M1 F3 Flashcards
Wie heißt in Deutschland der erste und wichtigste Konstruktivist in der Psychologie?
Klaus Holzkamp (1972)
Was ist Exhaustion?
Man kann widersprechende empirische Ergebnisse mit entsprechender Phantasie und Kreativität immer irgendwelchen „Störquellen“ zuschreiben. Der Fachausdruck für dieses Verfahren ist „Exhaustion“ bzw. „exhaurieren“. „Exhaustion“ bedeutet eigentlich „Ausschöpfung“: ausgeschöpft werden alle Möglichkeiten, eine Theorie oder Hypothese vor der Falsifikation zu retten. Durch das Verfahren der Exhaustion werden Theorien gegenüber der Realität, immunisiert: ihr Scheitern wird unmöglich.
Welche Rolle spielt Exhaustion im Konstruktivismus?
Das „Exhaustions-Verfahren“ stellt ein wichtiges Prinzip im sog. „Konstruktivismus“ dar, den Holzkamp (1968; 1972) in Anlehnung an frühere Wissenschaftstheoretiker (vor allem Hugo Dingler, 1881-1954) neu formuliert hat. Holzkamp sieht den Konstruktivismus als eine konsequente Weiterentwicklung des kritischen Rationalismus von Popper an.
Worauf bezieht sich der Name “Konstruktivismus”?
Der Name – Konstruktivismus bezieht sich darauf, dass nach dieser wissenschaftstheoretischen Konzeption der Forscher die „Realität“, auf die sich seine Theorien beziehen, auswählend oder herstellend selbst „konstruiert“. Im Konstruktivismus hat die Theorie eine absolute Dominanz gegenüber der Empirie.
Was ist das Erkenntnisziel im Konstruktivismus?
So ist auch konsequenterweise jeglicher Anspruch darauf, die „Wahrheit“ erkennen zu können, im Konstruktivismus aufgegeben. Stattdessen geht es hier nur noch um den „Willen zur Eindeutigkeit“. Holzkamp (1972, S. 92) unterscheidet hierbei zwischen dem Streben nach “systemimmanenter“ und dem Streben nach „systemtranszendenter“ Eindeutigkeit.
Was sind systemimmanente und systemtranszendente Eindeutigkeit?
Die systemimmanente Eindeutigkeit bezieht sich auf die geforderte logische Widerspruchslosigkeit in einer wissenschaftlichen Theorie.
Die Forderung nach systemtranszendenter Eindeutigkeit bezieht sich auf die Anbindung einer aus Sätzen aufgebauten Theorie an die Empirie. („Eine Theorie ist in dem Maße systemtranszendent eindeutig, als – in besonderen Sätzen erfasste – reale Verhältnisse ausgewählt oder hergestellt werden können, die mit der Theorie in Einklang stehen“ (Holzkamp 1972, S. 93).)
Was ist die Realisation im Konstruktivismus?
Theorie und Empirie werden also dadurch zueinander in Beziehung gesetzt, dass reale Verhältnisse ausgewählt oder hergestellt werden, deren Vorhandensein von der jeweiligen Theorie postuliert wird.
Dieses Auswahl bzw. Herstellungsverfahren wird Realisation genannt. In dieser Realisation zeigt sich die radikale Abwendung des Konstruktivismus vom Prinzip der Induktion: Es wird nicht von der empirischen Basis auf die Theorie geschlossen, sondern der Forscher wählt gemäß den Vorgaben seiner Theorie reale Verhältnisse aus oder stellt sie selbst her (z.B. im Experiment).
Warum will Holzkamp das Exhaustions-Prinzip nicht uneingeschränkt akzeptieren?
Wie er selbst hierzu bemerkt, würde sonst jede Theorie trotz aller Abweichungen in empirischen Daten unbegrenzt aufrechterhalten werden können (Holzkamp 1972, S. 94). Außerdem ließe sich eine unbegrenzte Exhaustionsmöglichkeit nicht mit dem Prinzip der systemtranszendenten Eindeutigkeit in Übereinstimmung bringen: eine Anbindung an die Realität ist dort überflüssig, wo durch diese keinerlei Rückschlüsse auf die Theorie möglich wären.
