M2 E2 Flashcards
Was sind Explorationen?
Mit Exploration verbindet man im Kontext analytisch-nomologisch orientierter Forschung die Vorstellung einer Vorstudie zur Vorbereitung einer danach folgenden „ernsthaften“ Untersuchung oder von Pretests zur Entwicklung eines anspruchsvollen Erhebungsinstruments: „Explorative Studien wird man durchführen, wenn der soziale Bereich, den es zu erforschen gilt, relativ unbekannt ist und nur recht vage oder gar keine spezifischen Vermutungen über die soziale Struktur und die Regelmäßigkeiten sozialer Handlungen vorliegen“ (Diekmann 1995, 30). In der qualitativen Sozialforschung dagegen wird unter Exploration eine methodologische Perspektive innerhalb des Prozesses von Informationssammlung und -analyse verstanden. So bezeichnet im Konzept von Herbert Blumer „Exploration“ das umfassende, in die Tiefe gehende, detektivische Erkunden des Forschungsfeldes, das Sammeln möglichst vielfältiger und das ganze Spektrum von Sichtweisen repräsentierender Informationen im Unterschied zur „Inspektion“, womit das – die Exploration begleitende – Deuten und Analysieren der Informationen gemeint ist (Blumer 1973, 122 ff.).
Bei empirischen Fragestellungen kann das Erkenntnisinteresse ein statisches oder ein dynamisches sein; d.h. die Informationen können sich entweder auf den Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt oder aber auf (kurz-, mitteloder langfristige) Entwicklungen und Veränderungsprozesse beziehen. (Man spricht bei „statischen“ Ansätzen auch von Querschnitt-, bei „dynamischen“ Ansätzen auch von Längsschnittuntersuchungen.) Im ersten Fall genügt eine einmalige Datenerhebung. Im zweiten Fall müssen die Erhebungen entweder von vornherein längerfristig durchgeführt oder zu verschiedenen Zeitpunkten wiederholt werden. Wie nennt man das, wenn die wiederholten Datenerhebungen immer wieder bei den gleichen Untersuchungseinheiten (z.B. den gleichen Personen, Haushalten oder Organisationen), geschehen? Und was ist, wenn bei jeder der wiederholten Erhebungen die Untersuchungseinheiten neu ausgewählt und bei der Auswertung lediglich die statistischen Merkmalsverteilungen verglichen werden?
Im ersten Fall handelt es sich um eine Panel-Analyse, im zweiten handelt es sich um vergleichend-statische (komparativ-statische) Analysen.
Was ist eine Realzeituntersuchung? Was ist ex post facto?
Bei Fragestellungen, die an der Feststellung von Veränderungen, am Nachzeichnen von Entwicklungsprozessen orientiert sind, muss die Datenerhebung jedoch nicht zwangsläufig zeitgleich mit den zu beschreibenden Ereignissen stattfinden. Für den Spezialfall zeitlicher Übereinstimmung von Ereignissen/ Prozessen und ihrer Erhebung spricht man von einer Realzeituntersuchung. Oft kann aber die Ermittlung der Informationen auch im Nachhinein („ex post facto“) durchgeführt werden. Dabei wird versucht, die Abfolge von Ereignissen und Situationen zu rekonstruieren, etwa durch Auswertung von Dokumenten aus dem in Betracht kommenden Zeitraum oder durch Sekundäranalyse früher erhobener Daten oder durch Interviews mit Personen, die die interessierenden Ereignisse miterlebt haben.
Erläutere den Unterschied zwischen Feld- und Labor-Untersuchungen!
