M2 E1 Flashcards
Auf wen geht der Begriff Soziologie zurück?
Auf den französischen Philosophen Auguste Comte (1798-1857). Ursprünglich hatte er von physique sociale gesprochen. Sie sollte nach dem Vorbild der positiven − d.h. empirische Fakten feststellenden und erklärenden − Naturwissenschaften die gesellschaftlichen Erscheinungen studieren und ihre Gesetze aufzeigen.
Beschreibe das Dreistadiengesetz!
– Im theologisch-fiktiven Stadium deuten – so meinte Comte – die Menschen die Natur durch die Annahme der Existenz willensbegabter Wesen (Geister, Götter), welche die rätselhaften Naturvorgänge von innen her bewirken. In einer solchen Gesellschaft bekleiden dementsprechend Priester und Theologen die Machtpositionen.
– In der mittleren Epoche, dem metaphysisch-abstrakten Stadium, wird die Naturerklärung mittels personenähnlicher Wesen ersetzt durch abstrakte „Wesensbegriffe“ wie Substanz, Äther. Die Theologen müssen ihre gesellschaftlich führende Stellung abgeben an die Vertreter einer metaphysischabstrakten Philosophie. Auch die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen unterliegen zunehmend abstrakten Regeln.
– Im positiv-realen Stadium schließlich wird die Natur durch die Aufdeckung gesetzmäßiger Zusammenhänge auf der Grundlage empirischer Forschungen wissenschaftlich erklärt. Abstrakt-willkürliche Regelungen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen sollen durch eine auf Fachwissen und Berufserfahrung beruhende Lenkung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge ersetzt werden. Alle Entscheidungen sollen aus dem Bereich des Willkürlichen herausgenommen und auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen werden. Die Aufgabe einer „positiven“ Wissenschaft ist es dann (nach Comte), den Maßstab für die Erkenntnis zu liefern, was gut und was richtig ist.
Diese Zukunftsperspektive aus dem vorigen Jahrhundert und die damit verbundene Aufgabenzuschreibung an die Wissenschaft (genauer: an eine empirisch fundierte, nicht-subjektivistische, „positive“, kurz: eine „Erfahrungswissenschaft“) haben bis in die jüngste Zeit hinein nachgewirkt. Die Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Wissenschaften – vor allem des Feldes der Sozialwissenschaften – in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist zumindest teilweise so zu erklären. Man erhoffte sich von ihr sowohl Hilfen zur Orientierung bei politischen Entscheidungen (wissenschaftliche Beratung der Politik, sozialwissenschaftliche Begleitung und empirische Evaluation politischer Programme) als auch eine sichere Basis zur Rechtfertigung gesellschaftlichen Handelns. Die Wissenschaft sollte auf der Grundlage empirischer Daten unbestreitbare, handlungsleitende Erkenntnisse bereitstellen. Sie sollte den Prozess politischer Entscheidungen aus dem Zwielicht undurchschaubarer Mehrheits- und Machtkonstellationen herausführen und zur Entscheidungsfindung auf der Basis „objektiver“ Daten beitragen. Die Wissenschaft sollte aber nicht nur „objektive Daten“ liefern, also nicht nur herausfinden, was ist, sondern auch, was sein soll.
Beschreibe das Dilemma der Sozialwissenschaft (bezogen auf unser Alltagswissen)!
Sofern nun die Sozialwissenschaft Ergebnisse liefert, die mit diesem „funktionierenden“ Alltagswissen übereinstimmen, lautet die verständliche Reaktion: „Das ist doch trivial; das wissen wir schon längst. Wozu muss man mit großem Aufwand Daten erheben und auswerten, wenn schließlich nur etwas sowieso Selbstverständliches herauskommt?“
Sobald dagegen die Sozialwissenschaft Ergebnisse produziert, die besagen, dass das bisher bewährte Alltagswissen eigentlich nicht stimmt, dass seine Anwendung nur unter ganz bestimmten Bedingungen „funktioniert“, herrscht große Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung gegenüber solchen Forschungsergebnissen.
