Block 6 Flashcards
Strafzumessung und Strafbefreiung
Was ist der ordentliche Strafrahmen und wie wird er bestimmt?
Für die Ermittlung des Strafrahmens im konkreten Fall ist auf die Strafandrohungen gemäss
der einzelnen Straftatbestände des Strafgesetzbuches und des Nebenstrafrechts abzustellen.
Der ordentliche Strafrahmen ergibt sich dabei aus der Strafrahmenobergrenze und Strafrah-
menuntergrenze.
Legen Sie den ordentlichen Strafrahmen für folgende Delikte fest: Diebstahl, Mord, sexuelle Be-
lästigung.
Diebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB)
Wenn eine Geldstrafe ausgesprochen wird:
Strafrahmenuntergrenze: 3 Tagessätze Geldstrafe (vgl. Art. 139 Ziff. 1 StGB i.V.m. Art.
34 Abs. 1 StGB)
Strafrahmenobergrenze: 180 Tagessätze Geldstrafe (vgl. Art. 139 Ziff. 1 StGB i.V.m.
Art. 34 Abs. 1 StGB)
Wenn eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird:
Strafrahmenuntergrenze: 3 Tagessätze Geldstrafe (vgl. Art. 139 Ziff. 1 StGB i.V.m. Art.
40 Abs. 1 StGB)
Strafrahmenobergrenze: 5 Jahre Freiheitsstrafe (vgl. Art. 139 Ziff. 1 StGB)
Mord (Art. 112 StGB)
Strafrahmenuntergrenze: 10 Jahre Freiheitsstrafe (vgl. Art. 112 StGB)
Strafrahmenobergrenze: lebenslängliche Freiheitsstrafe (vgl. Art. 112 StGB)
Sexuelle Belästigung (Art. 198 StGB)
Strafrahmenuntergrenze: CHF 1
Strafrahmenobergrenze: CHF 10’000 (vgl. Art. 198 StGB i.V.m. Art. 106 Abs. 1 StGB)
Was versteht man unter dem erweiterten Strafrahmen?
Der ordentliche Strafrahmen wird unter gewissen Umständen nach unten und/oder nach oben
erweitert.
Liegen Strafmilderungsgründe vor, muss das Gericht den Strafrahmen gegen unten erweitern.
Liegen Strafschärfungsgründe vor, muss das Gericht den Strafrahmen gegen oben erwei-
tern.
Wann ist der Strafrahmen gegen unten erweitert werden?
Der Strafrahmen ist gegen unten zu erweitern, wenn ein Strafmilderungsgrund vorliegt.
Art. 48 StGB enthält verschiedene Strafmilderungsgründe.
Auch in anderen Artikeln des StGB befinden sich Strafmilderungsgründe, z.B. in Art. 11. Abs.
4 StGB (Begehung durch Unterlassen), Art. 16. Abs. 1 StGB (entschuldbare Notwehr), Art. 19
Abs. 2 StGB (verminderte Schuldfähigkeit), Art. 22 Abs. 1 StGB (Versuch), Art. 25 StGB (Ge-
hilfenschaft), Art. 173 Ziff. 4 StGB (Rücknahme der Äusserungen bezüglich einer üblen Nach-
rede).
Nehmen Sie bei Art. 113 StGB (Totschlag) eine Strafrahmenerweiterung nach unten vor – auf-
grund des Vorliegens eines Strafmilderungsgrundes.
Ordentlicher Strafrahmen (Art. 113 StGB): 1 Jahr Freiheitsstrafe bis 10 Jahre Freiheitsstrafe.
Anwendung von 48a Abs. 1 StGB
Mildert das Gericht die Strafe, so ist es nicht an die angedrohte Mindeststrafe gebunden.
In casu fällt also die in Art. 113 StGB angedrohte Mindeststrafe von einem Jahr weg und wird
nach unten erweitert auf 3 Tage Freiheitsstrafe (vgl. Art. 40 Abs. 1 StGB).
Anwendung von Art. 48a Abs. 2 StGB
Gemäss Art. 48a Abs. 2 StGB kann das Gericht auf eine andere als die angedrohte Strafart
erkennen, ist aber an das gesetzliche Höchst- und Mindestmass der Strafart gebunden.
Das Gericht kann also auf eine andere Strafart erkennen, d.h. Geldstrafe oder Busse
Bei Vorliegen von Strafmilderungsgründen kann ein Totschlag also theoretisch auch mit 3
Tagessätzen Geldstrafe (vgl. Art. 34 Abs. 1 StGB) oder CHF 1 Busse bestraft werden, d.h.
dem jeweiligen Mindestmass der Strafart.