Bisher wurden zwei Typen deskriptiver Fragestellungen (Exploration und Diagnose) in verschiedenen Variationen vorgestellt. Die Untersuchung kann jedoch auch – darauf wurde in Kapitel 1 schon eingegangen – mit dem Ziel der Entwicklung oder des Tests wissenschaftlicher Theorien/Hypothesen oder zur empirischen Entscheidung über die Angemessenheit konkurrierender Theorien durchgeführt werden. Während es im Falle deskriptiver Forschung um die Erhebung von Daten im sozialen „Feld“ geht (Daten über den Alltag von Personen bzw. über existierende Haushalte, Gruppen, Organisationen, Regionen etc.), kann es bei theorietestenden Analysen notwendig werden, Untersuchungssituationen künstlich zu schaffen, in denen die zentralen Bedingungen, wie sie in den zu testenden Hypothesen benannt werden, vom Forscher beeinflusst oder zumindest exakt kontrolliert werden können. Forschungen in solchen künstlich geschaffenen Situationen nennt man „Labor“-Untersuchungen; das Forschungsdesign ist im Allgemeinen das des Experiments.
Was sind Evaluationsstudien? Wofür steht TA?
Häufig kommt es bei anwendungsbezogener Forschung vor, dass das Erkenntnisinteresse darauf gerichtet ist, den Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme bzw. eines Handlungsprogramms mit Hilfe empirischer Informationen zu beurteilen, das Programm also im Lichte empirischer Daten zu bewerten. In diesem Fall haben wir es mit Evaluationsstudien zu tun. Geschieht diese Bewertung mit Blickrichtung auf potentielle zukünftige Konsequenzen eines Vorhabens, muss die Untersuchung auch eine Prognose künftiger Entwicklungen mit einschließen. Da dieses in die Zukunft gerichtete Erkenntnisinteresse besonders oft bei anstehenden Entscheidungen über das Weiterverfolgen technologischer Entwicklungen und Programme besteht, ist um diesbezügliche Fragestellungen herum ein eigener Forschungstyp mit vielfältigen Differenzierungen und Schwerpunkten entstanden: die Technikfolgen- bzw. Technologiefolgen-Abschätzung (TA).
Gibt es mehr als graduelle Unterschiede bei der Entwicklung quantitativer vs. qualitativer Instrumente?
Was die Darstellung der Datenerhebungsinstrumente jeweils in ihrer standardisierten Version angeht, so unterscheidet sich die Logik bei der Entwicklung eines wenig standardisierten, „qualitativen“ Instruments davon nicht grundsätzlich, sondern allenfalls graduell. Was die Orientierung am Typ der „standardisiert-quantitativen“, d.h. auf weitgehende thematische Vorstrukturierung ausgerichteten Sozialforschung und der von ihr bevorzugten Methoden angeht, so ist festzustellen, dass die „qualitativen“ Ansätze häufig durchaus die gleichen traditionellen Instrumente verwenden, lediglich in gering standardisierten, gegebenenfalls leicht abgewandelten Versionen. Es gibt natürlich Ausnahmen: beim Interview beispielsweise das erzählgenerierende, „narrative“ Interview. Allerdings unterscheiden sich die Regeln der Anwendung der eingesetzten Instrumente. So ist z.B. das Informationsinteresse bei „qualitativer Beobachtung“ ein anderes als das Dokumentieren und Zählen des Auftretens vordefinierter Ereignisse und Merkmale im Falle standardisierter Beobachtung. Und auch erzählgenerierende Interviews zielen auf ganz andere Informationen als standardisierte Fragebögen und müssen daher in anderer Weise gehandhabt werden.