Im ersten Fall – Alltagswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse stimmen überein – werden die Forschungsbefunde allenfalls dann begrüßt, wenn bereits getroffene Entscheidungen auf diese Weise zusätzlich legitimiert und „wissenschaftlich abgesichert“ werden können.
Im zweiten Fall – Alltagswissen und wissenschaftliche Erkenntnisse stimmen nicht überein – haben die Forschungsbefunde vor allem dann eine Chance, akzeptiert zu werden (ja, sie werden sogar dringend gefordert), wenn bisher bewährtes Alltagswissen unter geänderten Rahmenbedingungen nicht mehr „funktioniert“, wenn die bisherige gesellschaftliche Praxis in eine Krise geraten ist.
Beschreibe die Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung im Gegensatz zur anwendungsorientierten Forschung!
Sie legt ihr Gewicht auf die Produktion und Vermehrung von möglichst allgemeingültigem Wissen, auf die verallgemeinerbare Beschreibung (Diagnose) und Erklärung sozialer Sachverhalte und Zusammenhänge. Nicht der einzelne Fall, sondern die generelle Tendenz steht im Vordergrund des Interesses. Im Unterschied dazu soll anwendungsorientierte Forschung Ergebnisse liefern, die beim aktuellen Entscheidungsprozeß verwertet werden können. Nicht abstrakte Zusammenhänge („Gesetzmäßigkeiten“) stehen im Vordergrund, sondern die Anwendbarkeit der Befunde auf einen aktuellen Fall oder auf eine Klasse gleichartiger Fälle. Grundlagenforschung begründet die Relevanz der von ihr aufgegriffenen Themen wissenschaftsimmanent aus bestehenden Lücken im bisherigen Wissensbestand bzw. aus Widersprüchen zwischen bisherigen Wissensbestandteilen. Bei anwendungsorientierter Forschung leiten sich die behandelten Fragestellungen aus den Bedürfnissen der Praxis her (z.B. Beurteilung der Wirksamkeit eines Unterrichtsprogramms zur Kompensation der Benachteiligungen von Kindern aus Unterschichtfamilien im traditionellen Bildungssystem).
Beschreibe den Unterschied zwischen Wissenschafts- und Alltagserfahrung!
Wissenschafts- und Alltagserfahrung unterscheiden sich jedoch darin, dass alltägliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen stärker auf konkretes Handeln, auf die jeweilige besondere Situation, auf den Einzelfall gerichtet sind: Was habe ich in dieser speziellen Situation beobachtet? Was ist in dieser speziellen Situation zu tun? (Zum Beispiel: Wie entwickelt sich die Bürgerinitiative gegen den Ausbau der Autobahn in X? Wird sie Erfolg haben? Was muss sie tun, um ihre Ziele zu erreichen?) Die Alltagsbeobachtung versucht dabei, die komplexe Einzelsituation in ihrer individuellen Besonderheit unter bestimmten alltagsrelevanten Gesichtspunkten möglichst umfassend wahrzunehmen, um im Einzelfall möglichst präzise Voraussagen über die Angemessenheit bestimmter Handlungsstrategien machen zu können. Alltagserfahrung ist damit auf die individuelle Ansammlung von handlungsrelevantem Wissen ausgerichtet.
Wissenschaftliche Beobachtung ist im Vergleich dazu stärker selektiv – wobei zugleich die Selektivität in höherem Maße kontrolliert wird – und stärker verallgemeinernd. Sie versucht, aus einer Vielzahl ähnlicher Situationen das Gemeinsame herauszuarbeiten, um relevante Einflussgrößen isolieren und generalisierende Prognosen formulieren zu können: Was ist den Situationen vom Typ X gemeinsam? Was sind die wichtigen Einflussgrößen in Situationen vom Typ X? (Zum Beispiel: Aus welchen Gründen bilden sich Bürgerinitiativen? Wie sind sie üblicherweise zusammengesetzt? Unter welchen Bedingungen können sie erfolgreich auf politische Entscheidungen Einfluss nehmen?)
Vergleiche den erkenntnistheoretischen Realismus mit dem erkenntnistheoretischen Konstruktivismus!)
