5. Klassifikation psychischer Störungen Flashcards
Was heißt eigentlich Krankheit?
- Es gibt keine allgemein gültigen Definitionen für Gesundheit und Krankheit, beide sind vielschichtige Konstrukte.
- Allgemeines Krankheitsparadigma (nach Baumann & Perrez, 2005) :
• Probleme:
– Psychische Störungen sind selten eindeutig auf bestimmte biologische Dysfunktionen/Defekte zurückzuführen
– Diagnosen stigmatisieren
– Vielschichtigkeit geht verloren bei kategorialer Entscheidung
• Aber: Dimensionale und kategoriale Betrachtungsweise stehen nicht im Widerspruch, sondern können nebeneinander genutzt werden
Psychische Störungen?
Definition psychische Störung im DSM-5
- “A mental disorder is a syndrome characterized by clinically significant disturbance in an individual’s cognition, emotion regulation, or behavior that reflects a dysfunction in the psychological, biological, or developmental processes underlying mental functioning. Mental disorders are usually associated with significant distress or disability in social, occupational, or other important activities. An expectable or culturally approved response to a common stressor or loss, such as the death of a loved one, is not a mental disorder. Socially deviant behavior (e.g., political, religious, or sexual) and conflicts that are primarily between the individual and society are not mental disorders unless the deviance or conflict results from a dysfunction in the individual, as described above.”
- APA (2013), S. 20
Krank oder gesund?
• Wo ziehen wir die Grenze zwischen „normalem“ und „abnormem“ Verhalten bzw. „gesund vs. krank“, „psychisch unauffällig“ vs. „psychisch gestört“ oder „klinisch bedeutsam vs. nicht bedeutsam“?
Abnorm oder psychisch gestört ist das... • Unpassende (subjektive Norm) • Verwerfliche (Idealnorm) • sozial Abweichende (Sozialnorm) • Schädliche (funktionale Norm) • Ungewöhnliche (statistische Norm) à in Psychologie und Sozialwissenschaften: oft dimensionale Beschreibungen, „abnorm“ = selten -> Problem der Grenzziehung
• Die dimensionale Betrachtungsweise allein ist für den klinischen Kontext nur begrenzt hilfreich:
– kategoriale Entscheidungen ermöglichen Auswahl von Interventionen
– Kategoriale Entscheidung über Störung beinhaltet weitere Faktoren (Beginn, Verlauf, Persistenz, subjektives Leid…)
– à häufig wenig Konvergenz zwischen kategorialen Diagnosen und dimensionalen Skalen
• Siehe: Wittchen & Hoyer, Kapitel 2
Beispiel Depression
• BDI-V (Schmitt & Maes, 2000)
• Kann man anhand dieses
Fragebogens eine Depressions- Diagnose stellen?
- Mittelwerte des BDI-V als Funktion von Alter und Geschlecht
- 5% der Männer und 3% der Frauen geben sich als völlig symptomfrei an (BDI-V-Wert von 0)
- Schmitt et al. (2006),
• Was würde passieren, wenn wir alle Personen ab einem bestimmten Grenzwert (= Cut-off) als depressiv klassifizieren würden?
– Sensitivität:AnteilderPositiven(=vomInstrumentalsmitDepression eingeschätzt) an den Richtig Positiven (=mit Depression)
à Welcher Anteil mit Depression wird vom Instrument erkannt
– Spezifität:AnteilderNegativen(=vomInstrumentalskeineDepression eingeschätzt) an den Richtig Negativen (=keine Depression)
à Welcher Anteil ohne Depression wird vom Instrument erkannt
Dimensional vs. kategorial
• Fazit:
– Mit rein dimensionalen Selbst- und Fremdbeobachtungs-Skalen können wir keine
kategorialen Entscheidungen treffen, ob eine bestimmte Störung vorliegt – Dimensionale Skalen sind aber sehr hilfreich für:
• Objektivierende Beschreibung von Beschwerden
• Feststellung des Schweregrads
• Ggf. Screening nach bestimmten Störungen (=Feststellung der Wahrscheinlichkeit,
dass eine Störung vorliegt oder ausgeschlossen werden kann)
Ziele von Klassifikationssystemen psychischer Störungen
- Verlässliche (reliable) Diagnosen
- Wissenschaftliche Erforschung psychischer Störungen
- Interdisziplinäre wissenschaftliche Kommunikation
- Verknüpfung von Diagnosen mit Interventionsentscheidungen
- Definition von Kontraindikationen
- Prognosen (Remission, Rückfallrisiko…)
- Internationale Kommunikation
- Versicherungsrechtliche, juristische und abrechnungstechnische Fragen
- Qualitätssicherung
- Verbesserungen der Ökonomie von Diagnostik und Therapie
- Entwicklung von Screening- und Diagnoseverfahren
- Lehre
Was wäre wünschenswert?