Welches sind die Entscheidungen, die ein Forscher inhaltlich treffen muß? (a-k)
a) Klärung des „Entdeckungs-“ und des „Verwertungszusammenhangs“ b) Präzisierung der Problemformulierung, „dimensionale Analyse“ des Forschungsgegenstands c) Zuordnung von geeigneten Begriffen zu den als relevant angenommenen Dimensionen d) Einordnung der Problemstellung in vorhandene Kenntnisse (Theorien, Forschungsergebnisse, Methoden); Hypothesenbildung unter Verwendung der definierten Begriffe; Entscheidung über das Forschungsdesign e) Auswahl von „Indikatoren“ für die verwendeten Begriffe (falls erforderlich) f) Festlegung des erforderlichen Differenzierungsgrades der Informationen sowie Angabe der Messinstrumente („Operationalisierung“ der Begriffe) g) Festlegung der Objekte (Merkmalsträger), bei denen die Merkmale gemessen werden sollen; Definition der Grundgesamtheit; ggf. Entscheidung über Art und Umfang der Stichprobe h) Erhebung und Aufbereitung der Daten i) Verringerung der Unübersichtlichkeit der Informationsfülle, Straffung und Verdichtung von Informationen (Anwendung statistischer Modelle und Verfahren) j) Interpretation der Ergebnisse; Rückbezug zu den Punkten a bis i k) Dokumentation des Forschungsprozesses und der Ergebnisse (Forschungsbericht) sowie Präsentation der Befunde
Erläutere den Punkt: a) Klärung des „Entdeckungs-“ und des „Verwertungszusammenhangs“:
– WelchesProblemsollerforschtwerden(Forschungsfrage)?WarumistdiesesProblemso relevant, dass es erforscht werden soll? – WessenProblemewerdenaufgegriffen?WessenInteressenwerdenberührt(Erkenntnisinteressen)? – Handelt es sich um ein dem Forscher vorgegebenes oder ein von ihm selbst gestelltes Problem? – Für welche Zwecke sollen die Ergebnisse verwendet werden (Verwertungsinteressen)? – Welche Informationen werden zur Erfüllung dieser Zwecke und zur Beantwortung der Forschungsfrage benötigt (Informationsbedarf)?
Erläutere den Punkt: b) Präzisierung der Problemformulierung, „dimensionale Analyse“ des Forschungsgegenstands:
– Welche Bereiche („Dimensionen“) der Realität sind durch die Forschungsfragestellung explizit angesprochen? – Welche Dimensionen werden berührt, ohne direkt angesprochen zu sein? – Können die als relevant angenommenen Dimensionen zusammengefasst werden, oder müssen sie differenziert betrachtet werden?
Erläutere den Punkt: c) Zuordnung von geeigneten Begriffen zu den als relevant angenommenen Dimensionen:
– ExistierenbereitseindeutigverwendeteundfürdieFragestellunggeeigneteBegriffe,oder müssen diese neu eingeführt und unmissverständlich definiert werden? – WerdendurchdieverwendetenBegriffebzw.durchdieWahlderfürDefinitionenverwendeten Merkmale möglicherweise vorhandene Beziehungen zwischen den realen Erscheinungen verschleiert, „wegdefiniert“?
Erläutere den Punkt: d) Einordnung der Problemstellung in vorhandene Kenntnisse (Theorien, Forschungsergebnisse, Methoden); Hypothesenbildung unter Verwendung der definierten Begriffe; Entscheidung über das Forschungsdesign:
– Welche theoretischen Kenntnisse sind über den Untersuchungsgegenstand sowie über Beziehungen zwischen den angesprochenen Dimensionen vorhanden? Welche Vermutungen können/müssen zusätzlich formuliert werden? – Welcher Untersuchungsansatz ist dem Forschungsproblem angemessen? – Sind die vorhandenen Vorkenntnisse ausreichend, um ein endgültiges Forschungsdesign zu entwerfen? Oder ist zuvor eine (explorative) Vorstudie erforderlich? – Welche Methoden der Informationsgewinnung sind prinzipiell geeignet und im gegebenen Zusammenhang zweckmäßig?
Erläutere den Punkt: e) Auswahl von „Indikatoren“ für die verwendeten Begriffe (falls erforderlich):
– Fassen Begriffe mehrere Dimensionen der Realität zusammen, so dass von einzelnen Aspekten auf den Gesamtbegriff (auf das sprachliche Konstrukt) geschlossen werden muss? – Ist das mit einem Begriff bezeichnete reale Phänomen direkt beobachtbar, oder muss vom Vorliegen anderer, direkt beobachtbarer Sachverhalte (Indikatoren) auf das Vorhandensein des gemeinten Phänomens geschlossen werden? – Welche Kenntnisse sind vorhanden, um geeignete Indikatoren auswählen zu können?