Der erkenntnistheoretische Realismus – und auf dessen Basis wurde bisher implizit argumentiert (vgl. Abschnitt 1.1.4) – bejaht diese Möglichkeit. Denn nur wenn im Prinzip die Chance besteht, mit den Wahrnehmungssinnen und/oder mit Hilfe unterstützender Beobachtungsund Messinstrumente die außerhalb des beobachtenden Subjekts existierende Realität zu erfahren, sind sinnvolle Aussagen über die Realität formulierbar und „empirisch“8 in der Realität überprüfbar.
Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus bestreitet dagegen die Möglichkeit, mit den Wahrnehmungssinnen die Realität so zu erfassen, wie sie wirklich ist. Vertreter des „radikalen Konstruktivismus“ etwa kommen aufgrund von Forschungen in der Physik, Biologie und Kybernetik zu dem Schluss, „dass all unsere Erkenntnisse Erkenntnisse eines sich selbst organisierenden Systems, des Gehirns, sind, gebunden an dessen Erkenntnismöglichkeiten und –grenzen. Diese erlauben grundsätzlich keine Aussagen über die tatsächliche, die ‘wahre’ Beschaffenheit der Welt; sie zeigen nur, ob eine Erkenntnis mit der Beschaffenheit der Welt vereinbar ist, ob sie ‘passt’ – nicht aber, dass sie ‘wahr’ (im Sinne eines ‘einzig richtig’) ist.“ (Meinefeld 1995, 100).
Wovon gehen Anhänger einer analytisch-nomologischen bzw. deduktiv-nomologischen Wissenschaft aus?
Von einer geordneten, strukturvollen, regelhaften „wirklichen Welt“ (Welt der Tatsachen). D.h. die einzelnen Gegenstände stehen in geordneter Weise miteinander in Beziehung, sie bilden eine Struktur; Ereignisfolgen laufen nach immer gleich bleibenden Regeln („Gesetzen“) ab; für jedes Ereignis muss es eine Ursache oder auch eine komplexe Menge von Ursachen geben (Kausalitätsprinzip).
Was ist das Postulat der Einheitswissenschaft?
Da die prinzipielle Ordnung und Regelhaftigkeit für die gesamte reale Welt unterstellt wird, unterscheiden sich nach dieser Vorstellung die verschiedenen Erfahrungswissenschaften (z.B. Naturwissenschaften wie Physik, Chemie, Biologie oder Sozialwissenschaften wie Ökonomie, Psychologie, Soziologie) lediglich in dem Gegenstand, mit dem sie sich befassen, nicht dagegen in der Art ihres Vorgehens. D.h. zum Auffinden empirischer Gesetzmäßigkeiten können alle Erfahrungswissenschaften nach der gleichen Verfahrenslogik, nach den gleichen methodischen Prinzipien vorgehen.
Von wem wird das Postulat der Einheitswissenschaft bestritten?
Von „qualitativ“ orientierter Seite. Vertreter einer „interaktionistischen“ oder „interpretativen“ Sozialwissenschaft beispielsweise lassen für den Bereich des Sozialen (für die Gesellschaft sowie für Ereignisse und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft) die These einer vorgegebenen Struktur mit grundlegenden und gleich bleibenden Regelhaftigkeiten („sozialen Gesetzen“) nicht gelten. Sie postulieren, dass die Menschen die gesellschaftlichen Strukturen, in denen sie miteinander leben, durch ihr Handeln selbst schaffen und damit auch ständig verändern. Die Art der Beziehungen zwischen Menschen und zwischen Gruppen von Menschen wird – so die These – auf der Basis des bei jedem Mitglied einer Gesellschaft vorhandenen Alltagswissens in Interaktionen (d.h. durch aufeinander bezogenes Handeln von Personen oder Gruppen) immer wieder neu definiert, wird immer wieder in Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation neu entwickelt oder weiterentwickelt.
Warum heißt die analytisch-nomologische Position so?