Beschreibe Holzkamps Idee, mit dem Belastetheits-Konzept die Exhaustion einzuschränken!
Holzkamp versuchte, methodologische Verfahrensregeln aufzustellen, die die Exhaustionsmöglichkeiten einschränken sollen. Es soll also zwischen „erlaubten“ und „unerlaubten“ Exhaustionen unterschieden werden. Er hat hierzu das Konzept des „Belastetheitsgrades“ von Theorien entwickelt: Gemäß dem Belastetheits-Konzept sollen Exhaustionen nur insoweit zulässig sein, als die Behauptung, bestimmte Abweichungen zwischen Theorien und Daten gehen auf störende Bedingungen zurück, selber wieder begründbar ist.
Was ist nach Holzkamp die Belastetheit von Theorien?
Sofern der – logisch immer mögliche – Rückgriff auf störende Bedingungen zur Interpretation von Abweichungen nicht begründet werden kann, wird der Umstand, dass die theoretische Annahme nur durch Exhaustion aufrechterhalten werden konnte, der Theorie als „Belastetheit“ zugerechnet. Je höher der Belastetheitsgrad einer Theorie ist, um so mehr verringert sich ihr „empirischer Wert“ bzw. ihr „Realisationsgrad“. Theorien mit geringerem Realisationsgrad sind unter sonst gleichen Umständen in geringerem Maße wissenschaftlich vertretbar als Theorien mit höhrerem Realisationsgrad, was durch Rückgriff auf das Prinzip der systemtranszendenten Eindeutigkeit begründbar ist. (Holzkamp 1972, S. 95)
Beschreibe Alberts Kritik an Holzkamps Konstruktivismus!
Albert wirft Holzkamp z.B. vor, er habe die wissenschaftstheoretischen Auffassungen von Popper so umgedeutet, „dass der Sinn dieser Lehre ins Gegenteil verkehrt wird“ (Albert 1973, S. 19). So sei z.B. die Kritik Holzkamps am Falsifikations-Konzept unverständlich, da Popper gar nicht bestreite, dass eine Theorie trotz widersprechender empirischer Befunde beibehalten werden könne. Da Popper keineswegs – wie Holzkamp unterstelle – den Anspruch auf Erkenntnis der Realität als sinnlos hinstellen wolle, könnte in Bezug auf das Exhaustions-Verfahren allenfalls strittig sein, ob es erkenntnisfördernd sei.
Was ist kritischen Wissenschaftstheorien gemeinsam?
Gemeinsam ist ihnen, dass sie eine Unterordnung der Sozialwissenschaften unter die Naturwissenschaften ablehnen, und dass sie in mehr oder weniger engem Bezug auf Karl Marx (1818 – 1883) herausstellen, dass Wissenschaft immer Teil eines historisch wandelbaren Bereichs ist und gesellschaftlichen Bestimmungen unterliegt.
Fasse den Positivismusstreit zusammen!
Popper und Albert bezogen sich in diesem sog. Positivismusstreit zum Teil auf den früher von Max Weber (1864 – 1920) und Gustav Schmoller ausgetragenen Werturteilsstreit, in dem Weber die Trennung von Werturteilen und wissenschaftlichen Sätzen gefordert hatte (vgl. auch 4.3.3).
Die Vertreter der Frankfurter Schule versuchten, im Positivismusstreit herauszustellen, dass jeder Theoriebildung immer schon ein Erkenntnisinteresse vorausgehe (Habermas) und dass Theorien von Herrschaftsinteressen durchsetzt seien (Adorno). Den Neopositivisten wurde eine verschleiert normative Funktion des falschen Bewusstseins (Habermas) vorgeworfen. Der Forscher selbst sei stets Teil der Gesellschaft und könne sich nicht außerhalb seiner selbst stellen. Er müsse daher sein Verhältnis zu Gesellschaft, Forschung und Wissenschaft dialektisch mitbedenken.
Warum blieb der Positivismusstreit in der scientific community der Psychologen zunächst fast völlig unbeachtet?
Zu erklären ist dies wohl mit der Tatsache, dass die nachwachsende Psychologengeneration Anfang der sechziger Jahre vollauf damit beschäftigt war, neobehavioristisches Denken der vorwiegend amerikanischen Psychologie zu übernehmen und (durchaus erfolgreich) in Praxis umzusetzen (vgl. zur Geschichte der Psychologie nach 1945 u.a. Lück et al. 1987).