Erläutere den Punkt: f) Festlegung des erforderlichen Differenzierungsgrades der Informationen sowie Angabe der Messinstrumente („Operationalisierung“ der Begriffe):
– Kann auf bewährte Erhebungsinstrumente und Skalen zurückgegriffen werden? Oder ist ein spezifisches Instrument zu entwickeln und zu testen (Pretest)? – Mit welchen „Messverfahren“ sollen die Ausprägungen der Variablen festgestellt werden? Wie muss die Situation beschaffen sein, in der die Messung vorgenommen wird? – Auf welchem Skalenniveau kann/soll gemessen werden? – Sind die Indikatoren und die gewählten Ausprägungen „gültig“, d.h. erfassen sie genau diejenigen Tatbestände und diejenigen Differenzierungen der Realität, die mit der Forschungs-Problemstellung gemeint sind? – Sind die verwendeten Instrumente zuverlässig, d.h. führt ihre wiederholte Anwendung unter gleichen Bedingungen zu gleichen Ergebnissen?
Erläutere den Punkt: g) Festlegung der Objekte (Merkmalsträger), bei denen die Merkmale gemessen werden sollen; Definition der Grundgesamtheit; ggf. Entscheidung über Art und Umfang der Stichprobe:
– Wer sind die Merkmalsträger (z.B.Personen, Gebiete, Zeitschriften, Zeitpunkte)? – SollenalleObjekte,aufdiesichdieProblemstellungbezieht,untersuchtwerdenodernur ein Teil davon? – BeiTeilauswahlen:SollenbesonderstypischeFälleherausgegriffenwerden,oderisteine „repräsentative“ Auswahl erforderlich?
Erläutere den Punkt: h) Erhebung und Aufbereitung der Daten:
– Ist eine Primärerhebung erforderlich? Oder existieren die benötigten Informationen bereits anderswo (Sekundärauswertung)? – Stehen qualifizierte Personen für die Datenerhebung zur Verfügung? Oder muss Erhebungspersonal rekrutiert und geschult werden? – Kann die Zuverlässigkeit der Datenerhebung kontrolliert werden (Feldkontrolle)? – In welcher Weise sollen die Erhebungsprotokolle (z.B. Fragebögen, Beobachtungsprotokolle) aufbereitet und gespeichert werden?
Erläutere den Punkt: i) Verringerung der Unübersichtlichkeit der Informationsfülle, Straffung und Verdichtung von Informationen (Anwendung statistischer Modelle und Verfahren):
– Sollen die erhobenen Daten quantitativ ausgewertet werden? – Welche statistischen Modelle sind geeignet?
Erläutere den Punkt: j) Interpretation der Ergebnisse; Rückbezug zu den Punkten a bis i.
Im Interpretationsprozess sind folgende Fragen zu klären: – Sind die statistischen Modelle sowohl dem Messniveau der Daten als auch der empirischen Realität angemessen? Werden die im Hinblick auf die Problemstellung wesentlichen Informationen ausgewertet? Können also die berechneten Beziehungen zwischen den Daten (= zwischen den Reihen von Zahlen) überhaupt in Beziehungen zwischen Dimensionen der Realität zurückübersetzt werden? (vgl. i) Wenn ja: – Gelten die ermittelten Beziehungen nur für die untersuchte Menge von Objekten, oder können die Ergebnisse auf ähnliche Objekte oder auf eine größere Gesamtheit verallgemeinert werden? (vgl. g) – SinddieDatenzuverlässiggemessen/erhobenundaufbereitetworden?Könnendieermittelten Beziehungen zwischen den Daten also als Beziehungen zwischen den Variablen interpretiert werden? (vgl. h) – Sind geeignete Methoden gewählt