Theorie des Befragtenverhaltens + Fehlerquellen im Interview Flashcards
Soziale Interaktion im Interview: Ähnlichkeit mit Alltagskommunikation, aber
- Künstlichkeit der Situation, Formalisierung
- instrumenteller Charakter der Befragung
- asymmetrische Interaktion zwischen Interviewer und Befragten
- folgenlose, unpersönliche Kommunikation unter Fremden in weitgehender Anonymität
- zugesicherte Vertraulichkeit
- in der Regel Neutralität des Interviewers (bei Befolgen der neutralen Interviewtechnik = keine Sanktion von Antworten; im Gegensatz dazu: „weiche“ oder „harte“ Interviewtechnik)
Voraussetzungen der Befragung:
1) Kooperation der Befragten
- unterschiedliche Motive der Befragten, an Interview teilzunehmen (z.B.
Interesse am Thema, Kundtun der eigene Meinung)
- Kooperation (noch) Regelfall
2) Norm der Aufrichtigkeit in Gesprächen mit Fremden
- kultureller Kontext wichtig
3) „gemeinsame“ Sprache zwischen Interviewer und Befragten
- Fragen und Antworten müssen von Befragten und von Interviewern in
gleicher Weise interpretiert werden
Theorien des Befragtenverhaltens:
1) faktorenanalytische Theorie der Frage
2) Befragtenverhalten im Rational-Choice-Modell
3) kognitive Modelle des Befragtenverhaltens
• verschiedene Theorie legen Antwortverzerrungen aufgrund der
spezifischen Befragungssituation nahe (Instrumenteneffekte,
Interviewereffekte, Effekte von Befragtenmerkmalen)
• zahlreiche empirische Befunde zu Fehlerquellen im Interview
• Regeln zur Frageformulierung und zur Fragebogenkonstruktion
helfen, diese Fehler zu minimieren
Theorien des Befragtenverhaltens:
1) faktorenanalytische Theorie der Frage (Kurt Holm)
Erweiterung der klassischen Testtheorie:
Antwortreaktionen hängen nicht nur von Zieldimension ab, sondern
werden in der Regel zusätzlich durch Fremddimensionen und den
Faktor der sozialen Erwünschtheit beeinflusst
(siehe auch Schaubild auf Folie 6)
linear additives Modell des Zustandekommens der Antwort
R=aZ+b1F1+b2F2+…+bmFm+c*SW+Zufallsfehler
konkrete empirische Umsetzung: Faktorenanalyse zur Bestimmung
der Parameter a, bx und c
Theorien des Befragtenverhaltens:
2) Befragtenverhalten im Rational-Choice-Modell (Hartmut Esser)
Antwortverhalten als Kosten-Nutzen-Kalkulation
Nutzen: Nutzen einer wahren Antwort (Ut, z.B. Aufrechterhaltung der
personalen Identität), kulturelle soziale Anerkennung (Uc)
Kosten: situationale soziale Missbilligung (Us)
Antwortverhalten durch Nutzenmaximierung, Grundlage: subjectively
expected utility (SEU) (Kombination aus Wahrscheinlichkeit und
Nutzen)
SEUgesamt=p(Ut)Ut +p(Uc)Uc+p(Us)*Us
Antwortverzerrungen zu erwarten, wenn
• kulturelle Normen vom „wahren Wert“ abweichen und Befragte
Nutzen aus sozialer Anerkennung erwarten
• soziale Erwartungen in der Befragungssituation sich vom „wahren
Wert“ unterscheiden und Befragte Nutzen aus sozialer Anerkennung
erwarten
keine konkrete empirische Umsetzung, aber Plausibilisierung
bestimmter Regeln der Durchführung von Interviews, z.B. neutrale
Interviewtechnik: keine Missbilligung von Antworten, keine Belohnung
sozial erwünschter Antworten
Theorien des Befragtenverhaltens:
3) kognitive Modelle des Befragtenverhaltens
z. B. Norman M. Bradburn, Norbert Schwarz, Seymor Sudman
kognitive Psychologie: Urteils- und Erinnerungsvorgänge spielen
wichtige Rolle bei Zustandekommen einer Antwort
→ psychologische Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Informationsverarbeitung als Grund für Antwortverzerrungen gilt für Retrospektivfragen, aber auch für Einstellungs- und Meinungsfragen
Befragte sind sich ihrer Antwort in der Regel von vornherein nicht
bewusst, sondern formen sie in der Befragungssituation
Antwortverzerrungen:
Merkmale der Befragungssituation (z.B. Fragebogen, Interviewer)
fließen in die Informationsverarbeitung der Befragten ein bzw.
