Hans Kelsen Flashcards
Rechtsnorm und Rechtssystem in der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens – „Normativer Positivismus“:
1. Rechtsnorm und Rechtssystem
• Rechtsnorm:
Nach Kelsen ist das Recht ein System von Normen, das auf einer Grundnorm („Grundnorm“) basiert. Diese Grundnorm ist eine gedachte Voraussetzung, die alle anderen Normen im System legitimiert. Normen sind Anweisungen darüber, wie sich Menschen verhalten sollen, nicht Beschreibungen der Realität.
• Rechtssystem:
Kelsens Rechtssystem ist strikt hierarchisch aufgebaut: Normen werden auf unterschiedlichen Ebenen erzeugt, von der Verfassung als höchster Norm bis hin zu Einzelentscheidungen. Jede Norm leitet ihre Geltung von einer höheren Norm ab. Das System ist in sich geschlossen und unabhängig von äußeren Faktoren wie Moral oder Politik.
- Die „Reinheit“ der Rechtslehre
• Abgrenzung von Naturrecht und Soziologie: „Dritter Weg“
Kelsen versteht seine „Reine Rechtslehre“ als dritten Weg:
o Gegen das Naturrecht, das er als metaphysisch und ethisch geprägt ablehnt.
o Gegen einen faktenorientierten Positivismus, der das Recht als bloßes gesellschaftliches Phänomen betrachtet.
• Die Rechtswissenschaft soll sich ausschließlich mit den Normen des positiven Rechts befassen und nicht durch politische, moralische oder soziale Betrachtungen „verunreinigt“ werden.
• Es handelt sich um ein normatives System, das unabhängig von der Moral ist und allein auf der Geltung seiner Normen basiert.
• Reine Rechtslehre fokussiert auf die Analyse der Rechtsnormen als spezifische Sinngehalte, nicht auf deren soziale oder psychologische Bedingungen
- Recht und Natur:
a) Natürlicher Akt und Bedeutung:
Unterscheidung zwischen natürlichem Akt und dessen juristischer Bedeutung:
Natürlicher Akt = in Zeit und Raum vor sich gehender, sinnlich wahrnehmbarer Akt/äußerer Vorgang menschlichen Verhaltens à Vorgang in der Welt, den wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können (z.B: Unterschreiben eines Vertrages)
Bedeutung = dem Akt/Vorgang gleichsam innewohnender oder anhaftender Sinn, spezifische Bedeutung
„äußere Vorgänge“, wie menschliches Verhalten, sind an sich ein natürlicher Sachverhalt, erhalten jedoch durch eine rechtliche Norm ihre Bedeutung
Recht als eine spezifisch eigene Normativität
- Recht und Natur: Norm als Deutungsschema
Sachverhalte (natürliche Akte) werden erst durch die Zuordnung einer Norm zum Rechts- oder Unrechtsakt, die Norm dient hierbei als Deutungsschema, das dem natürlichen Geschehen eine rechtliche Bedeutung verleiht
Nicht der Vorgang selbst (z. B. die Unterschrift) macht ihn rechtlich wichtig, sondern die Bedeutung, die das Rechtssystem diesem Vorgang gibt.
Beispiel:
• Wenn ich auf ein Stück Papier schreibe, ist das nur ein natürlicher Akt.
• Wenn das Recht sagt, dass diese Unterschrift einen gültigen Vertrag darstellt, wird es ein Rechtsakt.
Diese rechtliche Bedeutung kommt von einer Norm (also einer Regel), die sagt: “Eine Unterschrift auf einem Vertrag ist bindend.”
- Recht und Natur: Die Erzeugung von Normen durch Normen:
Die Norm „wird selbst durch einen Rechtsakt erzeugt, der seinerseits wieder von einer anderen Norm her seine Bedeutung erhält.“
Normen entstehen durch andere Normen
• Beispiel:
o Eine Stadt macht ein neues Gesetz. Warum ist dieses Gesetz gültig? Weil die Verfassung der Stadt erlaubt, Gesetze zu erlassen.
o Warum ist die Verfassung gültig? Weil sie von einer höheren Norm (z. B. der nationalen Verfassung) abgeleitet ist.
Am Ende dieser „Kette“ steht eine Grundnorm, die einfach akzeptiert wird = Kelsens „Grundprinzip des Rechtssystems“
- Recht und Natur: Normen und psychische Akte:
Es „ist zu beachten, daß die Norm als spezifischer Sinngehalt (Gedanke nach Frege) etwas anderes ist als der psychische Akt (Vorstellung nach Frege), in dem sie gewollt oder vorgestellt wird.
Man muß das Wollen oder Vorstellen der Norm von der irgendwie gewollten oder vorgestellten Norm selbst deutlich auseinanderhalten. Wenn von ‚Erzeugung’ einer Norm gesprochen wird, so sind damit immer Seinsvorgänge gemeint, die die Norm als Sinngehalt tragen.“
Rechtspositivsten versuchen irgendwie, abstrakte Gegenstände auf Dinge und Vorstellungen zu münzen: 1. Fehler für Kelsen: sie verkennen damit die normative Dimension des Rechts
Normen sind etwas anderes als psychische Akte
• Eine Norm ist für Kelsen ein „Sinngehalt“ – also eine Bedeutung, die sich aus einer Regel ergibt, z. B. „Man darf nicht stehlen.“
• Ein psychischer Akt ist ein innerer Prozess, wie das Denken, Wollen oder Vorstellen dieser Regel.
Beispiel:
Wenn jemand sagt: „Stehlen ist verboten“, dann ist das Aussprechen oder Vorstellen dieses Satzes ein psychischer oder physischer Akt. Die Norm selbst (das Verbot des Stehlens) ist aber davon unabhängig – sie existiert als Bedeutung und bleibt bestehen, auch wenn niemand konkret darüber nachdenkt.
Warum ist das wichtig?
- Recht ist nur Norm
Kelsen betont, dass das Recht nur aus Normen besteht. Es geht nicht um die psychischen Prozesse, die hinter der Entstehung einer Norm stehen, sondern nur um die rechtliche Bedeutung.
Normen sind eine eigene Kategorie, die man nicht mit natürlichen Vorgängen vergleichen kann. - Die Erzeugung von Normen
• Wenn Kelsen von der „Erzeugung“ einer Norm spricht, meint er damit die tatsächlichen Vorgänge, durch die eine Norm entsteht (z. B. das Abstimmen eines Parlaments über ein Gesetz).