worden? Die Fragestellung bei traditionellen empirischen Untersuchungen lautet: Welche Methoden der Datenerhebung sind geeignet, 1. die Dimensionen der Realität adäquat zu erfassen, ohne sie 2. durch die Datenerhebung selbst zu verändern?4 – Sind die Ausprägungen der Variablen in geeigneter Weise abgegrenzt worden? Können also die ermittelten Beziehungen zwischen den Variablen als Beziehungen zwischen den (empirischen) Indikatoren interpretiert werden? (vgl. f) – SindgeeigneteIndikatorenfürdiemitBegriffenbezeichnetenSachverhaltegewähltworden? Können die ermittelten Beziehungen zwischen den Indikatoren als Beziehungen zwischen den (mit Begriffen bezeichneten) Dimensionen der Realität interpretiert werden? (vgl. e und f) – WerdendievorherformuliertenHypothesenbzw.Theorien(vgl.d)durchdieErgebnisse (vorläufig) bestätigt? Oder müssen die Hypothesen verworfen bzw. umformuliert werden? – ErgebensichdurchdieResultatederUntersuchungKonsequenzenfürdieAuswahlund Abgrenzung der als relevant angenommenen Dimensionen der Realität sowie für die Definition der benutzten Begriffe (d.h. wurden relevante Dimensionen nicht berücksichtigt, haben sich Definitionen als nicht brauchbar erwiesen)? (vgl. b und c) – WelcheKonsequenzenfürdieeingangsformulierteProblemstellunglassensichausden Ergebnissen ableiten? Können die auf der Ebene der Symbole (Begriffe, Sprache) gefundenen Erkenntnisse auf die Realität bezogen werden (Praxisrelevanz; Verwertungszusammenhang)?
Erläutere den Punkt: k) Dokumentation des Forschungsprozesses und der Ergebnisse (Forschungsbericht) sowie Präsentation der Befunde:
– Wie ausführlich sind die Entscheidungen im Projekt und die verwendeten Instrumente zu dokumentieren (Sicherung der Möglichkeit intersubjektiver Nachprüfung)? – WieausführlichundaufwelcheWeisesinddieErgebnissederAnalysezudokumentieren? – Kann/solldererhobeneDatenbestandfürSekundäranalysenarchiviertwerden? – AufwelcheWeisewerdendieBefundegegenüberderÖffentlichkeit,demAuftraggeber etc. präsentiert (Artikel für Fachzeitschriften, Vorträge, Zusammenfassungen für die Presse)?
Strategische Bemerkung zur Erläuterung der einzelnen Aufgaben (a-k) der Forschung…
Die Klärung des Entdeckungs- und des Verwendungszusammenhangs (Punkt a) in Abschnitt 2.2) stellt den Ausgangspunkt und das Ziel der Forschung dar. Er ist die eigentliche Bezugsgröße für alle Überlegungen und liefert im Zweifelsfall die Kriterien für die im Forschungsprozess notwendigen Entscheidungen. Während die Punkte b) bis k) eingehender in den folgenden Kapiteln behandelt werden, sind zum Punkt a) einige nähere Erläuterungen schon an dieser Stelle erforderlich. Dazu soll die häufig benutzte Unterscheidung zwischen Entdeckungs-, Begründungs- sowie Verwertungs- bzw. Wirkungszusammenhang der Forschung (z.B. Friedrichs 1977, 50ff.) herangezogen werden. Sie geht im wesentlichen auf Reichenbach zurück (context of discovery, context of justification) und erweist sich als nützlich in der Einschätzung des Werturteilsfreiheits-Postulats der Erfahrungswissenschaft.
Warum sind Wertungen für das Wissenschaftskonzept des Kritischen Rationalismus in mehrfacher Hinsicht ein Problem?