Die analytisch-nomologische Position der Erfahrungswissenschaft unterstellt dagegen – wie schon erwähnt – ausdrücklich auch für den Bereich des Sozialen die Existenz grundlegender Gesetzmäßigkeiten. Diese treten unter veränderten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen lediglich in unterschiedlicher Ausprägung in Erscheinung. Aussagen über soziale Regelhaftigkeiten sollen daher im Idealfall „nomologischen“ Charakter haben, d.h. sie sollen in ihrem Geltungsanspruch weder räumlich noch zeitlich relativiert sein. Sie sollen im Prinzip die folgende Form aufweisen: Immer wenn der Sachverhalt X vorliegt und wenn zugleich die Zusatzbedingungen Y1, Y2, Y3, … erfüllt sind, dann wird auch das Ergebnis Z eintreten. Durch deduktiv-logische Ableitung kann diese allgemeine Gesetzesaussage auf beliebige räumlich und zeitlich identifizierbare Situationen übertragen werden; etwa: Der Sachverhalt A am Ort O zum Zeitpunkt t gehört zur Klasse der Sachverhalte X; die Situationsgegebenheiten b1, b2, b3, … entsprechen den im nomologischen Gesetz aufgeführten Zusatzbedingungen Y1, Y2, Y3, …; daher wird auch hier ein Ergebnis Z eintreten.
Auf rein logischem Wege begründete Aussagen nennt man auch „analytische“ Sätze. Daraus folgt die Bezeichnung „analytisch-nomologisch“ für die hier skizzierte wissenschaftstheoretische Position; zum Teil findet sich auch die Formulierung „deduktiv-nomologisch“.
Beschreibe das Prinzip der Wertneutralität innerhalb des Forschungsprozesses!
Um sicherzustellen, dass nicht systematische Verzerrungen das empirische Abbild der Realität beeinflussen, gilt als zentrale Norm analytisch-nomologisch orientierter Wissenschaft, dass im Zusammenhang mit der Datenerhebung und –auswertung ausschließlich von der Forschungsfragestellung her notwendige und sachlich-methodisch begründete Entscheidungen zu treffen und dass alle Entscheidungen und ihre Begründungen zu dokumentieren sind. Subjektive Werte, Urteile und Vorlieben der Forscher oder der mit der Datenerhebung betrauten Personen dürfen dabei ausdrücklich keine Rolle spielen.
Beschreibe das Prinzip der intersubjektiven Nachprüfbarkeit!
Der nach empirischen Gesetzmäßigkeiten fahndenden Forscherin und ihren Kollegen ist allerdings nicht mit isolierten Einzelbeobachtungen gedient. Sie wollen aus den Daten Schlussfolgerungen ziehen, die über die Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls hinausgehen. Daher ist Vorsorge zu treffen, dass die Bedingungen der Datenerhebung sich nicht von einem Fall zum anderen unterscheiden, so dass die Resultate der einzelnen Beobachtungen miteinander vergleichbar sind (Prinzip der Standardisierung der Messsituation). Und schließlich noch soll – wie oben schon angedeutet – das gesamte Vorgehen so vollständig dokumentiert werden, dass es von anderen Personen (anderen Forschern oder am Thema interessierten Laien) nachvollzogen, beurteilt, gegebenenfalls kritisiert oder sogar durch Wiederholung der Untersuchung nachgeprüft werden kann.
Beschreibe das Prinzip der Offenheit!
Auf erheblich andere Weise versuchen die am Konzept einer interpretativen Sozialwissenschaft orientierten Forscher, Zugang zu Informationen über die Realität zu finden. Am Beginn stehen nicht möglichst präzise formulierte Hypothesen, die durch Konfrontation mit der Realität überprüft werden sollen. Am Beginn steht vielmehr das Gewinnen möglichst authentischer Erfahrungen im Untersuchungs-“Feld“ (d.h. in dem Ausschnitt der tatsächlichen Welt, über den man Erkenntnisse gewinnen möchte).
