Block 4 Flashcards
Strafantrag und Verjährung
Was zeichnet Offizialdelikte aus?
Offizialdelikte werden von Amtes wegen, d.h. automatisch verfolgt, sobald eine Strafverfolgungs-
behörde davon Kenntnis erhält.
Offizialdelikte zeichnen sich durch eine gewisse Schwere aus und werden daher grds. sogar dann
verfolgt, wenn das Opfer keine Verfolgung wünscht.
Was zeichnet Antragsdelikte aus?
Antragsdelikte werden nur dann verfolgt, wenn die geschädigte Person ausdrücklich eine Straf-
verfolgung wünscht.
Der Gesetzgeber entschied aus drei unterschiedlichen Gründen, gewisse Straftatbestände als
Antragsdelikte auszugestalten:
(1) Der Unrechtsgehalt der Straftat ist gering.
(2) Die Strafuntersuchung tangiert die Persönlichkeitssphäre des Verletzten regelmässig
stark.
(3) Die Strafverfolgung könnte schützenswerte persönliche Beziehungen zwischen Opfer und
Täter beeinträchtigen.» (vgl. Tafeln).
Worin liegt der Unterschied zwischen Strafantrag und Strafanzeige?
Antragsdelikte werden nur dann verfolgt, wenn die geschädigte Person einen Strafantrag stellt.
Der Strafantrag ist eine Willenserklärung.
Häufig erfahren Strafverfolgungsbehörden dank Strafanzeigen von Offizialdelikten. Nicht nur der
Geschädigte, sondern jede Person ist berechtigt, Straftaten bei einer Strafverfolgungsbehörde
schriftlich oder mündlich anzuzeigen (Art. 301 Abs. 1 StPO).
Die Strafanzeige ist eine Wissenserklärung.
Wo liegt die Grenze für einen geringfügigen Diebstahl? Wieso ist das relevant?
Der Diebstahl nach Art. 139 Ziff. 1 StGB ist als Offizialdelikt ausgestaltet.
Art. 172ter Abs. 1 StGB sieht aber vor, dass geringfügige Vermögensdelikte nur auf Antrag und
nur mit Busse bestraft werden. Gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts liegt die
Grenze bei CHF 300.
In welche zwei Untergruppen werden Antragsdelikte unterteilt?
Die Antragsdelikte werden in absolute und relative Antragsdelikte unterteilt. Diese Unterschei-
dung ist systematischer Natur und hilft, die Ausgestaltung der verschiedenen Delikte besser zu
verstehen.
Absolute Antragsdelikte erfordern stets einen Strafantrag.
Bei den relativen Antragsdelikten handelt es sich um ursprüngliche Offizialdelikte, die aber auf-
grund der besonderen Täter-Opfer-Beziehung zu Antragsdelikten werden (z.B. Art. 139 Ziff. 4
StGB: Der Diebstahl zum Nachteil eines Angehörigen oder Familiengenossen wird nur auf Antrag
verfolgt).
Ein Minderjähriger wird verletzt. Wer darf Strafantrag stellen?
Minderjährige gelten nach Art. 17 ZGB als handlungsunfähig, daher ist der gesetzliche Vertreter
in jedem Fall zum Antrag berechtigt (Art. 30 Abs. 2 StGB).
Sofern der Minderjährige aber urteilsfähig ist (Art. 16 ZGB), ist auch er nach Art. 30 Abs. 3 StGB
antragsberechtigt.
Wenn das Kind nicht unter elterlicher Sorge steht und ihm ein Vormund gemäss Art. 327a ZGB
ernannt wurde, steht das Antragsrecht zusätzlich auch der KESB zu (Art. 30 Abs. 2 StGB).
Wie wird ein Strafantrag gestellt?
Der Strafantrag kann schriftlich eingereicht oder mündlich zu Protokoll gegeben werden.
Der Strafantrag ist bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder der Übertretungsstrafbehörde (Art.
304 Abs. 1 StPO) einzureichen.
Wichtig ist, dass der Wille zum Ausdruck kommt, dass die Strafverfolgung stattfinden soll, Bedin-
gungen dürfen keine gestellt werden. Der entsprechende Sachverhalt muss umschrieben wer-
den. Eine rechtliche Würdigung ist hingegen nicht erforderlich – dies ist die Aufgabe der Strafver-
folgungsbehörden.