Erstens: Erfahrungswissenschaft soll über die Realität, so wie sie unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter existiert, informieren, soll sie beschreiben und erklären. Wertende Aussagen jedoch können nicht aus Tatsachenaussagen logisch abgeleitet werden; anders ausgedrückt: Aus dem, was ist, kann nicht hergeleitet werden, was sein soll. Wertungen informieren also nicht über die „objektive“ Realität, sondern sind Ausdruck der subjektiven Sicht der wertenden Person oder Instanz. Auf Wertungen kann nicht das Kriterium der Wahrheit oder Falschheit angewendet werden. Somit kann über sie mit Hilfe des Instrumentariums der Erfahrungswissenschaft nicht entschieden werden (vgl. Abschnitt 1.2.3). Zweitens: Bei der Beobachtung der Realität wird die Wahrnehmung von den Zielen der beobachtenden Person beeinflusst. Die Wahrnehmungspsychologie hat nachgewiesen, dass man tendenziell vor allem das erkennt, was man zu erkennen hofft. Das gilt sowohl für vertraute Sachverhalte als auch für ungewohnte Situationen: Das Unvertraute wird zunächst so interpretiert, dass es in das eigene Orientierungsraster hineinpasst. Um solche Wahrnehmungsverzerrungen auszuschließen (realistischer: möglichst gering zu halten), muss deshalb die strikte Neutralität das Leitprinzip bei der Informationserhebung sein, um der „objektiven“ Realität (d.h. der Realität der Untersuchungsobjekte) die bestmögliche Chance zu geben, sich in den Wahrnehmungseindrücken abzubilden (vgl. Abschnitt 1.3.3, Problem 2: Basissatzdilemma). Drittens: Kein Forschungsprojekt kann soziale Realität in ihrer „Ganzheit“ untersuchen; jedes Projekt muss vielmehr außerordentlich selektiv vorgehen. Es ist immer nur ein kleiner Ausschnitt (ein eng abgegrenztes Thema, ein relativ kleiner Gegenstandsbereich) aus im Wesentlichen nur einer Perspektive analysierbar. Im Verlauf des Projekts sind unablässig Entscheidungen (über das angemessen erscheinende Vorgehen, über die Auswahl der zu untersuchenden Situationen oder Personen, über die zu messenden Merkmale usw.) zu treffen (vgl. Kapitel 2.2). Jede Selektion kann allerdings nur vorgenommen, jede Entscheidung nur getroffen werden unter Bezugnahme auf Werturteile (auf Bewertungen der „Aktualität“ eines Themas, der „Relevanz“ von Fragestellungen, der „Gültigkeit“ von Indikatoren, der „Repräsentativität“ einer Auswahl, der „praktischen Verwertbarkeit“ von Erkenntnissen und vieles mehr). Solche Entscheidungen – und damit der Rückgriff auf Wertungen – sind unvermeidbar. Dennoch dürfen sie die wissenschaftliche Geltung der Ergebnisse nicht beeinträchtigen. Aus diesen drei Problemen folgt für die Erfahrungswissenschaft die Forderung nach strikt interessenneutralem und unparteiischem Vorgehen, das zugespitzt als Postulat der Wertneutralität bzw. der Wert(urteils)freiheit formuliert wurde.
Was besagt das Wertneutralitätspostulat?
Das Wertneutralitätspostulat bezieht sich ausschließlich auf den sog. Begründungszusammenhang, worunter „die methodologischen Schritte zu verstehen (sind), mit deren Hilfe das Problem untersucht werden soll“ (Friedrichs 1977, 52f.; vgl. Kapitel 2.2, Buchstaben b bis k). Es besagt weiter, dass die innerhalb des Begründungszusammenhangs notwendigen Entscheidungen nicht auf der Basis subjektiver Wertungen und Präferenzen zustande kommen dürfen, sondern ausschließlich entsprechend den Normen der Methodologie empirischer Forschung sowie unter Rückgriff auf bestätigtes empirisches Wissen zu begründen sind. Das Postulat der Wert(urteils)freiheit lautet demnach: . (1) Werturteile sind erfahrungswissenschaftlich nicht begründbar. . (2) Im Begründungszusammenhang der Forschung haben subjektive Werturteile keinen Platz; hier haben sich die Wissenschaftler auf methodologisch begründbare Schlussfolgerungen und intersubjektiv nachprüfbare Aussagen zu beschränken.
Was bedeutet “Begründungszusammenhang”?
