Teil II Deskriptive Entscheidungstheorie 3 Narrow Thinking und Heuristiken Flashcards
Narrow Thinking
Menschen bewegen sich in ihren
Gedanken und Überlegungen nur in einem engen Umfeld um das, was ihnen mit wenig
Ressourceneinsatz zur Verfügung steht. Wir verstehen Narrow Thinking als einen Sammelbegriff für viele einzelne Phänomene, von denen wir die wichtigsten in diesem Kapitel vorstellen werden. Alle in diesem Kapitel vorgestellten Verhaltensschwächen sind also
typische Muster eines eng eingeschränkten Denkens, in dem die Entscheidungsqualität
durch kognitive Beschränkungen häufg beeinträchtigt wird oder zumindest eine hohe Gefahr besteht, dass es zu einer Beeinträchtigung kommt.
Heuristiken
praktisch-analytische Methoden verstanden, durch welche mit geringem Aufwand schnell eine gute Lösung gefunden werden kann. Diese Lösung
muss aber nicht die bestmögliche sein. Zur Anwendung kommen Heuristiken immer dann, wenn das Finden der optimalen Lösung entweder unmöglich ist oder nicht praktikabel erscheint.
Traveling-Salesman-Problem
Ein Beispiel ist das Traveling-Salesman-Problem, bei dem eine optimale
Reihenfolge aller Orte zu fnden ist, die ein Handlungsreisender (oder auch z. B. ein Paketdienst) zu besuchen hat. Die optimale Lösung ist die insgesamt kürzeste bzw. schnellste Rundreise. Bei einer großen Anzahl von Orten bzw. Lieferadressen wird das Auffnden der optimalen Lösung dieses Problems durch die vielen kombinatorischen Möglichkeiten so
rechenaufwändig, dass hier in der Praxis häufg eben nur heuristische Algorithmen angewendet werden. Der Handlungsreisende ist dann vielleicht ein paar Minuten länger unterwegs, dafür müssen aber nicht Milliarden von Rechenoperationen auf Hochleistungsrechnern durchgeführt werden.
In diesem Beispiel handelt es sich um eine bewusste Entscheidung für eine Anwendung
einer Heuristik, von der bekannt ist, dass die gefundene Lösung der Optimallösung zumindest nahekommt.
Heuristik in der deskriptiven Entscheidungstheorie
In der deskriptiven Entscheidungstheorie verbindet man mit dem Begriff der Heuristik etwas anderes, und zwar die typischen Informationsverarbeitungsabläufe, die ein Mensch unbewusst (!) anwendet, weil er aufgrund seiner kognitiven Limitationen mehr oder weniger automatisch zu einer ressourcensparenden „Methodik“ gelenkt wird. Es gibt dann keine in System 2 bewusst überlegte Entscheidung für die angewendete Heuristik, vielmehr greift das System 1 auf die Heuristik zurück, und zwar ohne Kontrolle des Entscheiders. Bei solchen Heuristiken spricht man in der Forschung von sogenannten Urteilsheuristiken. Schon sehr früh haben die Forscher Tversky und Kahneman (1974) mit der Verfügbarkeits-, Verankerungs- und Repräsentativitätsheuristik drei grundlegende Beschreibungsversuche unternommen, um solche Urteilsheuristiken konkreter zu fassen.
Bias,
eine systematische Verzerrung
Debiasing-Methoden
. Jede Urteilsheuristik
geht hierbei mit einer systematischen Verzerrung, d. h. einem Bias, einher. Kennt man
diesen Bias, so lässt sich mit geeigneten und bewusst eingesetzten Debiasing-Methoden
dieser Verzerrung entgegenwirken und eine hohe Qualität eines refektierten Entscheidungsprozesses herbeiführen
mentales Modell der Entscheidungssituation
Dieses Modell wird gespeist durch gesammelte Erfahrungen der Person, durch den Bildungsstand aber auch durch grundlegende Werte, Normen und Einstellungen, die aktuelle
Gefühlslage und die Persönlichkeit. Rein biologisch kann das Modell sogar von der Beschaffenheit der Sinnesorgane abhängen, ebenso haben die kognitiven Limitationen des
Gedächtnisses, die letztlich für das Narrow Thinking verantwortlich sind, und die neuronale Struktur einen wichtigen Einfuss auf die genaue Ausgestaltung des mentalen Modells.
zwei Arten von Narrow Thinking
Wie in Abb. 3.1 dargestellt, gibt es somit zwei Arten von Narrow Thinking. Die erste Art ist die aufgrund kognitiver Limitationen zu eng gedachte bzw. zu vereinfachende Modellierung von Informationen im mentalen Entscheidungsmodell und die zweite Art sind die beschriebenen Heuristiken, die auf diesem mentalen Modell aufbauen und zu einem Urteil bzw. zu einer Entscheidung führen.