• Diese Vorgänge sind „Seinsvorgänge“ – also reale Handlungen in der Welt. Sie sind jedoch nicht selbst Teil des Rechts, sondern nur der Träger der Norm.
Beispiel:
Ein Gesetz wird durch eine Abstimmung im Parlament verabschiedet:
• Die Abstimmung ist ein realer Vorgang in der Welt (psychisch und physisch).
• Das daraus entstehende Gesetz (die Norm) ist eine rechtliche Bedeutung, die durch diesen Vorgang erzeugt wird.
- Recht und Moral: Recht und Gerechtigkeit
- Recht und Moral:
a) Recht und Gerechtigkeit:
Ablehnung Verbindung von Recht und Moral;
Recht ist keine Unterkategorie der Moral und daher auch nicht notwendigerweise moralisch
- Fehler nach Kelsen: Idee, Recht wäre normativ, weil es mit Moral zusammenhängt
b) Die Gerechtigkeit:
Gerechtigkeit als eine moralische Kategorie, die außerhalb des Bereichs rationaler Erkenntnis liegt; sie bleibt ein unerreichbares Ideal
c) Gerechtigkeit als irrationales Ideal:
1. Gerechtigkeit und rationale Erkenntnis
• Kelsen sagt: Rational betrachtet gibt es nur Interessen und Interessenkonflikte.
Beispiel: Manche Menschen wollen niedrige Steuern (Interesse A), andere wollen mehr Sozialleistungen (Interesse B). Das Recht versucht, solche Konflikte zu lösen, indem es entweder:
o eine Seite bevorzugt (z. B. die Steuern senkt), oder
o einen Kompromiss schafft (z. B. die Steuern leicht erhöht und mehr Leistungen gewährt).
• Aber: Die Lösung dieser Konflikte kann nicht objektiv „gerecht“ genannt werden, weil es keine rationale Grundlage gibt, die sagt, welche Ordnung „absolut richtig“ ist. Was gerecht erscheint, ist immer subjektiv und von den jeweiligen Interessen abhängig.
- Die Idee der absoluten Gerechtigkeit
• Kelsen kritisiert die Vorstellung, dass es eine absolute Gerechtigkeit geben könnte – also eine Ordnung, die für alle Menschen und in allen Situationen als perfekt gerecht gilt.
• Wäre eine solche Ordnung vorhanden, bräuchte man kein positives Recht (Gesetze, die von Menschen gemacht werden). Warum? Weil die perfekte Ordnung alles regeln würde, ohne dass es Streit oder Unsicherheiten gäbe.
Metapher von Kelsen:
Das positive Recht wäre in einer Welt mit absoluter Gerechtigkeit so überflüssig wie eine Taschenlampe bei strahlendem Sonnenlicht. Es wäre sinnlos, weil die perfekte Ordnung bereits existiert.
- Gerechtigkeit als irrationales Ideal
• Für Kelsen ist Gerechtigkeit ein irrationales Ideal – etwas, das die Menschen anstreben, aber nie objektiv oder wissenschaftlich erfassen können.
• Warum irrational? Weil jede Vorstellung von Gerechtigkeit auf subjektiven Werten und Gefühlen basiert, nicht auf objektiv überprüfbaren Tatsachen.
Beispiel:
Zwei Menschen könnten sich darüber streiten, ob eine Steuererhöhung gerecht ist:
• Person A: „Es ist gerecht, weil die Reichen mehr beitragen sollten.“
• Person B: „Es ist ungerecht, weil es hart erarbeitete Gewinne bestraft.“
Keine der beiden Positionen ist objektiv richtig, weil sie von subjektiven Vorstellungen abhängen.
- Warum ist das wichtig?
• Kelsen will das Recht von der Vorstellung der „Gerechtigkeit“ trennen.
Das Ziel des Rechts ist es nicht, die absolute Gerechtigkeit zu schaffen (weil das unmöglich ist), sondern lediglich, Interessenkonflikte zu regeln, damit die Gesellschaft funktioniert.
Gerechtigkeitsideen sind laut Kelsen Ideologien bzw. Meinungen (z.B: Folter ist schlecht)
d) Die Reine Rechtslehre als anti-ideologische Rechtslehre:
Reine Rechtslehre wendet sich gegen ideologische Tendenzen in der Rechtswissenschaft (Moral, Gerechtigkeit etc.), sie analysiert das Recht so, wie es ist, ohne moralische oder ideologische Bewertungen (ob Recht gerecht oder ungerecht/richtig oder falsch ist)
Ziel ist es, die Struktur des positiven Rechts zu analysieren, nicht, es moralisch oder politisch zu legitimieren —> objektive und wertfreie Rechtswissenschaft etablieren, die frei von Ideologien ist
Kelsen spricht nur über inhaltliche Fragen (Ist Recht inhaltlich moralisch?); Kant sagt beispielsweise, allein, dass Recht überhaupt existiert, und kein Chaos herrscht, ist schon gerecht, egal, ob das Recht an sich ungerecht ist (Abwesenheit von Anarchie)
für Kelsen ist Moral/Gerechtigkeit aber absolut und das gibt es nicht
- Der Begriff der Rechtsnorm
a) Die Rechtsnorm als hypothetisches Urteil:
Urteil eines Richters wird vorweggenommen: Verknüpfung Tatbestand + Rechtsfolge: T —> R (wenn T, dann SOLL R) = „periphere Zurechnung“
Rechtsnormen sollen nicht als Imperative (Befehle wie in der Moral), sondern als hypothetische Urteile verstanden werden
• Eine Rechtsnorm verknüpft eine Bedingung mit einer Folge, z. B.:
o „Wenn jemand stiehlt (Bedingung), dann wird er bestraft (Folge).“
• Vergleich mit einem Naturgesetz:
o Naturgesetze verbinden Ursachen und Wirkungen kausal: „Wenn es regnet, wird der Boden nass.“
o Rechtsgesetze verbinden Bedingung und Folge jedoch durch Zurechnung, nicht Kausalität.
Beispiel: Der Diebstahl „verursacht“ nicht die Strafe; die Strafe wird dem Diebstahl zugerechnet, weil das Recht es so festlegt.
