6. Kontingenzformeln Flashcards
Ontologische Voraussetzungen
Kontingenz: prinzipielle Offenheit und Ungewissheit menschl. Lebenserfahrung
Grundannahme (vgl. Theodizeebegriff bei Max Weber):
- Die Welt ist Ausdruck einer universal gültigen und guten Ordnung (d.h. nicht
„Chaos“ oder „blinde“ Naturgewalt),
- diese Ordnung wird als Grundlage moralischen Handelns anerkannt
- moralisches Handeln wird im Rahmen dieser Ordnung gewürdigt und belohnt.
Damit ist implizit meritokratisches Weltverständnis vorauszusetzen. gutes Handeln wird belohnt, schlechtes bestraft; vgl. Buddhismus, Karma-Lehre).
Vergleichbare Vorstellungen universaler, guter Ordnung in chin. Tradition:
- Setzung von naturgegeben allgemeinen und zugleich sozialen „Normen“: Ch. li 理,
- die Annahme, dass es Menschen möglich ist, diese zu erkennen, beispielweise durch
die „Betrachtung der Dinge“.
- es gibt eine höchste Instanz, die diese Ordnung vertritt: „Himmel“, Ch. tian 天 .
Abgrenzung zum Begriff der Theodizee im Christentum in funktionaler Hinsicht:
Bei der Theodizee handelt es sich allgemein um eine Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Unrechts in der Welt („weshalb kann ein guter Gott so viel Leid zulassen?“): Niklas Luhmann: die Überführung unbestimmter Kontingenz in bestimmte Kontingenz der Verteidigung bzw. Rechtfertigung des als unfehlbar vorgestellten Gottes in Anbetracht von Leid und Ungerechtigkeit dient, bspw. in Form von:
- göttlicher Prüfung,
- Strafe Gottes,
- eines für Menschen (noch) nicht erkennbaren, göttlichen und guten Plans.
Es lassen sich funktionale Ähnlichkeit mit „Theodizee“-ähnlichen Vorstellungen in anderen Religionen feststellen:
- Dualistisches Modell: Kampf zwischen guten und bösen Schicksalsmächten (bspw. Zoroastrismus, Manichäismus)
- Meritokratisches Modell: Karmische Wirkung von Handlungen und Tatabsichten u.a. bedingt durch frühere Existenzen (bspw. Buddhismus, Hinduismus)
Auch sie dienen in der religiösen Sinnbildung der Überführung unbestimmter Kontingenz in bestimmte Kontingenz u.a. zur Verteidigung der als ungerecht/schlecht/grausam usw. empfundenen Weltordnung.
Im alten China wird in diesem Sinne v.a. der „Himmel“ (Ch. tian 天) als funktionale, gleichwohl menschliches Verstehen übersteigende Instanz universaler Ordnung angenommen.
In vormoderner Hochkultur gilt der „Himmel“ als Schicksalsmacht, da mit Bezug auf ihn u.a. Herrschaft durch die Feststellung des „Mandats des Himmels“ legitimiert wird: Da Herrschaft kontingent ist (offenkundig bspw. in Zeiten des Dynastiewechsels), kann beim „Mandat des Himmels“ von einer religiös begründeten Kontingenzformel gesprochen werden, die im Nachhinein das Recht des Stärkeren (d.h. die erfolgreiche Bewahrung der Macht) mit Bezug auf den Himmel legitimiert.
Konfuzianisches Kontigenzmodell
Der „Himmel“ wird implizit gegen die empfundene Ungerechtigkeit der Welt verteidigt, die Schuld liege bei den Menschen.
„Unordnung“ in der Welt nicht mit einer Dysfunktion der universalen Ordnung, sondern mit dem schlechten Handeln der Menschen erklärt, welches diese Ordnung stört.
Während der „Zeit der Streitenden Reiche“ (5.-3. Jh. v. Chr.), einer Periode politischer Unordnung und Kriege, scheint die Idee einer universalen „guten“ Ordnung kaum mehr plausibel gewesen zu sein. „Himmel“ fungiert dann als „Kontingenzformel“ (im Sinne von N. Luhmann):
- Es ist also nicht immer absehbar bzw. erkennbar, was der Wille des Himmels ist.
- Festgehalten wird jedoch an der Vorstellung, dass es diesen Willen und ,it ihm verbundene Ordnung der Welt gibt.
Ning Chen (1994) unterscheidet mit Max Weber für die „Zeit der Streitenden Reiche“ drei Funktionen konfuzianischer „Theodizee“ („Theodizee“ lediglich im Sinne einer Funktion,):
- Teleologische Theodizee: Abhängigkeit von Ziel und Zweck himmlischen Wirkens.
- Herrschaftstheodizee: Prüfung der für höhere Aufgaben Vorgesehenen.
- Vollendungstheodizee: Vollendung hängt vom Himmel ab; die Verpflichtung der Menschen besteht darin, in diesem Wissen an der universalen Ordnung mitzuwirken und zum Wohl aller beizutragen.
