7. Diagnostik in der psychodynamischen Therapie Flashcards
Diagnostische Teilschritte (Reimer und Rüger, 2012)
• „Eine zeitgemäße psychodynamische Diagnostik integriert die bewährten psychodynamischen Ansätze und gelangt damit abschließend zu einer psychodynamischen Fallformulierung, aus der sich auch eine diagnostische Klassifikation und eine individuelle Behandlungsplanung ableiten lässt.“ (Reimer & Rüger, 2012, Kap. 3, S 41)
• Die wichtigsten diagnostischen Teilschritte:
– 1.ErfassungderEingangsszene
– 2.BeschreibungdesklinischenBildesundderaktuellenLebenssituation – 3.BiografischeAnamnese
– 4.ErfassungderPsychodynamik
– 5.FormulierungderpsychodynamischenDiagnoseundderKlassifikation – 6.TherapeutischeZielsetzungundBehandlungsplanung
Psychodynamische Diagnostik
• 1950er und 1960er Jahre: Beschreibung diagnostischer Ansätze von deutschen Analytikern (z.B. biographische Anamnese von Dührssen, 1958), amerikanischen Analytikern (z.B. dynamisches Interview von Gill, 1954) und englischen Analytikern (diagnostisches Interview von Balint & Balint, 1962)
à Konzepte von Erstinterviews und biographischer Anamnese
• Erstinterview: keine systematische Klärung der Krankheitssituation, sondern Erfassung
unbewusst inszenierter Beziehungserfahrungen
• 1970er Jahre: zunehmendes Interesse an psychotherapeutischer DiagnostikàFrage, wie therapierelevante Informationen gewonnen werden können
Das psychodynamische Erstgespräch Informationsquellen
- … Befragung und Beobachtung müssen so gehandhabt werden, dass sie die (unbewusste) interaktiven Beziehung nicht behindern.
- Bei der anschliessenden Formulierung dieser unbewussten Interaktion sollen dann wieder die Ergebnisse der Befragung/Beobachtung mitberücksichtigt werden.
- Die initiale Beziehung sollte durch Therapeut:innen ohne Bewertung gestaltet werden – offene Grundhaltung. Position der Zurückhaltung. Therapeut:innen geben Patient:innen den Raum, ihnen eine bestimmte Rolle zuzuschreiben.
- Die Beziehung wird durch Übertragung und Gegenübertragung gestaltet. Es geht um den Aufbau eines intersubjektiven Übertragungsraumes.
Das Erstinterview in der Psychoanalyse (Argelander)
-Ziel: Bild von der Persönlichkeit der Patient:innen und ihrer psychischen Störung erstellen
-Interviewinformationen aus 3 verschiedenen Quellen
– Objektive Informationen: persönliche Angaben/ biografische Fakten, die jederzeit nachprüfbar sind
– Subjektive Informationen: Bedeutungssysteme der Patient:innen, die mithilfe der Therapeut:innen aufgearbeitet werden. Kriterium für Gültigkeit der Interpretation ist die situative Evidenz
– szenische/situative Informationen: Wie wird eine Situation erlebt? Wahrnehmung non-verbaler Informationen der Szene (Gefühlsregungen und Vorstellungsabläufe)
Szenische Information – Szenisches Verstehen
- Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in wird genutzt zur Entwicklung diagnostischer Hypothesen und für Überlegungen zur Indikation.
- Therapeut:in wird unbewusst vonPatient:in als ein Gegenüber erlebt, das früheren Objekten entspricht (Reinszenierung).
- Am Anfang dominiert das Erlebnis der Situation mit allen darin entstehenden Gefühlsregungen und Vorstellungsinhalten und vor allem auch körperlichen Reaktionen (von Patient:in und Therapeut:in).
Gestaltung der Gesprächssituation
• Haltung des/der Therapeuten/in: offen, nicht wertend, geleitet von der einzigen Absicht, den Patienten zu verstehen. Stichwort „gleichschwebende Aufmerksamkeit“.
• Mögliche Erwartungshaltungen von Patient:innen früh thematisieren, um Enttäuschung zu vermeiden.
• Beziehung zwischen Therapeut:in und Patient:in steht im Fokus des Interesses.
• Nutzung zur Entwicklung diagnostischer Hypothesen und für Überlegungen zur Indikation
à Initiale Beziehung wird so weit wie möglich von Patient:in strukturiert!
• Patient:in greift in einer unvertrauten, verunsichernden Situation auf vertraute Beziehungsmuster – auf vertrautes Beziehungsverhalten (infantile Objektbeziehungen) zurück.
• Therapeut:in wird unbewusst von Patient:in als ein Gegenüber erlebt, das früheren Objekten entspricht.
• Die Therapeut:in gibt Patient:in den Raum, eine bestimmte Rolle zuzuschreiben.
• Zugleich ist er handelndes Subjekt in der intersubjektiven Beziehung.
Ablauf
1. Befragung
2. Verhaltensbeobachtung
3. Psychodynamische Wahrnehmung: Erfassung von Übertragungsphänomenen, die auf infantile Wünsche und ihre Abwehr gründen. Therapeut:innenmerkmale sind situative Stimuli, welche die Übertragung anregen.