• Die Rechtsnorm drückt sich in einem „Sollen“ aus (man soll nicht stehlen), so wie Naturgesetze durch ein „Müssen“ (es muss regnen) beschrieben werden.
- Der Begriff der Rechtsnorm: b) Recht als Zwangsnorm
b) Das Recht als Zwangsnorm:
Recht ist vor allem ein System von Zwangsnormen
- Was ist eine Zwangsnorm?
• Eine Zwangsnorm ist eine Regel, die an eine Bedingung eine Folge knüpft, wobei diese Folge ein staatlicher Zwangsakt ist.
• Beispiel:
o Bedingung: „Wenn jemand eine Schuld nicht bezahlt.“
o Folge: „Dann wird eine Zwangsvollstreckung durchgeführt (z. B. Pfändung).“ - Wie definiert das Recht „Unrecht“ und „Unrechtsfolge“?
• Kelsen erklärt, dass ein Verhalten erst dann als Unrecht angesehen wird, wenn es mit einer Rechtsfolge (staatlichem Zwang) verknüpft ist.
o Beispiel: Der Diebstahl ist „Unrecht“, weil das Gesetz ihn verbietet und eine Strafe vorsieht.
• Die Unrechtsfolge ist die Konsequenz, die das Gesetz für das Unrecht festlegt (z. B. Strafe oder Zwangsvollstreckung).
• T —> R erfüllt: Unrecht (wenn es eine Norm gibt, die sagt, dass ein Verhalten sanktioniert wird, ist das Verhalten Unrecht)
- Warum ist der staatliche Zwang zentral?
• Für Kelsen unterscheidet sich das Recht von anderen Normsystemen (z. B. Moral) dadurch, dass es immer staatliche Zwangsakte vorsieht.
• Ohne die Möglichkeit, Verstöße durch Zwang zu ahnden, wäre das Recht kein Recht im Sinne der Reinen Rechtslehre.
Beispiel zur Veranschaulichung:
• In der Moral könnte ein Gebot wie „Man soll nicht lügen“ existieren, aber es gibt keine staatliche Strafe, wenn man es tut.
• Im Recht dagegen wird „Man darf nicht stehlen“ mit der Drohung einer Strafe (z. B. Gefängnis) verknüpft. Diese Zwangsandrohung macht es zu einer Rechtsnorm.
- Der Begriff der Zwangsnorm
c) Die Wirksamkeit der Rechtsordnung:
Ziel der Rechtsordnung ist, Menschen durch die Aussicht auf Strafe oder Zwang zu beeinflussen
• Wie funktioniert das?
o Die Rechtsordnung droht Übel (Strafe, Zwang) an, wenn jemand sich nicht an die Normen hält.
o Diese Drohung motiviert Menschen, sich so zu verhalten, wie es das Recht vorgibt.
- Der Begriff der Zwangsnorm: d) Die primäre und die sekundäre Norm:
Kelsen unterscheidet zwei Arten von Rechtsnormen:
- Primäre Normen: an Richter gerichtet
o Diese Normen legen die Verbindung zwischen einem Verstoß und dem Zwangsakt fest.
o Beispiel:
„Wenn jemand stiehlt (Verstoß), dann wird er bestraft (Zwangsakt).“
- Sekundäre Normen: psychologischer Anreiz, der für die Bürger entsteht (Bürger antizipieren, was Richter tun würden und ändern ihr Verhalten)
o Diese Normen regeln das Verhalten, das der Zwangsakt vermeiden soll.
o Beispiel:
„Man soll nicht stehlen.“
• Wichtig:
o Sekundäre Normen (wie „Man soll nicht stehlen“) enthalten nicht direkt die Verbindung zum Zwangsakt und sind daher eine vereinfachte Darstellung.
o Die primären Normen drücken das vollständige rechtliche Verhältnis aus, inklusive der Konsequenzen bei Verstößen.
- Die Grundnorm: b) Die Grundnorm der Moral als Grundnorm eines statischen Normensystems:
Kelsen sieht die Moral als wichtigstes Beispiel, Moral ist sein Kontrastmittel zur Verdeutlichung —> laut Borowski sehr simpel
Die Moral dient Kelsen als Beispiel für ein statisches Normensystem:
• Hier gelten Normen (z. B. „Man soll nicht lügen“) wegen ihres Inhalts; sie haben eine unmittelbar erkennbare Qualität, die ihren Inhalt begründet.
• Normen sind „statisch“ = inhaltlich fixiert: sind in der Grundnorm schon enthalten und können durch logisches Denken aus ihr erschlossen werden – es gibt keinen dynamischen Prozess, der neue Normen hinzufügt oder verändert.
• Die Grundnorm der Moral ist eine allgemeine, übergeordnete Regel, die festlegt, was moralisch gilt.
Beispiel: „Handle gerecht“ oder „Sei tugendhaft.“
Einzelne Moralnormen (z. B. „Man soll nicht lügen“) ergeben sich aus der Grundnorm.
Diese speziellen Normen sind logisch aus der Grundnorm ableitbar, so wie ein spezielles Gesetz aus einem allgemeinen Prinzip abgeleitet wird.
• Beispiel:
Grundnorm der Moral: „Handle stets so, dass du anderen keinen Schaden zufügst.“
Daraus können spezielle Moralnormen abgeleitet werden, wie:
„Man soll nicht stehlen.“
„Man soll niemanden beleidigen.“
„Man soll anderen helfen, wenn sie in Not sind.“
Diese abgeleiteten Normen sind bereits inhaltlich in der Grundnorm enthalten und werden aus ihr „herausgeholt“ —> allgemeine Norm —> Gedankenakt —> konkrete Norm
• Vergleich zur Rechtsnorm:
Im Gegensatz zur Moral gilt im Recht eine Norm nicht wegen ihres Inhalts (was „gut“ oder „gerecht“ ist), sondern weil sie nach einem bestimmten Verfahren erzeugt wurde.
Moralnormen hingegen beruhen auf
inhaltlicher Evidenz: Ihre Geltung wird aus ihrer Übereinstimmung mit der Grundnorm hergeleitet.