Was versteht man unter der Unteilbarkeit des Strafantrags?
Gibt es mehrere Täter, so werden entweder alle oder keiner verfolgt.
Die verletze Person kann also nicht selektiv entscheiden, nur einzelne Täter zu verfolgen. Stellt
sie gegen einen an der Tat Beteiligten einen Strafantrag, so sind alle zu verfolgen (Art. 32 StGB).
Wie wird die Antragsfrist berechnet?
Art. 31 StGB: Das Antragsrecht erlischt nach Ablauf von drei Monaten. Das fristauslösende
Ereignis ist die Kenntnis von Tat und Täter.
Das Bundesgericht schuf mit BGE 144 IV 161 Klarheit über die konkrete Methode: Als erster
Tag des Fristenlaufs zählt der Folgetag nach dem fristauslösenden Ereignis (vgl. hierzu Art. 90
Abs. 1 StPO). Damit daraus aber eine effektive Frist von drei Monaten (und nicht von drei Mo-
naten und einem Tag resultiert), werden die Monate trotzdem ab dem fristauslösenden Ereignis
hinzugerechnet (vgl. BSK StGB-RIEDO, Art. 31, N 35a).
Oder anders ausgedrückt: «Die dreimonatige Strafantragsfrist gemäss Art. 31 StGB wird mit
Kenntnis der Person des Täters ausgelöst. Sie beginnt am darauf folgenden Tag um 00.00 Uhr
und endet um 24.00 Uhr an jenem Tag des dritten Monats, der durch seine Zahl dem Tag
entspricht, an dem die Frist ausgelöst wurde (E. 2).» (Regeste).
Fällt der letzte Tag auf einen Samstag, Sonntag oder einen staatlich anerkannten Feiertag, so
endet die Frist am drauffolgenden Werktag. Massgebend ist das Recht des Kantons, in dem die
Partei oder ihr Rechtsbeistand den Wohnsitz oder den Sitz hat (vgl. Art. 90 Abs. 2 StPO).
Die Frist ist auch gewahrt, wenn der Antrag am letzten Tag der Frist der schweizerischen Post
übergeben wird.
Rechenbeispiel 1 (vgl. BGE 144 IV 161)
Am 16. Mai 2017 wird ein Antragsdelikt verübt. Dem Geschädigten sind Tat und Täter bekannt.
Fristauslösendes Ereignis: 16. Mai 2017
Erster Tag der Frist: 17. Mai 2017
Ende dreimonatige Frist: 16. August 2017
Der 16. August 2017 war ein Mittwoch (Werktag), daher ist keine Verlängerung nötig. Der Straf-
antrag muss also spätestens am 16. August 2017 gestellt worden sein.
Rechenbeispiel 2 (vgl. DONATSCH/GODENZI/TAG, S. 448)
A erfährt am 16. Januar 2023, dass er von seinem Sohn bestohlen worden ist. Tat und Täter
sind daher seit jenem Tag bekannt.
Fristauslösendes Ereignis: 16. Januar 2023
Erster Tag der Frist: 17. Januar 2023
Ende dreimonatige Frist: 16. April 2023
Grundsätzlich würde die Frist am 16. April 2023 enden. Da es sich dabei jedoch um einen Sonn-
tag handelt, erfolgt die Verlängerung auf den nächsten Werktag.
Der Strafantrag muss also spätestens bis Montag, 17. April 2023 gestellt werden
Wie lange ist ein Rückzug möglich? Mit welchen Folgen?
Die antragsberechtigte Person kann den Strafantrag zurückziehen, solange das Urteil der zwei-
ten kantonalen Instanz noch nicht eröffnet ist (vgl. Art. 33 Abs. 1 StGB).
Ein Rückzug gilt als endgültig und bedingungslos, der Strafantrag kann nachher also nicht noch-
mals gestellt werden (vgl. Art. 33 Abs. 2 StGB).
Da der Strafantrag eine Prozessvoraussetzung ist, erfolgt nach einem Rückzug die Einstellung
des Verfahrens. Der Täter kommt somit straffrei davon.