Die fünf Achsen der OPD-2
- Achse 1: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
- Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
- Achse 3: Konflikt (zeitlich überdauernde neurotische Konflikte bzw. Konfliktschemata)
- Achse 4: Struktur (psychisch-strukturelle Fähigkeiten)
- Achse 5: Psychische und psychosomatische Störungen (Symptomatologie gemäß ICD-10 bzw. DSM-IV)
Nutzung der OPD-2
Manualisierung der Achsen
• Generell werden zu jeder Achse Überlegungen zur theoretischen Einordnung beschrieben
• Zusätzlich gibt es zu jedem Item auf jeder Achse genauere Beschreibungen sowie Ankerbeispiele zu den Merkmalsabstufungen
Das OPD-Interview
• Die erforderlichen Informationen, um die Achsen zu beurteilen, werden durch ein Interview gewonnen
• Dazu liegt ein Leitfaden vor, es wird oszilliert zwischen offener Gesprächsführung und strukturiertem Vorgehen
• Voraussetzung: psychodynamisches Grundverständnis des Interviewers, klinische Erfahrung, Training in Bezug auf die OPD, Erfahrung mit der Klassifikation nach ICD-10 bzw. DSM
Achse 1: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Zentrale frage
Zentrale Frage: Welche Störungen/Probleme und Ressourcen liegen vor?
GAF und EQ-5D
• GAF (Global Assessment of Functioning)
– Entspricht der Achse V des DSM-IV: allgemeines Funktionsniveau in psychischen sozialen und
beruflichen Funktionsbereichen
– Beurteilt auf einer Skala von 1-100 für die letzte Woche
• EQ-5D
– Soll die Lebensqualität erfassen
– Fremdrating auf fünf Dimensionen zum aktuellen Gesundheitszustand von 1 (-> keine Einschränkungen) bis 3 (->starke Einschränkungen):
• 1. Beweglichkeit/Mobilität
• 2. Für sich selbst sorgen
• 3. Allgemeine Tätigkeiten (Arbeit, Studium, Hausarbeit, Familien- oder Freizeitaktivitäten)
• 4. Schmerzen/körperliche Beschwerden
• 5.Angst/Niedergeschlagenheit
Achse 1: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Krankheitserleben,-darstellung und -konzepte des Patienten
Achse 1: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Veränderungsressourcen / Veränderungsgeheimnisse
Achse 1: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Erläuterungen zu Veränderungsressourcen/Veränderungshemmnissen
• Veränderungsressourcen
– Persönliche Ressourcen: z.B. gute Krankheitsbewältigung, positives Lebensgefühl, gesundheitsförderliche Lebensgewohnheiten, soziale Kompetenzen
– Psychosoziale Unterstützung: Ist soziale Unterstützung da und (darauf kommt es an) kann der Patient das auch wahrnehmen und nutzen?
• Veränderungshemmnisse
– Äußere Veränderungshemmnisse: z.B. ob Psychotherapie verfügbar ist, die berufliche Situation
Psychotherapie erlaubt oder wie das soziale Umfeld gegenüber Psychotherapie eingestellt ist
– Innere Veränderungshemmnisse: z.B. Widerstand gegen Veränderung, eingeschränkte Belastbarkeit oder Reflexionsfähigkeit, sekundärer Krankheitsgewinn
Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
Zentrale Frage:
Zentrale Frage: Wie interagiert der Patient mit anderen?
• Zwei Informationsquellen
– 1. Berichtete Beziehungsepisoden im Interview: Wie laufen Interaktionen normalerweise ab? Wie nimmt der Patient sich und andere wahr?
– 2. Informationen aus der Interaktion zwischen Patient und Diagnostiker: Was sind die eigenen Reaktionen des Diagnostikers (Gegenübertragung)?
Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
• Einschätzung nach dem Zirkumplexmodell interaktionellen Verhaltens (s. nächste 2 Folien), bzw. einer zugehörigen Itemliste
Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
Interpersonelles Verhalten zentriert auf ein Gegenüber
Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
Interpersonelles Verhalten zentriert auf die eigene Person
Achse 2: Beziehung (maladaptive Beziehungsmuster)
• Beispiel (aus: Arbeitskreis OPD, 2009, S. 200 f.)
„Ein 32-jähriger Patient wird nach einem depressiv-suizidalen Einbruch zur stationären Therapie aufgenommen. Seine Freundin hatte ihn – aus seiner Perspektive ganz unterwartet – nach einer etwa 6 Jahre dauernden Partnerschaft verlassen, als er wegen einer Erkrankung für einige Wochen in eine Klinik musste. Die Problematik seiner Beziehungsgestaltung wird in seinen Arbeitsverhältnissen deutlich: Er übernimmt wichtige und anspruchsvolle Aufgaben und meistert diese nach seinen Angaben gut, gerät aber dennoch immer wieder in Konflikte mit seinen Vorgesetzten. Diese korrigieren von ihm getroffene Entscheidungen ohne Rücksprache und ignorieren Verabredungen, die seinem Erleben nach verbindlich waren. Dies geschieht offenbar ganz willkürlich und kraft ihrer mächtigeren Position, was den Patienten empört und dazu bringt, sich stur zu stellen und die eigene Position um jeden Preis zu behaupten. Er fühlt sich dabei vollkommen im Recht. Die Situation eskaliert schließlich bis zu einem Punkt, an dem die Kündigung ausgesprochen wird bzw. der Patient seine Sachen einfach hinschmeißt…“
„…Im direkten Kontakt wirkt er unbeweglich und unangreifbar wie ein Monolith, lässt sich durch Fragen und Zweifel praktisch nicht bewegen. Provokant wirkt auch eine geradezu generöse Gelassenheit, durch die man sich ihm gegenüber rasch ohnmächtig und unterlegen fühlt. In der Gegenübertragung verspürt man Impulse, einen Kampf um Macht und Kontrolle mit ihm aufnehmen zu wollen, resigniert aber angesichts seiner Unberührbarkeit rasch; am Ende dominiert der Wunsch, sich aus dem Kontakt zurückziehen zu wollen.“