Hierbei soll die Forscherin bzw. der Forscher sich vom „Prinzip der Offenheit“ leiten lassen. Dieses Prinzip besagt, dass sie/er nicht mit vorgefassten Meinungen in die Datenerhebung eintreten darf; insbesondere dürfen nicht in Hypothesen vorab festgeschriebene Behauptungen und Definitionen zum Maßstab der Datensammlung gemacht werden. Die Aufmerksamkeit soll vielmehr offen sein für die Wahrnehmung der Situationsdefinitionen, wie sie für die im Untersuchungsfeld alltäglich Handelnden gelten. Vorkenntnisse und Vorannahmen über den Untersuchungsgegenstand sollen daher einen bewusst vorläufigen Charakter haben. Sie sollen zwar die Aufmerksamkeit „sensibilisieren“, sollen neugierig machen; sie dürfen aber nicht (in Form forschungsleitender oder zu überprüfender Hypothesen) zu Voreingenommenheiten bei der Auswahl von Daten und bei deren Charakterisierung als relevant oder irrelevant für die Forschungsfrage verführen.
Was ist qualitative Sozialforschung?
Die Vergleichbarkeit der Einzeldaten wird von interpretativen Sozialforschern nicht durch Standardisierung der Erhebungssituation herzustellen versucht, sondern dadurch, dass möglichst alle für die untersuchten Sachverhalte bedeutsamen Randbedingungen und Interpretationen mit erhoben werden. Dies verlangt von den verwendeten Beobachtungsoder InformationsbeschaffungsStrategien eine möglichst große Flexibilität, so dass zu jedem Zeitpunkt auch unvorhergesehene Aspekte berücksichtigt werden können. Ein methodisches Vorgehen dieser Art – Prinzip der Offenheit, kommunikative Erhebung von Situationsdeutungen im sozialen Feld im Sinne „kontrollierter Subjektivität“ – bezeichnet man üblicherweise als qualitative Sozialforschung.
Warum ist die Bezeichnung “quantitative Methode” irreführend?
Für ein methodisches Vorgehen der oben skizzierten Art – also möglichst detaillierte Vorstrukturierung des Untersuchungsgegenstands durch Hypothesen sowie Standardisierung der Erhebungssituation mit dem Ziel der Gewinnung präziser, vergleichbarer, intersubjektiv gültiger empirischer Informationen – haben sich im allgemeinen Sprachgebrauch Bezeichnungen wie quantitative Methoden oder quantitative Sozialforschung eingebürgert. Solche Bezeichnungen sind jedoch irreführend, da die wesentlichen Unterschiede nicht erst in der Phase der Datenauswertung auftreten (quantifizierende Analyse mit Hilfe statistischer Verfahren versus qualitativ-hermeneutische Interpretation des gesammelten Materials), sondern schon im Zuge der Datenerhebung. Sie richten damit den Fokus auf einen Teilaspekt, der gerade nicht den zentralen Unterschied zwischen der „herkömmlichen“ und der „qualitativen“ Forschungsstrategie ausmacht und der sich allenfalls als ideologischer Kampfbegriff („qualitativ“ versus „quantitativ“) eignet.
Wie kann man die Strategie der sog. „quantitativen“ Forschung kurz auf den Punkt bringen?
Sie ist ein streng zielorientiertes Vorgehen, das die „Objektivität“ seiner Resultate durch möglichst weitgehende Standardisierung aller Teilschritte anstrebt und das zur Qualitätssicherung die intersubjektive Nachprüfbarkeit des gesamten Prozesses als zentrale Norm postuliert.
Wie lautet das Hauptprinzip empirischer Forschungsmethodologie, wie es vom Kritischen Rationalismus vertreten wird?
Alle Aussagen müssen an der Erfahrung überprüfbar sein, müssen sich in der Konfrontation mit der Realität bewähren. Mit anderen Worten: Alle Aussagen einer empirischen Wissenschaft müssen – sofern sie unzutreffend sind – prinzipiell an der Erfahrung scheitern können (vgl. Popper 1971, 15).
Welche drei einschränkende Konsequenzen für den Geltungsbereich abgegrenzter erfahrungswissenschaftlicher Aussagen folgen aus dem Hauptprinzip empirischer Forschungsmethodologie?
. 1) Nur solche Begriffe können in erfahrungswissenschaftlichen Aussagen benutzt werden, die sich auf die erfahrbare Realität beziehen: empirischer Bezug der benutzten Begriffe (positive Beispiele: Tisch, Kernkraftwerk, politische Partei; negative Beispiele: „gute Fee“, Zentaur, Himmelstor).