- Die Grundnorm: c) Die Grundnorm des Rechts als Grundnorm eines dynamischen Normensystems (Recht):
Im Gegensatz zur Moral ist das Recht ein dynamisches Normensystem (=Rechtsordnung):
• Hier gelten Normen nicht wegen ihres Inhalts, sondern weil sie auf eine bestimmte Weise zustande gekommen sind.
• Beispiel: Ein Gesetz gilt nicht, weil sein Inhalt „gut“ oder „gerecht“ ist, sondern weil es nach den Regeln des Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet wurde
• Rechtsordnung ist gekennzeichnet durch die Kategorie der Ermächtigung —> Menschen werden ermächtigt, ständig neue Gesetze zu erlassen etc., Gebrauch der Ermächtigung führt zu Änderung des Systems = kein bloßer Denkakt wie bei Moral, weil Sein und Sollen zugeschrieben werden
- Die Grundnorm:
d) Die religiöse Grundnorm:
Ein religiöses Normensystem basiert ebenfalls auf einer Grundnorm, die jedoch göttlichen Ursprung hat.
• Beispiel: „Man soll Gott gehorchen.“
• Daraus ergeben sich religiöse Vorschriften, die als göttliche Gebote betrachtet werden (z. B. Gehorsam gegenüber Autoritäten, die von Gott eingesetzt wurden)
• Religion ist für Kelsen auf Seite des Rechts, nicht der Moral
- Die Grundnorm: e) Die Bedeutung der Grundnorm:
Die Grundnorm ist eine hypothetische Annahme.
o Kelsen postuliert sie, um zu erklären, warum die gesamte Rechtsordnung Geltung beanspruchen kann.
• Sie gibt den Handlungen des Gesetzgebers und allen darauf beruhenden Normen ihren rechtlichen Sinn. Ohne die Grundnorm könnte man die Vielzahl an Normen nicht als einheitliches Rechtssystem verstehen —> gibt den Normen einen übergeordneten Zusammenhang
• Wichtig: Die Grundnorm ist nicht empirisch beweisbar (man kann sie nicht direkt beobachten); sie ist eine Voraussetzung, damit das Recht als ein System von Normen gedacht werden kann.
• Grundnorm nach Kelsen ist kein positives Recht, die Verfassung allerdings schon (Rechtsnorm) —> wenn die Grundnorm positives Recht wäre, wäre sie ein Sein, es darf aber nichts oberhalb der Grundnorm geben, sonst bricht die Kette ab
• Widerspruch zu Hart, für den die Verfassung ein soziales Faktum ist: Kelsen lehnt das ab, denn aus einem Sein allein darf niemals ein Sollen folgen (Humesches Gesetz)
- Die Grundnorm: f) Die relative Notwendigkeit der Annahme der Grundnorm:
Kelsen gibt Einschränkung seiner Theorie zu
Recht ist nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden beweisbar, sondern beruht auf einer spezifischen normativen Deutung
Grundnorm als gedankliche Voraussetzung, die sagt, dass wir den Staat (oder eine Verfassung) als Grundlage für alle rechtlichen Regeln akzeptieren, ohne diese Annahme könnten wir die Geltung des Rechts nicht erklären
Kelsen gesteht, dass er Rechtsrealisten nicht überzeugen kann, hält dem aber entgegen, dass sich deren radikaler skeptischer Standpunkt (gibt nur Wahrscheinlichkeiten für das Verhalten von Gewaltunterworfenen und Richtern, aber keine Rechtsnormen) von der gemeinsamen Praxis entfernt (es gibt Normen, Voraussetzungen, und das geht nicht, wenn man die Grundnorm nicht auch voraussetzt)
- Die Grundnorm: h) Das Prinzip der Legitimität:
Prinzip der Legitimität:
Gesetze bleiben gültig, solange sie im Rahmen der bestehenden Rechtsordnung gemacht wurden/nicht in der Weise außer Kraft gesetzt werden, die die Rechtsordnung selbst bestimmt
Revolution: wenn die Rechtsordnung eines Gemeinwesens außer Kraft gesetzt und durch eine neue Ordnung in einer illegitimen, d.h. in einer von der ersten Verfassung selbst nicht vorgeschriebenen Weise ersetzt wird —> juristisch entscheidendes Kriterium einer Revolution, dass die geltende Ordnung umgestürzt und durch eine neue Ordnung in einer Art und Weise ersetzt wird, die die frühere selbst nicht vorgesehen hatte
- Die Grundnorm: i) Die Effektivität der gesamten Rechtsordnung und die einzelne Rechtsnorm:
Die Wirksamkeit der gesamten Rechtsordnung ist notwendige Bedingung für Gültigkeit jeder einzelnen Norm der Ordnung
Normen sind nicht gültig, weil die Gesamtordnung wirksam ist, sondern weil sie in verfassungsmäßiger Weise geschaffen sind
aber nur unter der Voraussetzung gültig, dass die Gesamtordnung wirksam ist
- Die Grundnorm: j) Die Effektivität der einzelnen Rechtsnorm – Desuetudo:
Innerhalb insgesamt wirksamer Rechtsordnung kann es trotzdem Gesetze geben, die nicht befolgt und nicht angewandt werden = Desuetudo
Wirksamkeit hat Bezug zu Gültigkeit der Norm: wenn Norm dauerhaft unwirksam, verliert sie ihre Gültigkeit
negative Rechtswirkung des Gewohnheitsrechts: Aufhebung oder Änderung von Vorschriften durch Gewohnheitsrecht
—> Betonung Einfluss sozialer Praxis auf Normativität
- Die Grundnorm: Zusammenfassung: Eine Norm ist gültig, wenn:
- sie gemäß den Vorgaben der Rechtsordnung geschaffen wurde, und
- sie nicht durch Desuetudo, Aufhebung oder den Zusammenbruch der gesamten Rechtsordnung ihre Gültigkeit verloren hat.
Recht basiert nicht nur auf Formalitäten, sondern auch auf gesellschaftlicher Akzeptanz und Effektivität
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: b) Der Bedingungszusammenhang
• Zentral ist der Gedanke, dass eine Norm eine andere bedingt.
o Merkl: Ein rechtliches Phänomen bedingt ein anderes, indem es dessen Ursprung darstellt. Die erzeugte Norm entsteht aus der bedingenden.
- Kern des Bedingungszusammenhangs: Ermächtigung
Die Rechtsordnung basiert auf einem Bedingungszusammenhang.