Zu beachten ist zudem, dass wenn ein Strafmilderungsgrund gegeben ist, so kann die jewei-
lige Höchststrafe der Strafart nicht mehr verhängt werden. Es erfolgt eine Reduzierung um
jeweils eine Einheit: Bei der Busse sind so höchstens CHF 9’999 (CHF 10’000 minus CHF 1)
möglich, bei der Geldstrafe 179 Tagessätze (180 Tagessätze minus 1 Tagessatz) und bei
der Freiheitsstrafe 10 Jahre minus 1 Tag.
Fazit
Wenn eine Busse ausgesprochen wird: CHF 1 – CHF 10’000 minus CHF 1
Wenn eine Geldstrafe ausgesprochen wird: 3 Tagessätze – 180 Tagessätze minus
1 Tagessatz
Wenn eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird: 3 Tage – 10 Jahre minus 1 Tag
Wann kommt Art. 19 Abs. 2 StGB zur Anwendung? Mit welchen Folgen?
Wenn der Täter nur teilweise fähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss
dieser Einsicht zu handeln, kommt Art. 19 Abs. 2 StGB zur Anwendung. Es handelt sich bei
diesem Artikel um den häufigsten Strafmilderungsgrund.
Was versteht man unter achtenswerten Beweggründen?
Achtenswerte Beweggründe (gemäss Art. 48 lit. a Ziff. 1 StGB) sind dann anzunehmen, wenn
sie eine gewisse Ehrenhaftigkeit aufweisen.
Ob der Beweggrund achtenswert ist, beurteilt sich nach der Rangordnung ethischer Werte, die
von der Gemeinschaft anerkannt werden. Als Strafmilderungsgrund fällt der achtenswerte Be-
weggrund nur in Betracht, wenn er effektiv die Schuld herabsetzt. Dem so handelnden Täter
muss ein erheblich geringerer Schuldvorwurf gemacht werden können als Tätern, die ohne die-
sen Beweggrund handeln.
Was versteht man unter aufrichtiger Reue?
Art. 48 lit. d StGB: Das Gericht mildert die Strafe, wenn der Täter aufrichtige Reue betätigt,
namentlich den Schaden, soweit es ihm zuzumuten war, ersetzt hat.
Es geht also um das Verhalten des Täters nach der Tat.
Was ist mit der Formulierung «durch das Verhalten der verletzten Person ernsthaft in Versu-
chung geführt worden ist» nach Art. 48 lit. b StGB zu verstehen?
Dieser Strafmilderungsgrund kommt z.B. bei Sexualdelikten zur Anwendung, wenn die ver-
letzte Person den Anstoss zum Delikt gegeben hat. Dies jedoch nur, wenn nicht dem Täter
die volle Verantwortung zugerechnet werden kann (BGE 98 IV 67 E. 1b).
Wann handelt der Täter auf Veranlassung einer Person, der er Gehorsam schuldet oder von der
er abhängig ist Art. 48 lit. a Ziff. 4 StGB)?
Dieser Umstand liegt vor, wenn der Täter aufgrund eines psychischen oder finanziellen Abhän-
gigkeitsverhältnisses eine bestimmte Tat begeht. Die Abhängigkeit muss dazu eine gewisse In-
tensität aufweisen, die über das gewöhnliche Mass hinausgeht.
Wann kommt es zu einer Strafschärfung?
Hat der Täter durch eine oder mehrere Handlungen die Voraussetzungen für mehrere gleichar-
tige Strafen erfüllt, so kommt es zu einer Strafschärfung, d.h. einer Erweiterung des Strafrah-
mens nach oben (Art. 49 Abs. 1 StGB).
Erklären Sie das Kumulationsprinzip.
Wenn das Gericht nicht gleichartige Strafarten aussprechen will, kommt das Kumulationsprinzip
zur Anwendung.
Dies bedeutet, dass keine Gesamtstrafe gebildet wird. Wenn also bspw. eine Freiheitsstrafe und
eine Geldstrafe ausgesprochen wird, dann kann daraus keine Gesamtstrafe gebildet werden. Es
werden sowohl die Freiheitsstrafe als auch die Geldstrafe verhängt («kumuliert»).
Erklären Sie das Asperationsprinzip. Welche Rolle spielt die Sperrwirkung des milderen Tatbe-
stands?
Wenn das Gericht zwei gleichartige Strafen ausspricht, kommt das Asperationsprinzip zur An-
wendung. Dies bedeutet, dass eine Gesamtstrafe gebildet wird.
