Robert Alexy Flashcards
a) Das Richtigkeitsargument
(1) Der Anspruch auf Richtigkeit: Sowohl einzelne Rechtsnormen und einzelne rechtliche Entscheidungen als auch Rechtssysteme im Ganzen erheben nach Alexy notwendig einen Anspruch auf
Richtigkeit. Dies zeigt sich anhand eines performativen Widerspruchs, welchen beispielsweise
die folgenden Sätze enthalten:
(i) Art. 1 der Verfassung des Staates X: „X ist eine souveräne, föderale und ungerechte Republik“.
(ii) Tenor eines richterlichen Urteils: „Der Angeklagte wird, was eine falsche Interpretation des geltenden Rechts ist, zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt“.
(2) Im Begriff des Rechts sind die Begriffe des Zwangs und der Richtigkeit enthalten.
b) Das Unrechtsargument
(1) Einzelne Normen
Einzelne Normen verlieren den Rechtscharakter, wenn sie extrem ungerecht sind (man kann die
Frage stellen, ob sich dies nur auf die Unerträglichkeitsformel bezieht oder auch die Verleugnungsformel mit erfasst).
b) Das Unrechtsargument
i) Das Sprachargument
Der Positivist: Der Nichtpositivist verliert die Möglichkeit, gesetzliches Unrecht auf allgemein verständliche Weise zu kennzeichnen
Der Nichtpositivist: Dem Teilnehmer an einem Rechtssystem darf nicht allein aufgrund einer sprachlichen Festsetzung die Möglichkeit genommen werden zu sagen: „Diese Norm ist kein
Recht. Ich wende sie deshalb nicht an. Recht ist mein Urteil, das ihr widerspricht“. Darüber, ob diese Möglichkeit besteht, kann nur aufgrund inhaltlicher (normativer) Überlegungen entschieden werden.
Hintergrund des Spracharguments: Die Bedeutung des Ausdrucks „Recht“ ist mehrdeutig und vage. Im Streit um den Positivismus geht es deshalb nicht um eine Feststellung über einen existierenden Sprachgebrauch, sondern um eine sprachliche Festsetzung.
b) Das Unrechtsargument
ii) Das Klarheitsargument
Der Positivist: Der nichtpositivistische Rechtsbegriff führt zu Unklarheit und Verwirrung. Beides kann vermieden werden, wenn man sagt: „Die Norm N ist trotz ihrer extremen Ungerechtigkeit
Recht, aber sie sollte aus moralischen Gründen nicht befolgt werden“
Der Nichtpositivist: Ein komplexer Begriff muss nicht unklar sein. Im Übrigen geht es wieder um eine inhaltliche Frage, nämlich darum, ob extreme Ungerechtigkeit nur Konsequenzen im Bereich der Moral (keine moralische Pflicht zur Normbefolgung) oder auch Konsequenzen im Bereich des Rechts (keine rechtliche Pflicht zur Normbefolgung) hat.
b) Das Unrechtsargument
(iii) Das Effektivitätsargument
Der Positivist: Ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff kann nichts gegen gesetzliches Unrecht bewirken, vielmehr erschwert er sogar wegen der Gefahr einer unkritischen Legitimation die Bekämpfung von gesetzlichem Unrecht
Der Nichtpositivist: Eine Begriffsbildung kann in der Tat die Wirklichkeit nicht ändern. Immerhin aber hat ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff zwei positive Effekte: den Praxiseffekt und den Risikoeffekt. Da das Unrechtsargument nicht das gesamte Recht mit der Moral identifiziert, sondern lediglich eine äußerste Grenze zieht, besteht die Gefahr einer unkritischen Legitimation nicht.
b) Das Unrechtsargument
(iv) Das Rechtssicherheitsargument
Der Positivist: Der nichtpositivistische Rechtsbegriff führt zu Rechtsunsicherheit, im schlimmsten Fall zur Anarchie.