Dies bedeutet, dass eine Norm ihre Existenz und Geltung von einer anderen Norm ableitet.
Dieser Zusammenhang beruht auf der Ermächtigung, die innerhalb der Rechtsordnung erteilt wird.
Ermächtigung im Detail:
• Zwei Bestandteile der Rechtsordnung:
o Regeln menschlichen Verhaltens: Diese legen fest, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten sollen (z. B. Gesetze, die das Verhalten regulieren, wie Verkehrsregeln).
o Regeln zur Erzeugung dieser Verhaltensregeln: Diese Normen legen fest, wie die Verhaltensregeln geschaffen, geändert oder aufgehoben werden dürfen (z. B. Verfassungsnormen, die die Gesetzgebung regeln).
• Selbsterzeugung des Rechts:
Die Rechtsordnung ist ein in sich geschlossenes System, das seine Geltung durch Ermächtigungen stützt. Eine Norm ist nur gültig, wenn sie durch eine Norm höherer Stufe erzeugt wurde. Dies zeigt, wie die Rechtsordnung ihre eigene Struktur organisiert und rechtfertigt.
Beispiel:
• Die Verfassung ermächtigt das Parlament, Gesetze zu erlassen.
• Diese Gesetze legen wiederum fest, wie konkrete Verhaltensregeln durch Gerichtsentscheidungen oder Verwaltungsvorschriften umgesetzt werden können.
• Ohne eine solche Ermächtigung wäre es nicht möglich, dass z. B. ein Verwaltungsakt (wie ein Bauvorhaben) rechtlich bindend ist.
o Kelsen: Das Recht regelt seine eigene Erzeugung, indem eine Norm das Verfahren und teilweise den Inhalt der nachfolgenden Norm bestimmt. Höhere Normen geben den Geltungsgrund für niedrigere.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: c) Notwendige und typische Stufung
• Notwendige Stufung: Das einfachste Rechtsformensystem ist immer mindestens zweistufig:
- Höhere Normen – Regeln, die festlegen, wie andere Normen erzeugt werden (z. B. die Verfassung).
- Niedrigere Normen – Normen, die durch die höheren Normen erzeugt werden (z. B. Gesetze oder Verwaltungsakte).
Warum ist die Stufung notwendig?
• Ohne eine höhere Norm, die die Erzeugung regelt, könnten keine neuen, gültigen Normen entstehen.
• Ohne niedrigere Normen könnte die Rechtsordnung nicht konkret angewendet werden.
Beispiel:
• Die Verfassung ist die höchste Norm in der nationalen Rechtsordnung und regelt, wie Gesetze zu erlassen sind. Diese Gesetze wiederum regeln, wie Verwaltungsakte zu gestalten sind.
• Dadurch entsteht eine systematische Hierarchie, die sicherstellt, dass alle Normen auf einer gemeinsamen Basis beruhen.
• Typische Stufung: Diese steht bei Merkl und Kelsen im Vordergrund und beschreibt die Struktur eines modernen Rechtssystems.
d) Typische Stufen im modernen Rechtsstaat
- Grundnorm: Theoretischer Ausgangspunkt der Rechtserzeugung (siehe auch Kelsen).
- Verfassung: Positivrechtlich die höchste Norm; sie regelt Organe und Verfahren der generellen Rechtserzeugung (Gesetzgebung) und teilweise Inhalte künftiger Gesetze (Inhalte werden vorgeschrieben oder ausgeschlossen, z.B. Grund- und Freiheitsrechte).
- Gesetzgebung: im Gesetzgebungsverfahren erzeugte generelle Normen, die der Verfassung untergeordnet sind und den Inhalt individueller Normen bestimmen. Üblicherweise durch Gerichte und Verwaltungsbehörden zu setzen.
- Verordnungen: Generelle Normen, die von Verwaltungsorganen erlassen werden und Gesetze konkretisieren.
- Individuelle Normen, erlassen von Justiz/Verwaltung:
o Gerichtsurteile (individuelle Rechtsnormen, die generelle Normen konkretisieren) à „Das richterliche Urteil selbst [ist] eine individuelle Rechtsnorm, die Individualisierung oder Konkretisierung der generellen oder abstrakten Rechtsnorm, die Fortführung des Rechtserzeugungsprozesses aus dem Generellen in das Individuelle.“
o Verwaltungsakte (Konkretisierung durch Behörden).
o Rechtsgeschäfte (z. B. Verträge, die durch Gesetze ermöglicht werden). - Zwangsakte: Die Realisierung der Unrechtsfolge als letzte Phase der Normenverwirklichung.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: e) Probleme des Stufenbaus
• Gewohnheitsrecht: Muss entweder explizit in der Verfassung ermächtigt sein oder als Verfassungsgewohnheitsrecht gelten.
• Völkerrecht und Unionsrecht: Verschiedene Ansichten zur Hierarchie und Einordnung in den Stufenbau (z. B. Monismus vs. Dualismus).
Der Versuch, den Stufenbau der Rechtsordnung über den Kontext des nationalen Rechts hinaus zu erweitern, stößt auf verschiedene Probleme. Die drei genannten Problemfelder (Gewohnheitsrecht, Völkerrecht und Unionsrecht) werfen jeweils spezifische Fragen auf, die auf die Komplexität und die Grenzen von Merkls und Kelsens Konzept hinweisen.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: 1. Gewohnheitsrecht im Stufenbau
• Problem:
Gewohnheitsrecht entsteht nicht durch einen förmlichen Rechtsetzungsprozess, sondern durch allgemeine und dauerhafte Übung in Verbindung mit der Überzeugung, dass diese Übung rechtlich bindend ist (opinio iuris).
Das stellt den Stufenbau vor Herausforderungen, da das Konzept der Ermächtigung und Ableitung einer Norm von einer höheren Norm hier schwer anwendbar ist.
• Kelsen (GTLS, S. 126 ff.):
o Wenn Gewohnheitsrecht auf der Ebene des einfachen Rechts anerkannt wird, müsste eine Ermächtigung in der Verfassung vorhanden sein, die die Setzung von Gewohnheitsrecht erlaubt.
o Falls eine solche Ermächtigung in der Verfassung nicht ausdrücklich existiert, müsste man annehmen, dass es Verfassungsgewohnheitsrecht gibt, das auf der höchsten Stufe implizit erlaubt, Gewohnheitsrecht auf unteren Ebenen zu erzeugen.