beeinflussen diese in eine bestimmte Richtung
Theorien des Befragtenverhaltens:
3) kognitive Modelle des Befragtenverhaltens
5-Stufenmodell des Antwortverhaltens in Befragung: CRIME
- Verstehen (Comprehension)
- Informationssammlung (Retrieval)
- Entscheidung (Integration/Judgement/Estimation)
- Abbildung der Antwort (Mapping)
- Anpassung der Antwort (Editing)
CRIME
- Verstehen (Comprehension)
- Verarbeitung der Frage und Instruktionen
- Identifizierung der logischen Struktur der Frage
- Identifizierung des intendierten Konzepts der Frage
Beispiel Belson (1981): Was bedeutet „few“ in „over the last few years“?
- nicht mehr als 2 Jahre (12%) - 10 und mehr Jahre (19%)
- 7 und mehr Jahre (32%) - sonstige Antworten (37%)
CRIME
- Informationssammlung (Retrieval)
- Verwendung einer spezifischen Strategie zum Abrufen von Informationen
- Schließung von Detaillücken durch Hilfsstrategien
Beispiel: Erinnerungsprobleme bei Retrospektivfragen
forward telescoping: Vordatierung weiter zurückliegender Ereignisse
→ Nennen von Ereignissen, die vor Referenzperiode stattgefunden haben
führt zur Überschätzung von Häufigkeiten
CRIME
- Entscheidung (Integration/Judgement/Estimation)
- Vollständigkeit der Informationen?
- Integration der abgerufenen Informationen
- Schätzung auf Basis der (partiell) abgerufenen Informationen
(Verwendung von Heuristiken)
Beispiel: Ankerheuristiken, Orientierung der geschätzten Antwort an Anker
Stephan/Kiell 1998: Urteilsprozesse bei professionellen Akteuren im
Finanzmarkt (Ausführlich siehe Folie 14)
CRIME
- Abbildung der Antwort (Mapping)
- Übertragung der Entscheidung in Antwortkategorie
- Effekte der Antwortkategorien möglich
Beispiel: Schwarz et al. 1991, Effekt numerischer Werte der Antworten
Frage: „Wie erfolgreich waren Sie bisher in Ihrem Leben? Sagen Sie es bitte
nach dieser Leiter hier. Es geht so: Null (-5) bedeutet überhaupt nicht
erfolgreich und 10 (+5) bedeutet, Sie waren bisher außerordentlich
erfolgreich. Welche Zahl nehmen Sie?“ (Skala dazu auf Folie 16)
CRIME
- Anpassung der Antwort (Editing)
- „Editierung“ der Antwort
- Fremdtäuschung (impression management): Darstellung des eigenen
Selbstkonzepts in möglichst gutem Licht - Spezialfall der Fremdtäuschung: Soziale Erwünschtheit
• Furcht vor sozialer Verurteilung, konformes Verhalten, Orientierung an
verbreiteten Normen und Erwartungen
• abhängig von Bezugsgruppe und Situation - Selbsttäuschung (self-deceptive enhancement): Fragen berühren
kritischen Punkt des Selbstbildes - Anpassung der Antwort häufig bei heiklen Fragen
Beispiel: Tourangeau et al. 1997
methodologische Studie zu Befragungsangaben im Bereich Sexualverhalten
und anderer sensibler Themen, unter anderem untersucht: Effekte von
selbstauszufüllenden Fragebögen versus Interviewer
Fehlerquellen im Interview
Befragtenmerkmale
Instrumenteneffekte
Intervieweffekte
Befragtenmerkmale
- soziale Erwünschtheit