m Abschn. 2.3 wurden mit den Ausführungen zur Funktionsweise des Gedächtnisses die
Grundlagen gelegt, um in diesem Abschnitt die daraus resultierenden Verhaltenseffekte
des Narrow Thinking erläutern zu können. Wichtig festzuhalten sind die beiden folgenden
abgeleiteten Erkenntnisse:
- Die Verfügbarkeit von Gedächtnisinhalten hängt von der Aktualität, Anschaulichkeit, Auffälligkeit, Aufmerksamkeit und Frequenz ab.
- Mit der Aktivierung eines Knotens im Gedächtnis werden tendenziell auch die Informationen aus den verbundenen Knoten indirekt mitaktiviert und sind somit leichter (assoziativ) verfügbar
Mit diesen beiden Punkten lassen sich einige, das menschliche Entscheidungsverhalten
verzerrende Effekte ableiten, die wir alle unter den Oberbegriff Verfügbarkeitseffekte fassen wollen.
Varianten von Verfügbarkeitseffekten
Direkter Einfluss:
Overreaction
Narrative Bias
Primacy Effekt
Indirekter Einfluss über andere Knoten:
Priming-Effekt
Overreaction
Overreaction beschreibt das Phänomen, dass der Mensch im Rahmen eines Narrow Thinking verstärkt nur auf die leicht verfügbaren Informationen zugreift und andere, nicht
notwendigerweise weniger wichtige unberücksichtigt lässt. Aus der Tatsache, dass somit
nicht alle Informationen bzw. Aspekte gleichmäßig beleuchtet werden, ergeben sich also
Verzerrungen in der Bewertung von Sachverhalten mit entsprechenden Konsequenzen für
das Verhalten. Oder etwas genauer und einfacher formuliert: Informationen, die aktuell,
anschaulich und lebendig präsentiert wurden sowie aufmerksam und häufg aufgenommen
wurden, werden vom Menschen überbewertet und führen zu einer Überreaktion.
Beispiel für eine Overreaction
Ein Beispiel hierfür sind die Börsen, wenn auf auffällige und sehr lebendig dargestellte
Informationen reagiert wird, beispielsweise auf unerwartete Neuigkeiten über Fusionen
oder große Versicherungsschäden. Die Abb. 3.3 zeigt den Verlauf der Aktie der Münchener
Rückversicherung im September 2001, als das World Trade Center von Terroristen attackiert wurde.
Man sieht den starken Kursverfall des Wertes um den Zeitpunkt des Attentats am 11.
September 2001. Durch die nachfolgende Erholung wird jedoch deutlich, dass hier offenbar eine Überreaktion des Marktes vorgelegen hat. Diese Überreaktion ist hierbei nicht
verwunderlich, da alle wesentlichen Determinanten der Verfügbarkeit erfüllt waren: Die
Schäden wurden sehr anschaulich und auffällig in den Medien präsentiert, permanent wiederholt, und Aktualität war natürlich auch gegeben.
Narrative Bias
Während beim Phänomen der Overreaction auf fast alle Determinanten der Verfügbarkeit Bezug genommen wurde, beschränkt sich der Narrative Bias nur auf eine Determinante, und zwar die Anschaulichkeit. Unter einem Narrative Bias versteht man die Neigung von Menschen, Sachverhalte überproportional stark zu gewichten, wenn diese nicht in abstrakter Form, sondern in Form von kleinen Geschichten oder Erzählungen vermittelt werden.
Die psychologische Begründung zu diesem Effekt fällt leicht. Geschichten sind nun
mal viel anschaulicher für den Menschen und führen zu einer deutlich höheren kognitiven Verfügbarkeit als nackte Zahlen. Die Anschaulichkeit und hohe Verfügbarkeit einer Geschichte folgt hierbei im besonderen Maße daraus, dass es sich eben nicht nur um einen einzelnen Sachverhalt handelt, den man sich merken muss. Vielmehr ist eine Geschichte deshalb so leicht aufzunehmen und zu behalten, weil sie ein in sich schlüssiges, konsistentes und vor allen Dingen zusammenhängendes Gebilde von Informationen darstellt, das ähnlich wie ein Netz nicht zusammenbricht, nur wenn ein Faden darin gerissen ist.
