6 Störungslehre KJP Zwangsstörungen 1 Flashcards
Was sind typische zwanghaft anmutende Verhaltensweisen im Kindesalter?
Kindlicher Aberglaube / magisches Denken:
− Präoperationale Entwicklungsstufe (Piaget): Kinder verstehen logische Grundsätze noch nicht
und ihr Denken ist von Egozentrizität geprägt, Wünsche / Gedanken können die reale Welt
verändern
− Beispiele: Schwüre, „step on a crack, you‘ll break your mother‘s neck“, Geburtstagskerzen in
einem Zug auspusten, Glücksbringer…
Rituale:
− Funktion: Sicherheit, Zugehörigkeit, Stabilität
− Beispiel: dieselbe Einschlafgeschichte immer gleich erzählt, derselbe Teller mit demselben
Becher beim Abendessen…
Magisches Denken und Rituale sind:
− …Teil der normalen Entwicklung, kommen häufig im Vorschulalter vor
− …zeitlich begrenzt, dominieren nicht das Verhalten
− …werden nicht als fremdartig / inkongruent erlebt
− …zwar manchmal eine Herausforderung für die Eltern, aber
von Zwangsstörungen durch den Leidensdruck klar abzugrenzen!
Was sind Merkmale von Zwangsstörungen?
− Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen
− Teilweise auch passives Vermeidungsverhalten (z.B. Türklinke nicht berühren) oder
Verheimlichen von Zwangsgedanken
− bei Kindern und Jugendlichen (KiJu) häufig Zwangsgedanken und –handlungen
gemischt
− bei jüngeren Kindern auch isolierte Zwangshandlungen (v.a. bei komorbider Ticstörung:
„not-just-right“
-Zwänge) (Unvollständigkeitsempfinden)
− Bei Jugendlichen teils auch isolierte Zwangsgedanken
− Inhalte sind bei KiJu teilweise altersabhängig und deutlich weniger stabil als bei
Erwachsenen
− Halten stundenlang an und verursachen erhebliches Leiden, z.B. Beeinträchtigung
von Alltag, Schule und sozialen Beziehungen, teils auch körperliche Schäden
− Binden bei KiJu die Familie ein („family accomodation“)
→ hohe Heterogenität in Erscheinungsbild! (Es gibt also keine einheitliche oder typische Erscheinungsform, sondern ein breites Spektrum individueller Ausprägungen.)
Was kennzeichnet Zwangsgedanken?
− Ideen, Gedanken, Vorstellungen und Impulse, die als störend, lästig, ungewollt oder
sinnlos erlebt werden (Ich-Dyston) UND die wiederholt und länger andauernd auftreten
− Widersprechen häufig eigenen Wertvorstellungen, berühren Tabus, verursachen
Angst oder Unsicherheit
− Zwangsgedanken wird Widerstand entgegengebracht, z.B. durch ignorieren,
unterdrücken oder Ausschalten mittels Gegengedanken oder Handlungen
(„neutralisieren“)
− Achtung: dürfen nicht besser durch eine andere psychische Störung erklärt werden,
vgl. „zwanghaftes“ Kalorienzählen oder Essensrituale bei Essstörungen
Was kennzeichnet Zwangshandlungen?
− Wiederholte, zweckgerichtete und beabsichtigte Verhaltensweisen, die nach
bestimmten Regeln und meist in der gleichen Abfolge ausgeführt werden
− Können offen beobachtbar (z.B. Waschen) oder kognitiv/mental sein (Denken eines
Gegengedankens)
− Können als unfreiwillig erlebt werden („muss das machen“)
− Bei KiJu: auch interpersonelle Zwangshandlungen, z.B. Fragerituale,
Rückversicherungen
− Funktion: nicht sinnvoll (oft aufgrund Anzahl der Wiederholungen), sondern zur
Reduktion von Ängsten oder Spannungen oder der Vermeidung von Katastrophen,
die der Person selbst oder nahestehenden Personen ansonsten zustoßen
− Handlung steht in keiner logischen Beziehung zu dem, was sie bewirken oder
verhindern soll ODER ist eindeutig übertrieben
Welche Zwangsgedanken und Zwangshandlungen treten im Kindesalter häufig auf?
• Zwangsgedanken/-bilder:
• Kontamination: z. B. „Türklinke ist voller Keime“
• Symmetrie/Ordnung: z. B. „Das liegt nicht richtig“
• Glücks-/Unglückszahlen: z. B. Vermeidung vermeintlicher Unglückszahlen
• Furcht vor Schlimmem: z. B. Horrorbilder eines Autounfalls
• Zwangshandlungen: • Wasch-/Kontrollzwänge: Nur mit Handschuhen Türklinken berühren, Mutter muss Essen „vorkosten“ • (An-)ordnen: Bleistifte parallel auf Tisch legen • Zähl-/Wiederholungszwänge: Treppenstufen zählen, Kuscheltiere im Bett ordnen • Berührungszwänge: Türrahmen mehrfach abklopfen, bevor man Räume wechselt
Welche Zwangsgedanken und Zwangshandlungen treten im Jugendalter häufig auf?