• Zentraler Konflikt:
o Gewohnheitsrecht widerspricht dem Prinzip, dass jede Norm durch eine höhere Norm erzeugt wird, da es “außerhalb” des formalen Normensystems entsteht.
o Es stellt also eine Ausnahme im Stufenbau dar oder erfordert eine ad hoc Konstruktion, um es in das System einzufügen.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: 2. Völkerrecht im Stufenbau
Das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht wird durch drei Theorien erklärt:
• Dualismus:
Nationales Recht und Völkerrecht sind separate Rechtssysteme. Völkerrecht muss in nationales Recht transformiert werden, bevor es innerstaatlich gilt.
o Problem im Stufenbau: Die Transformation führt zu einer Situation, in der das Völkerrecht nicht eigenständig, sondern nur als „abgeleitet“ vom nationalen Recht gilt.
• Monismus mit Primat des staatlichen Rechts:
Das nationale Recht hat Vorrang vor dem Völkerrecht. Völkerrecht gilt nur, wenn es durch nationale Normen anerkannt wird.
o Problem im Stufenbau: Der Monismus mit staatlichem Primat stellt das Völkerrecht in eine untergeordnete Stufe, was der universellen Geltung des Völkerrechts widerspricht.
• Monismus mit Primat des Völkerrechts:
Das Völkerrecht steht über dem nationalen Recht und ist für den Staat bindend. Nationale Normen, die dem Völkerrecht widersprechen, verlieren ihre Gültigkeit.
o Problem im Stufenbau: In diesem Modell wird der Stufenbau auf internationaler Ebene verlagert. Es fehlt jedoch oft eine klare “Grundnorm”, die dieses Verhältnis systematisch regelt.
Kelsen (RR1, S. 129 ff.):
• Unterscheidet zwischen Bedingung und Derogation:
o Bedingung: Eine Norm des nationalen Rechts leitet ihre Geltung aus einer internationalen Norm ab.
o Derogation: Eine Norm wird durch eine widersprechende Norm aufgehoben (z. B. wenn nationales Recht gegen zwingendes Völkerrecht verstößt).
• Konflikte entstehen, wenn nationale Normen inhaltlich mit dem Völkerrecht kollidieren und unklar ist, welcher Primat gilt.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: 3. Unionsrecht im Stufenbau
Das Unionsrecht hat einen besonderen Status im Verhältnis zu nationalem Recht, der sich nicht vollständig mit dem traditionellen Stufenbau erklären lässt.
• „Anwendungsvorrang“ des Unionsrechts:
Das Recht der Europäischen Union hat Vorrang vor nationalem Recht, selbst wenn es nicht ausdrücklich in die nationalen Rechtsordnungen integriert wurde.
o Ableitung der Hoheitsrechte:
Die EU erhält ihre Hoheitsrechte durch die mitgliedstaatlichen Verfassungen. Das bedeutet, dass das Unionsrecht formal auf den Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten basiert.
Allerdings beansprucht das Unionsrecht in der Praxis Vorrang, auch gegenüber Verfassungsnormen der Mitgliedstaaten (siehe Costa v. ENEL).
o Problem:
Das Unionsrecht ist in gewisser Weise unabhängig, aber gleichzeitig abhängig von nationalem Recht, was zu einem „zirkulären“ Verhältnis führt: Nationale Verfassungen legitimieren die EU, und die EU setzt sich über nationales Recht hinweg.
Literaturhinweis (Borowski):
• Borowski erklärt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht mit einem einfachen hierarchischen Stufenbau vereinbar ist.
• Stattdessen plädiert er für ein Konzept des legal pluralism, das die Koexistenz verschiedener Normsysteme betont, ohne eine strikte Hierarchie zu konstruieren.
- Stufenbau der Rechtsordnung: f) Relativität von Rechtserzeugung und Rechtsanwendung
- Traditionelle Sichtweise
• In der traditionellen Rechtslehre wird ein scharfer Gegensatz gemacht:
o Rechtserzeugung: Die Schaffung von neuen Normen (z. B. durch Gesetzgebung).
o Rechtsanwendung: Die Durchsetzung oder Anwendung bestehender Normen (z. B. durch Gerichte oder Verwaltung).
• Diese klare Trennung dient zur Strukturierung des Rechtsverständnisses.
- Kelsens Perspektive: Relativität
Kelsen argumentiert, dass dieser Gegensatz nicht so eindeutig ist, weil die meisten Rechtsakte beides zugleich sind:
• Rechtsvollziehung: Ein Rechtsakt (z. B. Gesetzgebung) vollzieht eine Norm höherer Stufe (z. B. Verfassung).
• Rechtserzeugung: Derselbe Rechtsakt erzeugt eine neue Norm niedrigerer Stufe (z. B. ein Gesetz, das für Einzelpersonen gilt).
- Beispiele
• Gesetzgebung:
o Der Erlass eines Gesetzes durch das Parlament vollzieht die Verfassung (da das Gesetz im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben erlassen wird).
o Gleichzeitig erzeugt dieses Gesetz neue Normen, die Einzelpersonen betreffen.
• Verwaltungsakt:
o Ein Verwaltungsakt (z. B. Steuerbescheid) vollzieht ein Gesetz.
o Gleichzeitig setzt er eine Norm für den konkreten Einzelfall (den Adressaten des Bescheids).
- Grenzfälle
Kelsen identifiziert zwei Extremfälle:
• Reine Rechtserzeugung:
o Die Setzung der Grundnorm: Diese ist die höchste Norm in der Rechtsordnung und wird nicht durch eine höhere Norm bedingt. Sie hat den Charakter reiner Normsetzung.
• Reine Rechtsvollziehung:
o Der Zwangsakt: Ein Zwangsakt (z. B. die Vollstreckung eines Urteils durch die Polizei) setzt keine neuen Normen, sondern vollzieht ausschließlich bestehende Normen.
Alles andere liegt zwischen diesen beiden Extremen und hat Elemente sowohl von Rechtserzeugung als auch von Rechtsanwendung.
- Bedeutung der Relativität
• Diese Einsicht zeigt, dass die Rechtsordnung stufenförmig aufgebaut ist und jede Norm gleichzeitig als “Produkt” einer höheren Stufe und “Basis” für eine niedrigere Stufe dient.