Der Nichtpositivist: Extremes Unrecht ist erkennbar. Die Rechtsunsicherheit hält sich daher in Grenzen. Zudem sind gewisse Einbußen an Rechtssicherheit zugunsten der materiellen Gerechtigkeit hinnehmbar. Problem: Ist extremes Unrecht hinreichend leicht als Unrecht erkennbar oder als extremes Unrecht?
b) Das Unrechtsargument
(v) Das Relativismusargument
Der Positivist: Auch extremes Unrecht ist nicht objektiv erkennbar (radikaler Relativismus): „Es gibt keine solchen (Menschen)rechte, und der Glaube daran entspricht dem Glauben an Hexen
und Einhörner“
Der Nichtpositivist: Extremes Unrecht ist objektiv erkennbar, weil ein Satz wie: „Die materielle und physische Vernichtung einer Minderheit der Bevölkerung aus rassischen Gründen ist extremes Unrecht“ einer rationalen Begründung fähig ist. Für die Rechtspraxis kommt der Hinweis auf die Tradition der Menschenrechte und auf einen weitgehenden weltweiten Konsens einer Widerlegung des Relativismusarguments nahe (so auch Gustav Radbruch ab 1945).
b) Das Unrechtsargument
(vi) Das Demokratieargument
Der Positivist: Der nichtpositivistische Rechtsbegriff eröffnet die Möglichkeit, dass sich Richter unter Berufung auf die Gerechtigkeit gegen Entscheidungen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers stellen.
Der Nichtpositivist: Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Bindung des Gesetzgebers an die
Verfassung und insbesondere an die Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland geht inhaltlich weit über das hinaus, was der nichtpositivistische Rechtsbegriff verlangt.
b) Das Unrechtsargument
(vii) Das Unnötigkeitsargument
Der Positivist: Nach dem Zusammenbruch eines Unrechtsregimes kann gesetzlichem Unrecht auf andere Weise als durch Aberkennung der Rechtsqualität Rechnung getragen werden, z.B. durch rückwirkende Gesetze oder sonst die Aufhebung von Unrechtsgesetzen – vgl. das Gesetz des Alliierten Kontrollrates Nr. 1.
Der Nichtpositivist: Und wenn der Gesetzgeber untätig bleibt oder die gewählte Lösung letztlich
Unrechtsakte bestehen lässt? Der Respekt vor den Rechten der Bürger und der Anspruch auf Richtigkeit fordern notfalls die Verwendung eines nichtpositivistischen Rechtsbegriffs.
b) Das Unrechtsargument
(viii) Das Redlichkeitsargument
Der Positivist: Der nichtpositivistische Rechtsbegriff führt in strafrechtlichen Fällen zu einer Umgehung des Grundsatzes „nullum crimen sine lege“ (Art. 103 Abs. 2 GG), was unredlich ist.
Der Nichtpositivist: Das Unrechtsargument kann nur Normen zu Fall bringen, aber keine Normen begründen. Im Bereich des Strafrechts kann es nicht zuletzt Normen zu Fall bringen, die in einem Unrechtsstaat eine ansonsten bestehende Strafbarkeit ausschließen. Wenn das extreme
Unrecht derartiger Normen objektiv erkennbar war, waren diese Normen bereits zur Zeit der Tat
kein Recht, das die Strafbarkeit ausschließen konnte. Es wird deshalb nicht rückwirkend die
Rechtslage geändert, sondern nur festgestellt, was im Zeitpunkt der Tat die Rechtslage war (R. Alexy, Mauerschützen, S. 30 ff.).
Abwägung oder strikte, absolute Geltung?
Auch wenn extremes Unrecht zwar objektiv als solches erkannt werden kann, mag die Vorwerfbarkeit eines
Normverstoßes für Personen, die ideologischer Indoktrination aufgewachsen sind, gemindert sein
– dies ist dann aber eine Frage der strafrechtlichen Schuld, nicht der Tatbestandsmäßigkeit oder
Rechtswidrigkeit.
b) Das Unrechtsargument
(2) Rechtssysteme
Führt die Anwendung des Unrechtsarguments auf ein Rechtssystem als Ganzes zu Konsequenzen, die über seine Anwendung auf Einzelnormen hinausgehen? Zwei Interpretationen des auf ganze Rechtssysteme bezogenen Unrechtsarguments:
(i) Ausstrahlungsthese: Alle „systemtypischen“ Normen eines Unrechtsstaates sind nichtig (ohne
dass alle systemtypischen Normen die Schwelle extremer Ungerechtigkeit überschreiten müssten).
(ii) Zusammenbruchsthese: Nur extrem ungerechte Normen eines Unrechtsstaates sind nichtig. Das System bricht als Rechtssystem zusammen, wenn sehr vielen Normen, vor allem sehr vielen für das System wichtigen Normen, der Rechtscharakter abzusprechen ist.