Narrative Bias Beispiel
Wenn Sie beispielsweise ein Kollege von einer Geschäftsidee überzeugen möchte, indem er anekdotisch von einer ähnlich
gelagerten Erfolgsstory berichtet, so setzt er den Narrative Bias für seine Überzeugungsarbeit – vielleicht sogar bewusst – ein. Möglicherweise ist er aber vorher auch selbst auf den
Narrative Bias hereingefallen, wenn ihm selbst entsprechende Geschichten zugetragen
wurden. Oder der wegen Mord Angeklagte vor Gericht versucht seine Haut zu retten, indem er nicht nur knapp aussagt, dass er nicht der vermeintliche Täter ist, sondern in einer umfänglichen, in sich konsistenten Geschichte eine andere Wahrheit erfndet. Entsprechendes gilt für einen Studierenden, der nach einer vergessenen Prüfungsanmeldung gegenüber dem Prüfungsausschuss ein sehr kreatives, umfängliches und in sich schlüssiges Argumentationsbeiwerk liefern muss, damit er doch noch die Klausur mitschreiben darf.
Primacy-Effekt
Aus einer Abfolge von vielen Silben wird die zuerst genannte Silbe am besten
behalten, weil diese aufgrund der zuerst noch sehr konzentrierten Merkarbeit schon in das
Langzeitgedächtnis gebracht wurde und dort noch gut verfügbar ist. Insofern ist auch der
Primacy-Effekt eine Variante eines Verfügbarkeitseffektes, weil die erste Silbe noch die
höchste Aufmerksamkeit genießt, die ja für die Verfügbarkeit mit verantwortlich ist. Bei
den späteren Silben lassen die Aufmerksamkeit und die Aufnahmebereitschaft langsam
nach, sodass diese Silben nicht mehr verfügbar sind.
Primacy Effekt Beispiel
In dieser Studie sollte eine hypothetische Person namens Steve durch zwei unterschiedliche Gruppen von Versuchspersonen bewertet werden. Der Gruppe A wurde Steve
vorgestellt als „intelligent, feißig, impulsiv, kritisch, eigensinnig und neidisch“, der Vergleichsgruppe B als „neidisch, eigensinnig, kritisch, impulsiv, feißig und intelligent“. Es
wurden also dieselben Eigenschaften genannt, jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Letztendlich bewertete Gruppe A Steve deutlich besser als Gruppe B. Dieses Ergebnis zeigt die
mit dem Primacy-Effekt verbundene Beobachtung, dass die zuerst genannten Eigenschaften verfügbarer sind und den Wahrnehmungs- und Bewertungsprozess stärker beeinfussen als die späteren.
Diesen Effekt können Unternehmen in der Formulierung von Ad-hoc-Meldungen ausnutzen, in denen ein positiver und ein negativer Aspekt zu übermitteln ist. Wer eine möglichst vorteilhafte Aufnahme der Nachricht wünscht, sollte immer mit dem positiven Aspekt anfangen. Zwar bleibt auch der zuletzt genannte Aspekt für eine kurze Zeit noch sehr
gut im Gedächtnis (Recency-Effekt), allerdings bezieht sich dies – wie schon in
Abschn. 2.3 erläutert – auf das Arbeitsgedächtnis. Nach wenigen Sekunden dominiert das
zuerst Genannte in der Verfügbarkeit wieder das Zweitgenannte.
Priming Effekte
Priming-Effekte sind ebenfalls Varianten eines Verfügbarkeitseffektes mit der Besonderheit, dass nicht die direkten Wirkungen von Determinanten der Verfügbarkeit betrachtet werden, sondern die indirekten, durch Assoziation hervorgerufenen Effekte. Man kann dies an dem sogenannten Donald-Experiment gut erläutern. (auch Smiley und Florida Experimenten aus Kapitel 1)
Donald-Experiment
In der Studie wurde eine Gruppe von Versuchspersonen durch entsprechende Vorexperimente dazu gebracht, sich mit verschiedenen positiven Eigenschaftswörtern (unternehmungslustig, selbstsicher, selbstständig und beharrlich) zu beschäftigen bzw. sich diese zu merken. Einer Vergleichsgruppe wurden in entsprechender Weise negative Eigenschaften (leichtsinnig, eingebildet, eigenbrötlerisch und stur) nahegebracht. Anschließend mussten beide Gruppen eine hypothetische Person Donald beurteilen, die sich durch einige besondere Verhaltensweisen auszeichnete. Hierbei zeigte sich, dass Donald als Fallschirmspringer von der ersten Gruppe als unternehmungslustig eingestuft wurde, während die zweite Gruppe im Fallschirmspringen
eher ein leichtsinniges Verhalten sah. Zugleich wurde beispielsweise die Tatsache, dass Donald an seine Fähigkeiten glaubt, von der ersten Gruppe als selbstsicher und von der zweiten als eingebildet eingestuft.