• Wünschenswert wäre ein empirisch-basiertes nosologisches System zur Klassifikation
– Nosologie: Krankheitslehre, Versuch einer natürlichen, konsistenten, eindeutigen und logischen Ordnung von Krankheiten nach einheitlichen Gesichtspunkten
• Mögliche Gesichtspunkte zur Einteilung: – Symptome und Syndrome
– Verlauf
– Ätiologie
– Intensität
-> Nicht vorhanden! Vor allem ätiologische Einteilungsversuche sind schwierig, da dafür die wissenschaftlichen Erkenntnisse fehlen.
-> Realität: Expertengruppen finden Konsens darüber, was in operationaliserte Klassifikationssystem Eingang findet und was nicht
Unzureichende Systeme
• Bis 1950 sind viele unterschiedliche und miteinander inkompatible Klassifikationssysteme psychischer Störungen entstanden
• Folgen:
– keine einheitliche und verlässliche Kommunikation möglich – Keine systematische internationale Forschung möglich
Deskriptive Klassifikationssysteme
• Lösung: Einführung von deskriptiven
Klassifikationssystemen mit expliziten Kriterien
• Diagnosen sind dabei als hypothetische Konstrukte zu verstehen.
Beispiel: Beschwerden, Klagen, Verhaltensweisen
Ich bin nur noch mies drauf. Was mir früher Spaß gemacht hat, interessiert mich nicht mehr, dabei haben sich vorher alle gewundert, wie extrem gut drauf ich immer war. Auf der Arbeit mache ich ständig Flüchtigkeitsfehler. Das Essen schmeckt mir nicht mehr und ich liege jede Nacht wach.
Beispiel: Symptome, Befunde
niedergedrückte Stimmung, Verlust von Interesse, vorher extremes Energieniveau und überschwängliche Stimmung, Konzentrationsstörungen, Appetitverlust, Schlafstörungen
Beispiel: Syndrom
-> Depressives Syndrom und manisches Syndrom
Beispiel: Diagnose
+ manische Episode in der Vergangenheit
+ Schweregradeinschätzung
+ Verlauf (seit über 2 Wochen)
-> F 31.3 bipolare affektive Störung, gegenwärtig leichte oder mittelgradige Episode (nach ICD-10)
Das DSM-III und spätere Versionen
• 1980 Vorstellung des DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders)
• Neu: Atheoretischer Ansatz mit weitgehendem Verzicht auf alle empirisch unzureichend gesicherten ätiologischen Annahmen
• Spätere Versionen: – DSM-IV
– DSM-IV-TR – DSM-5
Dominiert in Forschung
Exkurs: Multiaxiales System in DSM-IV-TR
• Achse I – Klinische Syndrome
• Achse II – Persönlichkeitsstörungen, spezifische Entwicklungsstörungen (geistige Behinderung)
• Achse III – Körperliche Störungen und Zustände (nach ICD-10)
• Achse IV – Psychosoziale und umweltbedingte Probleme
– Z.B.: Ausbildungsprobleme, Wohnungsprobleme, wirtschaftliche Probleme, in der Regel der vergangenen 12 Monate
• Achse V – Höchstes Niveau der psychosozialen Anpassung im letzten Jahr (GAF = Global Assessment of Functioning)
– Beurteilung auf Skala von 0 - 100
Aufgabe des multiaxialen Systems in DSM-5
• Im DSM-5 wird das multiaxiale System wieder aufgegeben
– Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass die drei Achsen zu trennen seien
• Separate Einschätzung von psychosozialen Faktoren (früher IV)
– Es soll keine getrennte Klassifikation psychosozialer- und Umweltprobleme entwickelt werden, sondern vielmehr z.B. Z-Diagnosen (ICD-10) genutzt werden
• Achse V war nicht klar genug, statt dessen soll das WHODAS (WHO Disability Assessment Schedule) genutzt werden, das auf der WHO-International Classification of Functioning basiert
• Einführung von teilweise dimensionaler Beschreibung der Persönlichkeitsstörungen (allerdings ohne Bezug zu empirisch validierten Persönlichkeitsdimensionen)