• Dadurch wird die Dynamik und Funktionalität der Rechtsordnung verständlich:
o Jede Norm ist Teil eines größeren Prozesses, bei dem Recht ständig neu erzeugt und gleichzeitig vollzogen wird.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: g) Derogationszusammenhang
- Stufenbau nach Bedingungszusammenhang
• Definition: Dieser Stufenbau beschreibt, wie Normen aufeinander aufbauen. Eine Norm der höheren Stufe (z. B. Verfassung) ermächtigt zur Setzung von Normen auf einer niedrigeren Stufe (z. B. einfache Gesetze).
• Zusammenhang: Höherrangige Normen ermöglichen die Schaffung niedrigerer Normen.
- Stufenbau nach Derogationszusammenhang
• Definition: Derogation bedeutet die Aufhebung oder Außerkraftsetzung einer Norm. Im Derogationszusammenhang stellt sich die Frage, ob eine Norm der höheren Stufe die niedrigere Norm außer Kraft setzen kann – und umgekehrt.
• Merkl’s These: Derogation ist keine zwingende Folge des Bedingungszusammenhangs. Der Vorrang höherer Normen vor niedrigeren Normen ist nicht analytisch zwingend, sondern ergibt sich aus dem positiven Recht.
• Beispiel: Ein einfaches Gesetz kann in der Regel keine Verfassungsnorm aufheben, weil die Verfassung eine höhere Stufe hat und ihre Derogation durch ein einfaches Gesetz nicht zulässt. Diese „Schutzfunktion“ der höheren Norm ist jedoch positivrechtlich (d. h. durch die Rechtsordnung selbst) geregelt, nicht logisch notwendig.
- Parallelität von Bedingung und Derogation
• Typische Parallelität: In der Praxis besteht oft eine Parallelität: Eine Norm der höheren Stufe (z. B. Verfassung) schützt sich selbst vor der Aufhebung durch Normen niedrigerer Stufen. Die „übergeordnete“ Ebene bleibt somit in ihrer Integrität gewahrt.
• Begründung der Parallelität (nach Borowski): Die höhere Ebene behält Vorrang, um sich vor einer inhaltlichen Änderung durch die niedrigere Ebene zu schützen.
o Beispiel: Ein einfaches Gesetz darf nicht die Verfassung ändern oder umgehen, da die Verfassung deren Setzung (Bedingung) und deren Derogation (Vorrang) kontrolliert.
• Aber: Diese Parallelität ist nicht notwendig. Es hängt davon ab, wie die Rechtsordnung die Derogation regelt.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: 4. Kelsen und die normative Alternative
• Kelsen behandelt diese Parallelität indirekt in seiner Lehre von der normativen Alternative:
o Eine niedrigere Norm, die gegen die Vorschriften der höheren Norm verstößt, ist nicht automatisch „nichtig“. Sie gilt zunächst weiterhin, bis sie in einem geregelten Verfahren aufgehoben wird.
Daraus folgt, dass die Verfassung eine Regelung der Derogation durch die niedrigere Norm zulassen kann, was den Vorrang der höheren Norm in der Praxis abschwächt.
- Verschiedene Szenarien
• Typische Hierarchie (nationale Rechtsordnung):
o Verfassung → Schutz gegen Änderungen durch Gesetze → Parallelität von Bedingung und Derogation.
• Ausnahmefälle: In internationalen oder unionsrechtlichen Kontexten (z. B. EU-Recht) können diese Zusammenhänge anders geregelt sein:
o EU-Recht: Es hat Anwendungsvorrang vor nationalem Recht, auch wenn es durch nationale Verfassungsnormen bedingt ist.
o Völkerrecht: Je nach dualistischer oder monistischer Sichtweise kann es auf verschiedene Arten in die nationale Rechtsordnung eingebunden werden, was die Frage der Derogation komplex macht.
h) Kelsens Lehre der normativen Alternativen
Kelsens Lehre der „normativen Alternativen“ beschäftigt sich mit der Frage, wie eine Rechtsordnung damit umgeht, wenn Normen verschiedener Stufen miteinander in Widerspruch stehen, und wie die Einheit der Rechtsordnung in solchen Fällen aufrechterhalten werden kann. Es geht dabei insbesondere um das Verhältnis zwischen höheren und niedrigeren Normen, z. B. zwischen Verfassung und Gesetz, und darum, wie eine verfassungswidrige Norm zu behandeln ist.
- Kernfrage: Widerspruch zwischen Normen verschiedener Stufen
• Das Problem:
Was passiert, wenn eine Norm auf einer niedrigeren Stufe (z. B. ein Gesetz) gegen eine Norm auf einer höheren Stufe (z. B. die Verfassung) verstößt?
o Beispiel: Ein Gesetz wird verabschiedet, das gegen Grundrechte der Verfassung verstößt.
• Die Herausforderung:
o Nach Kelsens Stufenbau müsste das Gesetz ungültig sein, weil es nicht im Einklang mit der höheren Norm (der Verfassung) steht.
o Dennoch kann ein verfassungswidriges Gesetz faktisch gelten, bis es durch ein zuständiges Organ (z. B. das Verfassungsgericht) aufgehoben wird.
- Unterschiedliche Lösungen: Vernichtbarkeitslehre vs. ipso iure Nichtigkeit
a) Vernichtbarkeitslehre (österreichische Tradition):
• Eine fehlerhafte Norm (z. B. ein verfassungswidriges Gesetz) bleibt gültig, bis sie in einem besonderen Verfahren durch ein zuständiges Organ (z. B. das Verfassungsgericht) aufgehoben wird.
• Die Norm ist also nicht automatisch ungültig, sondern nur vernichtbar.
b) Lehre der ipso iure Nichtigkeit (deutsche Tradition):
• Eine fehlerhafte Norm ist von Anfang an ungültig (ipso iure).
• Sie wird juristisch so behandelt, als hätte sie nie existiert.