Die anfangs möglicherweise unplausibel erscheinende Bezeichnung „Begründungszusammenhang“ für die Phase der „eigentlichen Forschung“ wird Ihnen nunmehr vielleicht plausibler: Es geht (u.a.) um die Geltungsbegründung der auf empirischem Wege gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse.
Was soll für das Feld des Begründungszusammenhangs empirischer Forschung – zusammengefasst – gelten?
a) Werturteile (normative Aussagen) können nicht Inhalt erfahrungswissenschaftlicher Aussagen sein. Werturteile sind nicht intersubjektiv nachprüfbar, sie informieren nicht über einen Gegenstandsbereich, sondern über die wertende Person. Bei identischen Sachverhalten können verschiedene Personen zu unterschiedlichen Wertungen gelangen. b) Werturteile können dagegen sehr wohl zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen und erfahrungswissenschaftlicher Aussagen gemacht werden (z.B. Analyse des Ideologiegehalts von Propagandasendungen). c) VorabzufällendeWerturteileschließlichsindGrundlagejederwissenschaftlichen Aussage. Wissenschaftstheorie und Methodologie sind Bestandteile der Wertbasis, sind somit explizit normativ: (Zur Wertbasis einer Wissenschaft gehören weitere Normen: etwa die Verpflichtung, den Bestand an gesichertem Wissen über die Realität zu vermehren, aufklärend zu wirken, die Regeln der Forschungsethik zu beachten.) Sie setzen fest, welche Aussagen als zum Bereich der definierten Wissenschaft zugehörig gelten sollen und welche nicht (s.o.: „Abgrenzungskriterium“). Sie setzen z.B. fest, unter welchen Bedingungen eine Aussage als wahr oder zumindest vorläufig bestätigt akzeptiert bzw. wann sie als falsch zurückgewiesen werden soll. Solche immanenten Basisregeln des Forschens sind es gerade, die intersubjektiv überprüfbare wissenschaftliche Entscheidungen ermöglichen (sollen). Sie beruhen auf dem Konsens der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einer „Wissenschaftlergemeinde“ (scientific community), sind also nicht in das Belieben der einzelnen Forscherin oder des einzelnen Forschers gestellt (vgl. Albert 1972 u. 1973).8 Die wissenschaftsimmanenten Normen informieren in diesem Fall nicht über die Person des einzelnen Forschers (vgl. a), sondern über die „Wissenschaftlergemeinde“, nämlich über deren Regeln für „wissenschaftliches Vorgehen“. Definition: Das Wert(urteils)freiheits-Postulat kann nach diesen Überlegungen dahingehend präzisiert werden: Innerhalb des Begründungszusammenhangs erfahrungswissenschaftlicher Forschung ist auf andere als wissenschaftsimmanente Wertungen zu verzichten!
Ist aber die Wert(urteils)freiheit – wie vom Kritischen Rationalismus postuliert – in der praktischen empirischen Forschung überhaupt realisierbar?