• Zwangsgedanken/-bilder:
• Religiöse Inhalte/Gewissen: z. B. „Was, wenn ich im Gottesdienst laut fluchen muss“
• (Auto-)aggressive/sexuelle Impulse: z. B. „Ich ersteche meine Schwester mit dem Messer“
• Zwanghaftes Zweifeln: z. B. „Habe ich jemanden mit meinem Fahrrad verletzt?“
• Zwangshandlungen: • Betzwänge: z. B. 5 Mal Vaterunser aufsagen • Kontrollzwänge: Messer wegschließen lassen, Strecke nochmal abfahren
Wie wird F42 im ICD10 definiert?
A. Zwangsgedanken oder -Handlungen mind. Zwei Wochen anhaltend
B. Müssen die folgenden 4 Merkmale erfüllen
1. Werden als eigene Gedanken/Handlungen angesehen, nicht von anderen Personen oder Einflüssen eingegeben
2. Wiederholen sich dauernd, werden als unangenehm empfunden und meist als übertrieben und unsinnig erkannt
3. Betroffene versuchen, Widerstand zu leisten
4. Ausführung eines Zwangsgedankens bzw einer Zwangs
C. Führen zu erheblicher psychosozialer Beeinträchtigung
D. Dürfen nicht besser durch andere psychische Störungen erklärt werden (zB Schizophrenie, affektive Störungen)
-> zusätzlich Subtyp „mit vorwiegend Zwangsgedanken“ (F40.0) DNS „mit vorwiegend Zwangshandlungen“ (F42.1)
Was ist das Problem der Einsicht bei Zwang im KiJu Alter?
ICD-10 fordert Einsicht in die Unsinnigkeit der Zwangssymptome.
− U.a. gefordert als abgrenzendes Merkmal zu psychotischem Erleben (ich-syntone
zwangsartige Vorstellungen und Ideen)
− Bei Kindern aufgrund kognitiver Entwicklung nicht unbedingt erfüllt
− Vgl. Lewin et al., 2010
− Anteil der Patientinnen mit guter
Störungseinsicht nimmt mit Alter zu
− Keine Unterschiede zwischen Patientinnen
mit guter vs. wenig Einsicht bzgl.
Störungsbeginn, Erkrankungsdauer,
familiärer Belastung durch Zwangs-
erkrankungen
Vgl ABB
Was sind die DSM-5 Kriterien für Zwänge?
Auftreten von Zwangsgedanken, Zwangshandlungen oder deren Kombination:
− Zwangsgedanken
1. Andauernd wiederkehrende und anhaltende Gedanken, Impulse oder Vorstellungen, die im
Krankheitsverlauf zumindest zeitweilig als aufdringlich und ungewollt empfunden werden, und
die meist große Angst und Unbehagen hervorrufen.
2. Betroffenen versuchen, diese Gedanken, Impulse oder Vorstellungen zu ignorieren oder zu
unterdrücken oder sie mit Hilfe anderer Gedanken oder Tätigkeiten zu neutralisieren (z.B.
Ausführung einer Zwangshandlung).
− Zwangshandlungen
1. Wiederholte beobachtbare Verhaltensweisen (z.B. Händewaschen, Kontrollieren) oder mentale
Handlungen (z.B. Zählen, Wörter lautlos wiederholen, Gegengedanken denken), zu denen sich
die Person als Reaktion auf einen Zwangsgedanken oder aufgrund von streng zu befolgenden
Regeln gezwungen fühlt.
2. Verhaltensweisen oder mentalen Handlungen dienen dazu, Angst oder Unbehagen zu
verhindern oder zu reduzieren oder gefürchteten Ereignissen oder Situationen vorzubeugen;
Verhaltensweisen oder mentale Handlungen stehen in keinem realistischen Bezug zu dem, was
sie zu neutralisieren oder zu verhindern versuchen, oder sie sind deutlich übertrieben.
Beachte: Kleine Kinder könnten noch nicht in der Lage sein, den Sinn dieser Verhaltens-
weisen oder mentalen Handlungen auszudrücken!
DSM5 Kriterien berücksichtigen, dass Kinder evtl. Zwangssymptome nicht als eigene Gedanken erkennen können und ihnen auch nicht unbedingt Widerstand leisten können!
DSM5 Fortsetzung Zwang
− Beanspruchen z.B. mehr als 1 Stunde pro Tag und sind sehr zeitraubend oder
verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen.
