischer Leistungsfähigkeit
- Umsetzbarkeit für Prävention und Intervention: liefert Implikationen für sozialpolitische Aufgaben außerhalb des Wirkungsbereichs von Kriminalprävention, Implikationen für individuelle Prävention / Intervention sind (nur) indirekt abzuleiten
- Prognoseleistung: keine Möglichkeit individueller Vorhersagen (Ansatz ist rein deskriptiv, Bedingungen für das Auftreten einzelner Anpassungsarten sind nicht genau definiert)
Bewertung des Anomie-Ansatzes hinsichtlich Empirie
- Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und Kriminalität (insb. Gewalt) ist gut belegt
- kleine Effekte zwischen Anomie und einzelnen Delikten sind nicht ungewöhnlich
Bewertung des Anomie-Ansatzes hinsichtlich Prägnanz
- Kritik: Ziele und Mittel oft nicht trennbar
- Vernachlässigung von indifferenten Haltungen und Differnzierung zwischen tatsächlichem Handeln und den Werten
- auch Zugänge zu illegitimen Mitteln sind unterschiedlich verteilt
Labeling / Ettikettierung nach Tannenbaum. Skizziere grob.
Ursache für abweichendes Verhalten ist die soziale Reaktion der Umwelt auf (primären) Normbruch:
- primäre Devianz > Labeling und Zurückweisung / Sanktionen durch die Umwelt > Einschränkungen des sozialen / beruflichen Handlungsfeldes, Reduktion konformer Handlungsmöglichkeiten > verstärkt wiederum abweichendes Verhalten
>
- sekundäre Devianz > langfristig: Akzeptanz der abweichenden Rolle > Entstehung eines devianten Selbstbildes
Labeling und Etikettierung nach Tannenbaum: Wovon ist die soziale Reaktion auf deviantes Verhalten abhängig?
Welche Arten von Reaktionen werden unterschieden und welche wirken stärker?
- Normanwendung: abh. vom Status des Devianten (zB alte Dame vs Penner)
- Normsetzung: abh. von wirtschaftlicher / politischer Macht (zB Steuerbetrug)
> Reaktion erst im informellen / mikrosozialen Bereich, später durch gesellschaftliche Instanzen wie Polizei / Justiz (stärkere Definitionsmacht!)
Bewertung des Labellingansatzes:
+ erklärungstheoretischer Verdienst Hinweis auf Relativität der Normsetzung / des sozialen Zuschreibungsprozesses von Devianz
+/- explanatorisch gut für Verfestigung, weniger für Entstehung von Kriminalität
- Etikettierungsausmaß bestimmende soziale, personale, situative Bedingungen werden vernachlässigt
- präventiver Ertrag gering: Wie soll auf jede Art der Bewertung verzichtet werden?
- prognostisches Dilemma: negative Prognosen müssten wegen self fulfilling prophecy Gefahr abgelehnt werden
Empirie zum Labeling Ansatz
- Empirische Bewährung für Gesamtmodell inkonsistent
- allerdings potentielle Effekte formeller Kontrollinterventionen durch Polizei / Justiz nachgewiesen (auf del. Selbstbild, Destabilisierung sozialer Bindungen, Verringerung von Zugangschancen)
- Zusammenhang zw Etikettierung und Devianz eher über REDUKTION VON ZUGANGS- UND TEILHABECHANCEN vermittelt als über Entstehung eines del. Selbstbildes
Neutralisierungsmechanismen: Grundgedanke und Mechanismen nennen
Delinquente Personen haben die gesellschaftlichen Normen zwar auch internalisiert, allerdings Techniken gelernt, um die negativen Affekte von Normbruch zu neutralisieren / rationalisieren
- Ablehnung der Verantwortung
- Verteidigung der Notwendigkeit
- Verneinung des Unrechts
- Abwertung des Opfers
- Verdammung der Verdammenden
- Berufung auf höhere Instanz
- Metapher des Hauptbuches
- Euphemistischer Sprachgebrauch
Bewertung des Neutralisierungsansatzes: Nachteile
- Techniken empirisch schwer voneinander trennbar
- unklar
A. wie soziale IA sein muss, um NT zu erlernen
B. wie NT-Entwicklung mit sozialstrukturellen / psychologischen Merkmalen zusammenhängt
C. wie stark NT sein müssen, um internalisierte Normen zu neutralisieren
D. in welchen Situationen NT bevorzugt Anwendung finden - kaum Prognosen möglich, wann welche NT zur Anwendung kommen wird
Bewertung des Neutralisierungsansatzes: Vorteile
- auf fast alle dissozialen Handlungen anwendbar
2. liefert gute Ansätze für Prävention / Intervention
Konzept der Selbstkontrolle nach Gottfredson und Hirschi: Was ist Selbstkontrolle?
Die Fähigkeit, auf unmittelbare aufwandlose Befriedigung (durch eine Handlung) verzichten zu können, wenn sie langfristig negative Effekte bringt
> > bei niedriger SK werden Kurzzeitfolgen hoch bewertet und Langzeigtkosten bagatellisiert
Was sind Grundannahmen des Selbstkontrollkonzepts?
- Kriminalität ist auf Eigeninteresse und Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet.
- kriminellen Handlungen geht eine Kosten-Nutzen-Kalkulation voraus, die allerdings durch Selbstkontrolle (Hoch-/Niedrigbewertung von Kurz-/Langzeitfolgen) subjektiv gefärbt ist (denn sonst dürften Menschen bei harten und wahrscheinlichen Strafen gar keine Straftaten begehen)
> > kriminelle Handlungen sind durch sofortigen kurzfristigen Nutzen (zB Diebesgut) bei langfristigen Folgen / Kosten (Strafe, Ächtung) verbunden.