Abgesehen davon, dass sehr schwer abgrenzbar ist, welche Forschungsentscheidung schon (bzw. noch) zum „Begründungszusammenhang“ gehört (eine Durchsicht der einzelnen Punkte in Kapitel 2.2 dürfte das deutlich machen), und abgesehen davon, dass es praktisch schwierig sein dürfte, für alle (häufig ad hoc im Forschungsprozess zu treffenden) Entscheidungen immer und schnell genug die erforderliche methodologische und/oder empirische Informationsbasis zu beschaffen, bleibt darüber hinaus prinzipiell umstritten, ob eine Realisierung des Werturteilsfreiheitspostulats – auch in der präzisierten Formulierung – überhaupt denkbar ist. Immerhin hat die Art der Präzisierung einer Fragestellung, hat die Wahl einer theoretischen Perspektive, unter der die Untersuchung in Angriff genommen wird, haben Begriffsdefinitionen und Operationalisierungen – um nur einige Punkte zu nennen – unbestreitbar Auswirkungen auf die Ergebnisse (und sei es auch nur dadurch, dass bestimmte Realitätsaspekte in den Blick geraten, andere ausgeblendet werden). Ebenso unbestreitbar dürfte sein, dass es schon aus logischen Gründen nicht möglich ist, alle diese Entscheidungen ausschließlich unter Rückgriff auf die methodologischen Regeln und auf empirisch gesicherte Kenntnisse über den Gegenstandsbereich der Untersuchung zu treffen. Zu Ende gedacht, würde dies nämlich voraussetzen, dass bereits vollständiges Wissen über den Untersuchungsgegenstand vorhanden ist – dann aber wäre die Forschung überflüssig. Praktisch wird also vielfach auch innerhalb des Begründungszusammenhangs des Projekts auf Argumente aus dem Entdeckungsund dem Verwertungszusammenhang Bezug zu nehmen sein (= wissenschaftsexterne Wertungen als Basis von Entscheidungen) oder wird die Intuition der Forscherin bzw. des Forschers weiterhelfen müssen (= subjektive Überzeugungen). Dies spricht jedoch nicht gegen das Wertneutralitätspostulat als orientierende Perspektive erfahrungswissenschaftlicher Forschung. Solange solche Wertbezüge nicht verschleiert oder hinter scheinobjektiven Formulierungen versteckt werden, ist darin für die Intersubjektivität der Ergebnisse kein grundsätzliches Problem zu sehen. Im Gegenteil wird durch die Offenlegung aller Wertbezüge eine wesentliche Voraussetzung für die wechselseitige Kritik innerhalb des Wissenschaftssystems – eine zentrale Forderung des Kritischen Rationalismus – geschaffen.
Anders als für den Begründungszusammenhang wird im Übrigen von keiner Seite bestritten, dass in den Bereichen des Entdeckungs- und des Verwertungszusammenhangs der Forschung notwendigerweise eine Fülle von (nicht wissenschaftsimmanenten) Werturteilen zu fällen ist. Warum ist das so?
Dabei ist unter Entdeckungszusammenhang „der Anlass zu verstehen, der zu einem Forschungsprojekt geführt hat“ (Friedrichs 1977, 50). Hier spielen Interessen immer eine Rolle, etwa: das Erkenntnisinteresse eines Wissenschaftlers, der aufgrund vorliegender widersprüchlicher Befunde sozialwissenschaftliche Theorien testen und fortentwickeln möchte; problembezogene politische Interessen, wenn z.B. vom Forscher (oder Auftraggeber) soziale Situationen gesehen werden, die nicht im Einklang mit bestimmten Soll-Vorstellungen stehen. Insbesondere bei Auftragsforschung sollte also bei der Lektüre von Forschungsberichten immer die Frage geklärt werden, wessen Probleme und Interessen aufgegriffen worden sind (bzw. wessen Probleme/Interessen ausgeklammert wurden!). Letzteres verweist bereits auf die enge Verzahnung des Entdeckungszusammenhangs mit dem Verwertungs- sowie Wirkungszusammenhang der Forschung, worunter die „Effekte einer Untersuchung verstanden werden, ihr Beitrag zur Lösung des anfangs gestellten Problems“ (Friedrichs 1977, 54). Jede Untersuchung erweitert Wissen über soziale Zusammenhänge, kann zur Lösung sozialer Probleme beitragen (wenn die neu gewonnenen Kenntnisse mit diesem Ziel eingesetzt werden) oder diese Lösung verhindern bzw. zumindest verzögern (wenn Kenntnisse bewusst zurückgehalten werden, oder wenn durch die Untersuchung bestimmter sozialer Fragen andere Probleme unbeachtet bleiben).
Welche 4 Designtypen werden im Buch näher dargestellt?
Aus dem Spektrum der existierenden Designtypen sollen hier vier besonders häufig vorkommende herausgegriffen und etwas näher dargestellt werden: - die theorie- oder hypothesentestende Untersuchung, - das Experiment sowie quasi-experimentelle Ansätze, - das Standardmodell der Programm-Evaluation sowie - das deskriptive Surveymodell (Querschnittserhebung nichtexperimenteller Daten).