− Sind nicht Folge der somatischen bzw. physiologischen Wirkung einer Substanz oder
eines medizinischen Krankheitsfaktors.
− Werden nicht besser durch andere psychische Störung erklärt
− Bestimme, ob:
− Mit Guter oder Angemessener Einsicht: Die Betroffenen erkennen, dass die
zwangsbezogenen Überzeugungen definitiv nicht, wahrscheinlich nicht oder
möglicherweise nicht zutreffen.
− Mit Wenig Einsicht: Die Betroffenen denken, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen
wahrscheinlich zutreffen.
− Mit Fehlender Einsicht/Wahnhaften Überzeugungen: Die Betroffenen sind absolut davon
überzeugt, dass die zwangsbezogenen Überzeugungen zutreffen.
− Bestimme, ob: Tic-Bezogen: Die Betroffenen weisen gegenwärtig oder in der
Vorgeschichte eine Tic-Störung auf.
Einsicht ist kein Entscheidendes Kriterium mehr!!! ICD-11 folgt dieser Differenzierung
Was sind Tic-Störungen?
Tics sind Plötzlich auftrennende, sich stereotyp wiederholende motorische Bewegungen oder vokale Äußerungen
Motorisch und einfach:
Muskelzuckungen: Augenblinzeln,
Schulter hochziehen,
Armeschleudern, Nase rümpfen,
Mund aufreißen, Kopfrucken,
Grimassieren, Lippen spitzen,
Fingerbewegungen, Stirnrunzeln
Motorisch und komplex:
Klatschen, sich im Kreis drehen,
hüpfen, sich beugen / strecken,
Objekte / andere Menschen
berühren, sich auf Zunge/ Lippen/ in
Arm beißen, sich kratzen, Augen
nach oben rollen, Papier zerreißen
Vokalisch und Einfach:
Lautäußerungen: husten, spucken,
bellen, schnalzen, grunzen, gurgeln,
schnüffeln
Vokalisch und komplex:
Wörter / Sätze / Kurzaussagen: Sei still,
hör auf, ok ok , ist klar, ist klar. Es geht mir
besser – richtig? Richtig. Jaja, so so aha.
Wie ist die Prävalenz bei Zwangsstörungen?
- Prävalenzraten
variieren bei KJ
zwischen 0.1-3.6%,
bei Kindern geringer
als bei Jugendlichen
− Prävalenz
subklinischer
Zwangssyndrome
deutlich höher (7-
25%) - Jugendalter und 8-12J. Am höchsten -> siehe ABB
Underreporting: Kids können sich nicht gut verbalisieren, Schambehaftet -> underreporting
Wann ist die Erstmanifestation und wie ist die Geschlechterverteilung bei Zwängen?
Alter bei Erstmanifestation: bimodale Verteilung
− Beginn vor Pubertät: Durchschnittsalter 10 Jahre (Range 6.9-12.5 Jahre; Garcia et
al., 2009)
− Junges Erwachsenenalter: Durchschnittsalter 23 Jahre (Taylor, 2011)
− ¾ der erwachsenen Betroffenen berichten einen frühen Beginn der Symptomatik
(ca. 20% vor dem 10. Lebensjahr, 60% vor 25. Lj.)
Geschlecht:
− KJP: höhere Rate von Zwangsstörungen bei Mädchen (3:2)
− Erwachsenenalter: ungefähre Gleichverteilung
− Teilweise früherer Störungsbeginn bei Jungen beschrieben
Wie ist der Langzeitverlauf bei Zwängen?
Zu Verlauf mit oder ohne Behandlung sehr unterschiedliche Ergebnisse
Meta-Analyse von Stewart et al. (2004), überwiegend behandelte Patient*innen:
k=16, N=521
− 41% weiterhin Vollbild der Störung
− 60% Vollbild oder subklinische Ausprägung
→ höhere Persistenz assoziiert mit frühem Beginn, längerer Erkrankungsdauer, notwendige
stationäre Aufenthalte
Identifikation unterschiedlicher Verlaufstypen nach durchgeführter Behandlung
(Thomsen, 1994; Wewetzer et al., 2001):
− Remission (27.7% bzw. 29.1%)
− subklinisch (25.5% bzw. 27.3%)
− episodisch (21.3% bzw. 30.9%)
− chronisch (25.5% bzw. 12.7%)
Komorbide Störungen bei Zang
Ruby et al 2000
Angststörungen 19%
Affektive Störung 20%
ADHS 9%
Störung mit oppositionellem Trotzverhalten 9%
Tic-Störung 17%
Tourette-Syndrom 11%
-> in Diagnostik zusätzlich abklären: ASS, Anorexie, nicht-susbtanzgebundene Suchterkrankungen mit pathologischer MEdiennutzung (Jugendalter), Substanzkonsumstörungen (Jugendalter), Persönlichkeitsstörungen (Jugendalter)