Die alten Quellen verwenden den Begriff „Himmel“ (Ch. tian 天) im Sinne einer Kontingenzformel unter mindestens fünf verschiedenen Aspekten, welche je nach Kontext (und oft in Kombination) impliziert sein können:
- Materieller Himmel: Himmel als Naturgewalt
- Herrschender Himmel: Anthropomorphisierung, quasi als Gottheit (im Sinne einer universalen Herrscher-funktion, erteilt das “Mandat des Himmels” tianming 天命),
- Himmel als Schicksalsmacht: Bestimmungsinstanz des Schicksals oder der Bestimmung des Einzelnen bzw. von Gruppen, bspw. individuelle Bestimmung
- Naturalistischer Himmel: Ausdruck naturgemäßer Ordnung, Essenzialisierung von Weltordnung, Himmel als Inbegriff der natürlichen Ordnung.
- Moralischer Himmel: Instanz moralischer Prinzipien, von sozial verstandener
Normativität (auch über die Sphäre menschlichen Handelns hinaus).
Daoistisches Kontingenzmodell
Im Unterschied zum konfuzianischen Modell wird in den daoistischen Quellen der Himmel eher als eine „blinde“ (unparteiliche) Schicksalsmacht oder Naturgewalt aufgefasst; er ist nicht „gut“ oder „gerecht“, sondern verhält sich Einzelnen wie Gruppen gegenüber gleichgültig. Er wird daher als eine Art Gewalt erfahren, die moralische Zuschreibungen weitgehend ausschließt. Alles hängt von den situativen Umständen ab. Entscheidend ist für den einzelnen Menschen daher:
- das Erkennen von dao 道 und qi 氣 im Sinne einer „Führung“ bzw. als „Fluidum“ des Welt- und Lebensverlaufs. Dies ist verbunden mit dem Auftrag, durch die eigene Lebensführung „Stockungen“ und „Behinderungen“ zu vermeiden bzw. aufzuheben;
- eine „individuelle“ Loslösung von sozialen Einbindungen und Moralvorstellungen ist daher legitim, denn sie behindern den natürlichen Weltlauf und verursachen u.U. weiteres Unheil, d.h. der Mensch wäre schuld an seinem Unglück als Folge seines moralisch-sozialen und technischen Handelns wider die natürliche Ordnung.
- Kontingenzbewältigung erfolgt vor allem individuell durch Übung von „Lebenspflege“, Körpertechniken und Gleichmut gegenüber Schicksalsschlägen, etc. (vgl. Vollkommenheitsideal im Daoismus).
Buddhistisches Kontingenzmodell:
Das buddhistische Modell operiert u.a. mit der Kontingenzformel „Karma“ das die Funktion einer unparteilichen aber in letzter Konsequenz „gerechten“ Schicksalsmacht:
Jedem Lebewesen widerfährt in diesem oder späteren Leben, was ihm karmisch „automatisch“ zukommt. Die Wirkungsweise ist jedoch nur den Allwissenden bzw. „Erwachten“ (Skt. buddha) bekannt.
Durch religiöse Praxis bzw. Manipulation des Karma ist stufenweise Erkenntnis und ultimativ Befreiung möglich. Darauf gründet:
- die moralische Forderung, altruistisch zu handeln,
- das Heilsziel, durch das Karma die Befreiung von Wiedergeburt (und damit vom Karma selbst) zu erlangen,
- aber auch: karmisch für das Allgemeinwohl und (in der chinesischen Laienpraxis) das
der eigenen Nachfahren vorzusorgen.
Problematik der Aktualisierung von religiösen Kontingenzformeln in modernen Gesellschaften
Zur Problematik der Aktualisierung von religiösen Kontingenzformeln in modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften: V.a. aus dem buddhistischen (bzw. karmischen) aber auch aus dem konfuzianischen Modell ergeben sich (wie auch bei anderen Religionen) problematische Implikationen, etwa wenn auf die entsprechende Doktrin im Kontext moderner Vorstellungen von Ethik Bezug genommen werden soll (bspw. zur Begründung von Werten und Handlungsnormen).
Die Problematik ist bei der Unterscheidung von Einzelnen und Gruppen besonders signifikant. Es wäre dann bspw. zu fragen:
- Wäre gemeinsam erfahrenes Leid als eine karmische oder vom Himmel verhängte „Kollektivstrafe“ zu werten (wie in manchen vormodernen Quellen)?
- Handelte es sich um die Folge akkumulierter Schuld von Gruppen Einzelner oder tatsächlich um „kollektives“, d.h. gruppenspezifisches Karma (das Handeln des Einzelnen wäre dem der Gruppe untergeordnet)?
Wenn denkbare Antworten neben problematischen Vorstellungen von Kollektivschuld auch auf eine erklärende Rechtfertigung gemeinsam erlittenen Leids von Unschuldigen hinausliefen, wären diese im Ergebnis vom Standpunkt einer Ethik, die auf die Verantwortung des Individuums in der Gesellschaft abhebt, nicht annehmbar.
Der Bezug auf entsprechende Kontingenzvorstellungen (im funktionalen Sinne einer „Theodizee“) ist zumindest dort problematisch, wo sie der Erklärung bis hin zur Rechtfertigung des Leidens in der Welt dienen.