Wofür steht Kritische Psychologie in der Holzkamp-Schule?
Für die marxistisch fundierte psychologische Forschung und Praxis. Sowohl Inhalte, Methoden als auch Anwendungen der „bürgerlichen“ Psychologie (sei sie empirisch-analytischer, sei sie hermeneutisch-verstehender Art) werden von der Kritischen Psychologie kritisiert.
Nenne die beiden zentralen Kritikpunkte der kritischen Psychologie!
- Die bürgerliche Psychologie arbeitet mit der Fiktion des aus seinen gesellschaftlichen Bezügen herausgelösten Individuums. Das psychologische Experiment spiegelt diese Desintegration und Parzellierung deutlich wider.
- Die Theorien der bürgerlichen Psychologie sind beliebig. Theoriegeschichte nimmt sich daher wie ein Wechsel von Moden dar. Der Grund für diese Beliebigkeit wird von marxistischen Psychologen in der Zirkularität des Theorie-EmpirieVerhältnisses gesehen: Die empirischen Befunde bestimmen sich nach den Hypothesen, diese nach den Theorien. Die Theorien selbst stehen langfristig in Konkurrenz miteinander.
Was ist der marxistische Hintergrund der Kritik der kritischen Psychologie?
Sie erfolgt vor dem Hintergrund der Aussagen von Marx, das gesellschaftliche Sein bestimme Bewusstsein, und das menschliche Wesen sei das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse (6. Feuerbach-These). Die Thesen von Marx sollten nach Holzkamp (1977, S. 50ff.) nicht so missverstanden werden, dass das Individuum lediglich unter gesellschaftlichen Einflüssen steht, wie dies im Übrigen die Grundannahme der gesamten Sozialpsychologie ist. Holzkamp fordert vielmehr ein dialektisches Verhältnis von Mensch und Gesellschaft in der psychologischen Forschung.
Wird die von Holzkamp geforderte dialektische Beziehung von allen marxistisch orientierten Psychologen/Theoretikern akzeptiert?
Einige, wie Lorenzer, Horn u.a., sehen die Psychoanalyse als brauchbare und kompatible psychologische Theorie im Kontext der marxistischen Gesellschaftstheorie an, da Marx nur objektive gesellschaftliche Strukturen bedacht habe. Diese Position lehnt Holzkamp ebenso ab, wie die einiger orthodoxer Marxisten, die die Entwicklung marxistisch psychologischer Theorien grundsätzlich mit der Begründung ablehnen, subjektwissenschaftliche Ansätze seien als solche illegitim, da die Aufgabe der Bestimmung der Individualität und Subjektivität des Menschen durch die ökonomische Theorie von Marx zu erklären sei.
Warum steht Holzkamp in der Reihe der marxistisch orientierten Theoretiker zwischen zwei Extremen?
Er hält eine Kritische Psychologie als marxistische Individualwissenschaft für möglich und notwendig, ordnet sie jedoch der marxistischen gesellschaftlich-historischen Analyse unter (1977, S. 64). Die Forschungsthematik der Kritischen Psychologie innerhalb des wissenschaftlichen Sozialismus ergibt sich für Holzkamp daraus, dass „Individuen permanentes Resultat ihrer individualgeschichtlichen Entwicklung sind, eines Prozesses, der zwar mit dem gesellschaftlich-historischen Entwicklungsprozess eng verflochten, aber dennoch von ihm unterscheidbar ist“ (S. 65). Aus gesellschaftlicher Sicht sind diese individuellen Entwicklungen nur „quasi ein mikroskopischer Aspekt des historischen Prozesses selbst“ (S. 65).
Wer gilt als Begründer der Verstehenden Psychologie?
Als Begründer der Verstehenden Psychologie wird heute Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) angesehen. Doch hat Dilthey selbst diesen Begriff nicht geprägt und nicht gebraucht. Dilthey sprach von „Realpsychologie“ (1865) und dann von „beschreibender und zergliedernder Psychologie“ (1894) und zuletzt von „Strukturpsychologie“ (Nachlassfragment).