- Zustimmungstendenz
- Tendenz zu Mitte
- Item-Nonresponse
- Non-Attitudes
Instrumenteneffekte
- Frageeffekte
- Reihenfolgeeffekte
- Ankereffekte
Intervieweffekte
- Interviewermerkmale
- Interviewsituation
- Sponsorship-Effekte
- soziale Erwünschtheit
systematische Verzerrung des Antwortverhaltens in Richtung des
(subjektiv wahrgenommenen) Ortes sozialer Erwünschtheit
Auftretenswahrscheinlichkeit wird größer,
• je heikler der erfragte Sachverhalt (erhöhte psychologische Kosten
der „wahren“ Antwort)
• je größer die eigene Unsicherheit über den „wahren Wert“ (Einsatz
von Heuristiken, Berücksichtigung Fremddimension)
typische Beispiele:
• berichtete Beteiligung an Hausarbeit
• berichtete Parteipräferenz
• berichtete Anzahl Sexualpartner
- soziale Erwünschtheit
systematische Verzerrung des Antwortverhaltens in Richtung des
(subjektiv wahrgenommenen) Ortes sozialer Erwünschtheit
Gegenmaßnahmen
• neutrale Frageformulierung, neutrale Interviewtechnik
• in Einzelfällen: suggestive Frageformulierung
Beispiel NEPS: „Manchmal geht man auch nicht zur Arbeit, obwohl man gar
nicht krank ist, z.B. weil man keine Lust hat. Hand aufs Herz: An wie vielen
Tagen haben Sie in den letzten zwei Monaten `blau gemacht´?“
• vollständige Anonymisierung der Antwort, z.B. Antwortübergabe im
Kuvert, Randomized-Response-Technik
• nachträgliche Identifizierung problematischer Items (z.B. durch
Faktorenanalyse) und evtl. deren Ausschluss in der Analyse
• Messung der individuellen Neigung zu sozial erwünschtem
Verhalten (social-desirability-Skalen, vgl. Edwards 1957) und
Berücksichtigung der Messungen in der statistischen Analyse
- Zustimmungstendenz (Akquieszenz)
inhaltsunabhängige Zustimmungstendenz: Neigung, eine gestellte
Frage unabhängig von ihrem Inhalt positiv zu beantworten
• Zustimmungstendenz als Persönlichkeitsmerkmal (geringe Ich-Stärke,
Behauptungsstrategie unterprivilegierter Personen)
Beispiel 1: Carr 1971 Anomie-Skala, siehe Diekmann 2010, S. 452
Befragte: arme, Schwarze Personen in Südstaaten der USA
Items zur Anomie-Skala einmal positiv, einmal negativ formuliert; Unterteilung
der Stichprobe in zwei Unterstichproben
negativ formulierte Variante eines Items: „Heutzutage weiß man wirklich nicht
mehr, auf wen man zählen kann.“ → 61 Prozent Zustimmung
positiv formulierte Variante desselben Items: „Heutzutage weiß man, auf wen
man zählen kann.“ → 10 Prozent Ablehnung
Beispiel 2: Jackman 1973: Education and prejudice or education and responseset?
Ausgangspunkt: frühere Studien zeigten antisemitische Einstellungen vor allem
bei wenig Gebildeten, aber: zugrunde liegende Items waren oftmals so
formuliert, dass Zustimmung antisemitische Einstellungen signalisieren sollten;
somit anfällig für Akquieszenz
Studie von Jackman zeigt: Zusammenhang zwischen antisemitischen Einstellungen
und Bildung ist hauptsächlich über Zustimmungstendenz zu erklären