. 2) Die formulierten Sätze oder Aussagen empirischer Wissenschaft müssen eine Beschreibung von Zusammenhängen oder Sachverhalten bieten, die ebenfalls prinzipiell erfahrbar sind: empirischer Bezug der Gesamtaussage (positives Beispiel: Die CSU siegt bei der nächsten bayerischen Landtagswahl; negatives Beispiel: Das Leben nach dem Tode währt ewig).
. 3) Die Sätze müssen so formuliert sein, dass sie prinzipiell widerlegbar sind. Als empirische Aussagen nicht zugelassen sind daher analytisch wahre (d.h. aus logischen Gründen wahre) Aussagen sowie „Es-gibt“-Sätze (Existenzbehauptungen). [Eine Existenzaussage wäre z.B.: „Es gibt weiße Raben“. Diese Aussage ist empirisch nicht widerlegbar, da niemals sämtliche Raben in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf die Farbe ihrer Federn überprüft werden können.]
Eine Formulierung wie die folgende wäre bspw. prinzipiell nicht widerlegbar: „Es gibt neu gebaute Vorortwohnsiedlungen, in denen die Nachbarschaftskontakte mindestens gleich intensiv sind wie in innerstädtischen älteren Wohngebieten.“ Man könnte tausend und noch mehr Fälle vorweisen, in denen die Aussage nicht zutrifft: es bliebe dennoch die Möglichkeit, dass es irgendwo und irgendwann eine Vorortsiedlung gibt, gegeben hat oder geben wird, für die die Aussage richtig ist. Sobald man dagegen einen einzigen solchen Fall gefunden hat, ist die Aussage als wahr bewiesen: sie ist verifiziert.
Wie hängen Allsätze und Falsifikation zusammen?
Anhand der beiden Aussageformen (All-Sätze bzw. nomologische Aussagen und Es-gibt-Sätze bzw. Existenz-Aussagen) lässt sich die Asymmetrie zwischen Falsifikation und Verifikation feststellen. All-Aussagen sind prinzipiell nicht verifizierbar; aber ein einziger konträrer Fall reicht, um sie zu falsifizieren (als endgültig falsch zu erweisen). In ihrem Geltungsanspruch (räumlich und zeitlich) nicht eingegrenzte Existenz-Aussagen sind demgegenüber prinzipiell nicht falsifizierbar; aber ein einziger übereinstimmender Fall reicht, um sie zu verifizieren (als endgültig wahr zu erweisen).
Was ist das Problem des Anspruchs der analytisch-nomologischen Herangehensweise?
Wenn nun aber in einer erfahrungswissenschaftlichen Theorie nur widerlegbare Hypothesen zugelassen, nicht widerlegbare Aussagen verboten sind, dann besteht das Problem darin, wie man an „wahre Aussagen“ kommt (genauer: wie man die „Wahrheit“ von Aussagen erkennen kann). Die Hypothesen können noch so oft mit den Beobachtungsergebnissen übereinstimmen, sie können dennoch niemals endgültig bewiesen, d.h. verifiziert werden. Das gilt jedenfalls für die oben vorgestellte sprachlogische Form der All-Aussage. Und gerade solche Aussagen, die Geltung unabhängig von Raum und Zeit beanspruchen (nomologische Hypothesen), soll die empirische Wissenschaft (nach den Forderungen des Kritischen Rationalismus) anstreben. Dass es für die Sozialwissenschaften solche Nomologien (streng genommen) nicht – oder jedenfalls kaum – gibt, ändert nichts an dem geforderten Prinzip der Gewinnung von wissenschaftlicher Erkenntnis mittels nomologischer Aussagen.
Wie kann man in der Forschung damit umgehen, daß nie etwas endgültig bewiesen ist?