• Es braucht kein besonderes Verfahren, um ihre Ungültigkeit festzustellen.
c) Kelsens Lösung: Die normative Alternative
• Kelsen lehnt die strikte ipso-iure-Nichtigkeit ab, weil sie die Rechtsordnung nicht ausreichend berücksichtigt. Stattdessen entwickelt er die Idee der „normativen Alternative“:
o Verfassungswidrige Gesetze gelten vorläufig und sind nur dann ungültig, wenn sie von einem zuständigen Organ (z. B. Verfassungsgericht) aufgehoben werden.
o Der Zustand, in dem ein verfassungswidriges Gesetz vorläufig gilt, ist ein Sonderfall der Rechtsordnung, den die Verfassung selbst „duldet“.
- Kelsens Argumentation: Warum gelten verfassungswidrige Gesetze vorläufig?
• Die Einheit der Rechtsordnung:
o Für Kelsen ist es wichtig, dass die Rechtsordnung als einheitliches System erhalten bleibt.
o Wenn verfassungswidrige Gesetze sofort ungültig wären, könnte dies zu rechtlicher Unsicherheit führen.
o Deshalb geht Kelsen davon aus, dass die Verfassung die Möglichkeit fehlerhafter Gesetze „vorsieht“ und deren Gültigkeit bis zu ihrer Aufhebung akzeptiert.
• Die „Alternative“ in der Verfassung:
o Die Verfassung enthält zwei mögliche Vorschriften:
- Gesetze sollen im Einklang mit der Verfassung erzeugt werden.
- Wenn dies nicht der Fall ist, gibt es ein Verfahren zur Aufhebung fehlerhafter Gesetze (z. B. durch ein Verfassungsgericht).
o Diese beiden Alternativen stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander. Gesetze, die der ersten Alternative entsprechen (verfassungsgemäße Gesetze), haben Vorrang vor Gesetzen, die der zweiten Alternative entsprechen (verfassungswidrige Gesetze).
• „Fehlerhaftigkeit“ statt Ungültigkeit:
o Verfassungswidrige Gesetze sind nicht von vornherein ungültig, sondern gelten als „fehlerhaft“. Sie sind gültig, aber angreifbar, und können durch ein gerichtliches Verfahren aufgehoben werden.
- Der Stufenbau der Rechtsordnung: 6. Kelsens Lehre von der Interpretation
Kelsen entwickelt in seiner Lehre von der Interpretation eine differenzierte Sichtweise auf den Prozess der Rechtsauslegung, indem er den Vorgang sowohl in seiner Funktion als auch in seiner Begrenztheit analysiert.
a) Interpretation begleitet den Stufenbau des Rechts
• Interpretation ist laut Kelsen ein Prozess, der den Übergang von einer höheren zur nächsten (niedrigeren) Stufe im Stufenbau des Rechts begleitet.
• Ziel der Interpretation: Den Sinn einer Norm der höheren Stufe zu erschließen, um darauf aufbauend Normen der niedrigeren Stufe zu erzeugen.
• Dieser Prozess der Sinnfindung ist kein mechanischer Vorgang, sondern ein geistiges Verfahren, das mehrere mögliche Bedeutungen offenlegen kann.
b) Rahmen der Norm und mögliche Entscheidungen
• Normen als Rahmen: Kelsen beschreibt Rechtsnormen nicht als eindeutig, sondern als Rahmen, der verschiedene mögliche Entscheidungen zulässt.
o Beispiel: Ein Gesetz, das eine Strafe „bis zu fünf Jahren“ vorsieht, lässt Entscheidungen zwischen 0 und 5 Jahren zu.
• Interpretationsergebnis: Die Interpretation einer Norm kann zu mehreren gleichwertigen Ergebnissen führen, die alle innerhalb dieses Rahmens rechtlich zulässig sind.
• Rechtsanwendung und Entscheidung:
o Die Aufgabe des Rechtsorgans (z. B. eines Gerichts) besteht darin, innerhalb dieses Rahmens eine verbindliche Entscheidung zu treffen.
o Diese Entscheidung wird durch den Rechtsanwendungsakt positives Recht.
c) Herkömmliche Interpretationsmethoden
• Kelsen kritisiert die herkömmlichen Interpretationsmethoden, wie:
o Grammatische Auslegung: Betonung des Wortsinns.
o Historische Auslegung: Rückgriff auf die Entstehungsgeschichte.
o Systematische Auslegung: Einordnung in den Kontext der gesamten Rechtsordnung.
o Teleologische Auslegung: Ziel- und Zweckorientierung.
• Laut Kelsen liefern all diese Methoden lediglich mögliche Interpretationen, aber nie die „allein richtige“.
• Interessenabwägung: Auch dieser Ansatz, der versucht, widerstreitende Interessen gegeneinander abzuwägen, bietet keine endgültige Lösung, sondern ist lediglich eine andere Perspektive zur Betrachtung des Problems.
d) Authentische und nicht-authentische Interpretation
• Nicht-authentische Interpretation:
o Wird von der Rechtswissenschaft vorgenommen.
o Hat rein erkenntnistheoretischen Charakter: Sie versucht, die möglichen Bedeutungen einer Norm herauszustellen.
o Diese Interpretation erzeugt kein neues Recht, sondern beschreibt lediglich die Optionen, die eine Norm bietet.
o Entscheidung und Rechtserzeugung sind der Rechtswissenschaft jedoch nicht erlaubt.
• Authentische Interpretation:
o Wird von einem Rechtsorgan vorgenommen (z. B. einem Gericht oder Gesetzgeber).
o Hat verbindlichen Charakter: Die authentische Interpretation schafft positives Recht.
o Beispiel: Ein Gerichtsurteil interpretiert eine Norm und trifft dabei eine endgültige Entscheidung, die für den Fall bindend ist.
• Abgrenzung: Während die Rechtswissenschaft den Sinn von Normen analysiert, treffen Rechtsorgane verbindliche Entscheidungen im Rahmen der von der Norm vorgegebenen Möglichkeiten.
Bedeutung im Kontext des Stufenbaus
• Die Interpretation spielt eine zentrale Rolle im Stufenbau des Rechts, da sie die Verbindung zwischen den Ebenen herstellt.
• Sie sorgt dafür, dass die Normen höherer Stufen sinnvoll auf die Erzeugung und Anwendung der Normen auf niedrigeren Stufen bezogen werden können.
• Gleichzeitig zeigt Kelsen, dass die Rechtsauslegung keine mathematisch exakte Wissenschaft ist, sondern stets Raum für unterschiedliche, jedoch rechtlich zulässige Ergebnisse lässt.