Auch hier gilt wiederum das Prinzip der Unteilbarkeit von Art. 32 StGB: Ein Rückzug gegenüber
einem Beschuldigten gilt für alle Beschuldigten (vgl. Art. 33 Abs. 3 StGB).
Ein Beschuldigter kann jedoch gegen den Rückzug Einspruch erheben. Dies führt dazu, dass
der Rückzug für alle Beschuldigten gilt, ausser für denjenigen, der Einspruch erhob (vgl. Art. 33
Abs. 4 StGB). Dieses Recht hat auch, entgegen dem missverständlichen Gesetzeswortlaut,
der allein Beschuldigte (vgl. hierzu HK-Wohlers, Art. .33 N 4).
Lesen Sie Art. 33 Abs. 4 StGB. Wieso sollte ein Beschuldigter Einspruch gegen den Rückzug
eines Strafantrags stellen? Ein Rückzug sollte doch in seinem Interesse liegen.
Wenn der Beschuldigte siegessicher ist und / oder durch den Ausgang des Prozesses seinen
guten Ruf wiederherstellen möchte, hat er ein konkretes Interesse, sich gegen den Rückzug zu
wehren und den Prozess weiterzuführen.
Bei einem Rückzug wird zwar das Strafverfahren eingestellt, da es aber so nicht zu einem Frei-
spruch kommen kann, bleiben auch potenzielle Zweifel am Beschuldigten haften.
Erklären Sie den Unterschied zwischen der Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung.
Mit der Verfolgungsverjährung wird verhindert, dass eine oder mehrere strafbare Handlungen
nach einer gewissen Zeit strafrechtlich verfolgt werden können.
Mit der Vollstreckungsverjährung wird verhindert, dass eine rechtskräftig ausgesprochene
Strafe vollzogen werden kann.
Welche Fristen sind bei der Verfolgungsverjährung massgeblich und woran knüpfen diese an?
Rechtsgrundlage ist Art. 97 StGB:
* Lebenslängliche Freiheitsstrafe: 30 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. a StGB)
* Freiheitsstrafe von mehr als 3 Jahren: 15 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. b StGB)
* Freiheitsstrafe von 3 Jahren: 10 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. c StGB)
* Andere Strafe: 7 Jahre (Art. 97 Abs. 1 lit. d StGB)
Anknüpfungspunkt ist jeweils die angedrohte Höchststrafe eines Delikts (vgl. Art. 97 Abs. 1
Satz 1 StGB.
Rechtsgrundlage bei Übertretungen ist 109 StGB.
* Verurteilung zu einer Übertretung: 3 Jahre
Beispiel aus dem BSK, Art. 110 Abs. 6 StGB N 14:
„Wurde eine Übertretung am 15.1.2018 begangen, so läuft die dreijährige Verjährungsfrist
(Art. 109) am 15.1.2021 ab, weil der erste Tag, der die Frist auslöst, bei deren Berechnung nicht
mitgezählt wird.
“
Folglich ist die Tat dann am 16.1.2021 verjährt.
Zu beachten ist zudem, dass bei den Verjährungsfristen Art. 90 Abs. 2 StPO (Verlängerung
der Frist, wenn letzter Tat auf Samstag, Sonntag oder Feiertag fällt) nicht zur Anwendung
kommt und zwar deshalb weil, Verjährungsfristen materiell-rechtliche Fristen und nicht pro-
zessuale Fristen sind
Gibt es Konsequenzen, wenn ein Verteidiger vor Gericht nicht vorbringt, dass die Taten gegen
seinen Klienten verjährt sind?
Nein, die Verjährungsfristen sind von Amtes wegen zu beachten.
Welchen Einfluss hat ein nicht rechtskräftiges erstinstanzliches Urteil auf den Lauf der Verjäh-
rungsfrist?
Rechtsgrundlage ist Art. 97 Abs. 3 StGB.
Die Fällung eines erstinstanzlichen Urteils hindert den Verjährungseintritt.
Keine Rolle spielt es, ob der Täter dabei freigesprochen oder verurteilt wird. Irrelevant ist aus-
serdem, ob gegen das Urteil ein Rechtsmittel ergriffen wird oder es rechtskräftig wird.