Um sich angesichts der oben genannten Schwierigkeit dennoch an die – nicht endgültig beweisbare – Wahrheit heranzutasten, wird von kritischen Rationalisten als eine Strategie (nach einer frühen Version Poppers) das folgende Vorgehen bei der Überprüfung empirischer Aussagen empfohlen: Hat sich eine Hypothese oder eine Theorie als empirisch falsch erwiesen (und war die zur Falsifikation führende Beobachtung korrekt), dann wird diese Hypothese/Theorie verworfen. Das heißt nicht, dass sie samt und sonders in den Papierkorb wandert; sondern sie darf in der gegenwärtigen Formulierung keine Geltung mehr beanspruchen. Die Konsequenz besteht in zwei Alternativen:
− DiefalsifizierteHypothese/Theorieistentwederaufgrundderihrwidersprechenden Daten „nicht mehr zu retten“ und daher zu verwerfen;
− oder sie kann unter Berücksichtigung der neu gewonnenen Erkenntnisse so umformuliert werden, dass ihr „Falschheitsgehalt“ eliminiert wird.
Diese neue Theorie oder Hypothese ist dann wiederum empirischen Tests zu unterwerfen. Wird sie wieder falsifiziert, ist sie ggf. erneut zu modifizieren und empirisch zu testen usw. Bestätigen dagegen die empirischen Befunde die Hypothese/Theorie, wird diese als vorläufig bestätigt im Bestand empirischer Theorien/Hypothesen beibehalten und bei nächster Gelegenheit einer schärferen Überprüfung (einem empirischen Test unter härteren Bedingungen) ausgesetzt. Hypothesen/Theorien, die wiederholten und verschärften empirischen Tests standgehalten haben, gelten als bewährte Aussagen.
Damit aber ist der Prozess des Forschens nicht zu Ende. „Bewährte Aussagen“ werden im Allgemeinen solche sein, deren Geltung durch einschränkende Randbedingungen oder andere Einschränkungen des Geltungsbereichs relativ eng eingegrenzt worden ist. Sie sind dann keine echten All-Aussagen, sondern Aussagen mit eingeschränkter Reichweite. Die empirische Wissenschaft soll nun versuchen, aus solchen Hypothesen/Theorien „mittlerer Reichweite“ allgemeinere, umfassendere Hypothesen/Theorien zu formulieren, deren Geltungsbereich die bewährten Aussagen als Teilmenge enthält, aber zusätzlich noch weitere Phänomene mit erklärt. Solche allgemeineren Hypothesen haben einen höheren Informationsgehalt; aus ihnen können spezifischere Hypothesen unter Angabe bestimmter Randbedingungen deduktiv abgeleitet werden. Bei der Überprüfung dieser allgemeineren Aussagen geht der – idealtypische – Erfahrungswissenschaftler wieder so vor, wie eben geschildert: empirischer Test → bei Falsifikation Umformulierung → erneuter Test → bei Bestätigung Verschärfung der Überprüfungsbedingungen →usw.
Das heißt also: An „wahre Aussagen“ tastet sich die empirische Wissenschaft durch Versuch und Irrtum, durch Ausscheiden falscher Hypothesen, durch verschärften Test bestätigter, durch Erweiterung bewährter Hypothesen heran. Das „Wahrheits(entscheidungs)kriterium“ ist somit einzig und allein die Konfrontation mit erfahrbarer Realität. Als Kriterium der Wahrheit (genauer: Kriterium der Entscheidung über die Wahrheit) gilt nicht „höhere Einsicht“, nicht der Hinweis auf „letzte Quellen“ oder auf Autoritäten (etwa die Bibel oder Max Weber oder Karl Marx), sondern einzig und allein der langwierige Weg von Versuch und Irrtum beim Vergleich von theoretischer Aussage und beobachtbarer Realität.
Welche zwei gravierenden Probleme stellen die empirische Wissenschaft vor grundlegende Schwierigkeiten?
Das erste Problem bezieht sich auf das absolute Postulat der endgültigen Zurückweisung einer Aussage, sobald auch nur ein einziger Fall auftaucht, der im Widerspruch zu der Theorie/Hypothese steht. Dieses Postulat gilt logisch nur für nomologische Aussagen, d.h. für (deterministische) „Gesetzesaussagen“, deren Geltungsanspruch weder räumlich noch zeitlich eingeschränkt ist. Da es solche Aussagen für die Sozialwissenschaften derzeit kaum gibt, würde es auch keine empirischen sozialwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten vorzuweisen geben. Dies wäre natürlich keine für die Sozialforschung (auch nicht für Wissenschaftstheoretiker) befriedigende Situation, so dass ein Ersatz für nomologische Aussagen gefunden werden muss.