Es wird von der abstrakten Strafandrohung des schwersten Deliktes ausgegangen und es findet
sodann eine Erhöhung statt. Das Gericht darf das Höchstmass der angedrohten Strafe aber nicht
mehr als um die Hälfte erhöhen. Dabei ist das Gericht in jedem Fall an das gesetzliche Höchst-
mass der Strafart gebunden (vgl. Art. 49 Abs. 1 StGB).
Zudem darf die Gesamtstrafe nicht höher sein, als die Kumulation der einzelnen Höchststrafen
(Sperrwirkung des milderen Tatbestands).
Anlässlich eines Raubes nach Art. 140 Ziff. 1 StGB wird zudem eine Sachbeschädigung began-
gen (Art. 144 Abs. 1 StGB). Bestimmen Sie den erweiterten Strafrahmen.
Erweiterter Strafrahmen
Ausgegangen wird von der abstrakten Strafandrohung des schwersten Delikts, d.h. in casu des
Raubes nach Art. 140 Ziff. 1 StGB, welcher ein Strafmaximum von 10 Jahre Freiheitsstrafe
vorsieht.
Die Sachbeschädigung nach Art. 144 Abs. 1 StGB hat ein Strafmaximum von 3 Jahren Frei-
heitsstrafe.
Die mögliche Höchststrafe beträgt in casu nun nicht 15 Jahre Freiheitsstrafe, da die Anwen-
dung des Asperationsprinzips im Vergleich zum Kumulationsprinzip eine gewisse Privilegierung
gewähren soll. Diesem Gedanken würde es zuwiderlaufen, wenn der Strafrahmen stur nach dem
Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 um den Faktor 1.5 nach oben erweitert würde.
Zur Anwendung gelangt hier also die Sperrwirkung des milderen Tatbestands. Bei Raub ge-
mäss Art. 140 Ziff. 1 StGB und Sachbeschädigung gemäss Art. 144 Abs. 1 StGB beträgt die
Höchststrafe entsprechend 13 Jahre Freiheitsstrafe (10 Jahre plus 3 Jahre) (vgl. JO-
SITSCH/EGE/SCHWARZENEGGER, S. 96).
Die Mindeststrafe ergibt sich in casu aus dem Raub gemäss Art. 140 Ziff. 1 StGB, welcher
eine Mindeststrafe von 6 Monaten Freiheitsstrafe vorsieht.
Da in casu die Strafe geschärft werden muss, muss die Mindeststrafe um die kleinste mögliche
Einheit erhöht werden, d.h. die Mindeststrafe beträgt in casu 6 Monate und 1 Tag.
Fazit erweiterter Strafrahmen:
Minimum: 6 Monate und 1 Tag
Maximum: 13 Jahre
Was geschieht, wenn mehrere Delikte begangen werden (Strafschärfung) und gleichzeitig bei
allen Delikten ein Strafmilderungsgrund gegeben ist?
Das Gesetz sieht für Fälle, bei welchen Strafmilderungs- und –schärfungsgründe zusammentref-
fen, keine Bestimmung vor. Es besteht aber weitgehend Einigkeit darüber, dass der ordentliche
Strafrahmen sowohl gegen oben als auch gegen unten zu erweitern ist.
Die Strafschärfung führt dazu, dass sich der Strafrahmen gegen oben erweitert und dass die
Mindeststrafe um eine Einheit erhöht werden muss.
Die Strafmilderung führt dazu, dass sich der Strafrahmen gegen unten erweitert, eine andere
Strafart verhängt werden kann und dass die Höchststrafe um eine Einheit reduziert werden muss.
Beispiel: Mehrfache schwere Körperverletzung jeweils begangen in verminderter
Schuldfähigkeit (Art. 122 StGB i.V.m. Art. 19 Abs. 2 StGB):
Strafschärfung wegen Deliktsmehrheit: Höchststrafe 10 Jahre x 1.5 = 15 Jahre Freiheitsstrafe;
zudem muss Mindeststrafe um eine Einheit erhöht werden.
Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit: Wechsel der Strafart möglich, Höchststrafe
muss um eine Einheit gesenkt werden.
Fazit erweiterter Strafrahmen
Wenn eine Busse ausgesprochen wird: CHF 2 – CHF 10’000 minus 1 CHF
(Erhöhung Minimum um eine Einheit und Senkung Maxi-
mum um eine Einheit, d.h. je CHF 1)
Wenn eine Geldstrafe ausgesprochen wird: 4 TS GS – 180 TS GS minus 1 TS GS
(Erhöhung Minimum und Senkung Maximum um je 1 TS)
Wenn eine Freiheitsstrafe ausgesprochen wird: 4 Tage FS – 15 Jahre FS minus 1 Tag FS
(Erhöhung Minimum und Senkung Maximum um je 1 Tag
FS)