Das zweite Dilemma allerdings existiert auch im Falle nomologischer Gesetze. Es entsteht, weil die Entscheidung über die (endgültige) Zurückweisung einer empirischen Hypothese bei konträren Beobachtungen sich bei genauerem Hinsehen als weitaus schwieriger erweist, als dies bisher vereinfachend dargestellt wurde. Denn die Hypothese (= die auf Vermutungen basierende Aussage) über reale Phänomene kann ja nicht unmittelbar mit der Realität konfrontiert werden, sondern lediglich mit einer auf Beobachtungen fußenden anderen Aussage über die Realität. Und diese Beobachtungsaussage über ein Ereignis kann selbst falsch sein. Sie müsste, um als Grundlage für die Entscheidung über die Hypothese dienen zu können, verifiziert werden können (siehe weiter unten: Basissatzproblem).
Nenne die beiden Möglichkeiten, mit der eingeschränkten Reichweite von nomologischen Aussagen in den Sozialwissenschaften umzugehen!
Der Kritische Rationalismus lässt die Formulierung von Hypothesen und Theorien eingeschränkter Reichweite durchaus zu, hält aber an dem Ziel der Erfahrungswissenschaft fest, möglichst „kühne“ Theoriegebäude mit möglichst hoher Erklärungskraft (d.h. auch: mit möglichst hohem empirischem Gehalt) zu entwerfen und durch Konfrontation mit der Realität weiterzuentwickeln. Theorien, die sich bei empirischen Tests teilweise bewähren oder teilweise falsifiziert werden, sind so umzuformulieren, dass ihr „Wahrheitsgehalt“ (weniger anspruchsvoll formuliert: die bewährten Bestandteile der Aussagen) nicht verloren geht und ihr „Falschheitsgehalt“ (die falsifizierten Bestandteile) eliminiert wird. Bewährte Aussagen wiederum sind „gehaltserweiternd“ umzuformulieren und erneut empirisch zu prüfen. Auf diese Weise – so hofft der überzeugte Kritische Rationalist – nähert sich die Wissenschaft Schritt für Schritt dem Idealbild empirisch bewährter Nomologien.
Die zweite – in den Sozialwissenschaften am häufigsten gewählte – Rettungsmöglichkeit ist, nicht deterministische Hypothesen (immer wenn x, dann auch y), sondern statistische Aussagen zu formulieren. So ist z.B. mit einer Aussage über räumliche Mobilität: „Ältere Leute sind weniger mobil als jüngere Personen“ im Allgemeinen nicht gemeint: „Für alle Personen x und y gilt: Immer wenn Person x älter ist als Person y, dann ist x weniger mobil als y“. Sondern man meint damit entweder: „Für die Gruppe der alten Menschen gilt, dass sie im Durchschnitt weniger mobil ist als die Gruppe der jungen Menschen“. Oder – auf die Einzelperson gemünzt –: „Die Wahrscheinlichkeit, mobil zu sein, ist für eine ältere Person geringer als für eine jüngere“.
Beschreibe den Realismus der Wissenschaften!
„Das Ethos der Wissenschaft ist die Suche nach ‚objektiver‘ Wahrheit“, schrieb 1971 der schwedische Sozialwissenschaftler Gunnar Myrdal. „Objektiv“ meint in diesem Zusammenhang, dass für die Wahrheit einer Erkenntnis die Objekte in der Realität entscheidend sind, wie sie außerhalb des erkennenden Subjekts existieren. Dies kommt auch in der Entscheidungsregel des Kritischen Rationalismus zum Ausdruck, wie sie bisher in diesem Text dargestellt wurde: Über die Wahrheit einer empirischen Aussage (Hypothese) entscheidet die Konfrontation mit der Realität. Stimmt der semantische Gehalt (= die Bedeutung) der Aussage mit den Gegebenheiten in der Realität überein, dann gilt sie als richtig; ist dies nicht der Fall, dann gilt sie als falsch (= „Korrespondenztheorie der Wahrheit“).