Genette - Modus Flashcards
- Modus
Grad der Mittelbarkeit (Distanz) und die Perspektivierung (Fokalisierung) des Erzählten.
a) Distanz
Wie mittelbar wird das Erzählte präsentiert?
Distanz ist eine Skala, an deren einem Ende die vollständige Vermittlung der Geschichte durch einen in jeder Hinsicht präsenten Erzähler (narrativer Modus) und an deren anderem Ende die szenische Darstellung mit wörtlicher Rede (dramatischer Modus) liegt.
aa) Narrativer Modus
“telling”, mittelbar, Erzählte Rede (Bewußtseinsbericht, erzählte Rede), meist mit Zeitraffung
Mittelbare Darstellungen im narrativen Modus werden von einer starken Erzählerpräsenz in Stimme und Perspektive bestimmt. Kennzeichen sind
Häufige Erzählerkommentare u. Reflexionen In Stimme und Perspektive deutlich wahrnehmbare Erzählinstanz
Beispiel für das Erzählen im narrativen Modus
Textbeispiel: Erstes Kapitel
Solange der Mensch auf seiner Erde Geschichten hört oder dergleichen selber erzählt, teilt er sie gewöhnlich ein in solche, die gut anfangen und böse endigen, und solche, die schlimm beginnen, aber zu einem wünschenswerten Ende kommen. Darüber wäre nun manches zu sagen; denn so recht begriffen und ausgerechnet hat eigentlich noch keiner, wo bei den Geschichten dieser Erde der Anfang und wo das Ende ist, wo das Wünschenswerte beginnt und das Gegenteil davon endet, oder umgekehrt. Ich für mein Teil hüte mich wohl, mich hierüber des weitern auszulassen, ich halte mich einfach an des Menschen uralt hergebrachte Anordnung und Abfachung seiner Erlebnisse und seiner Schicksale und verkünde nur, zu eigener Erleichterung tief aufatmend, daß vorliegende Geschichte nach menschlichem Ermessen ziemlich gut ausgeht. Es war, um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen, an einem trüben Sonntagmorgen im Spätherbst noch vor dem Kirchenglockengeläut.
Wilhelm Raabe: Im alten Eisen (Beginn)
Erläuterung: Hier wird eindeutig im narrativen Modus erzählt. Erkennbar wird das gleich zu Beginn, indem nämlich nicht eine Handlung oder die Beschreibung eines Schauplatzes an erster Stelle steht, sondern eine Reflexion über verschieden Arten von Geschichten. Der Erzähler ist dadurch stark präsent und spricht ja dann auch im dritten Satz in der ersten Person von sich. Selbst als die Geschichte mit dem letzten Satz beginnt, ist dies von einem Kommentar des Erzählers - „um mitten in der unruhvollen Wirklichkeit im altgewohnten Märchenton zu beginnen“ - begleitet.
ab) Dramatischer Modus
“showing”, unmittelbar/ohne Distanz, Zitierte Rede, direkte autonome Figurenrede (ohne verbum dicendi), direkte Figurenrede mit verbum dicendi (“er sagte”), Bewußtseinsstrom, Gedankenzitat (mit verbum dicendi, “dachte ich…”), Innerer Monolog
In unmittelbaren Darstellungen im dramatischen Modus wird die Geschichte direkt und ohne einen sofort erkennbaren Erzähler präsentiert. Merkmale sind:
Das Fehlen jeglichen Kommentars bzw. von Reflexionen Die Wahrnehmungsperspektive einer am Geschehen beteiligten Figur Detailreichtum (Realitätseffekt) Häufig Szenen
Beispiel für das Erzählen im dramatischen Modus
Textbeispiel: Vor dem in dem großen und reichen Oderbruchdorfe Tschechin um Michaeli 20 eröffneten “Gasthaus und Materialwarengeschäft von Abel Hradscheck” (so stand auf einem über der Tür angebrachten Schilde) wurden Säcke, vom Hausflur her, auf einen mit zwei magern Schimmeln bespannten Bauerwagen geladen. Einige von den Säcken waren nicht gut gebunden oder hatten kleine Löcher und Ritzen, und so sah man denn an dem, was herausfiel, daß es Rapssäcke waren. Auf der Straße neben dem Wagen aber stand Abel Hradscheck selbst und sagte zu dem eben vom Rad her auf die Deichsel steigenden Knecht: „Und nun vorwärts, Jakob, und grüße mir Ölmüller Quaas. Und sag ihm, bis Ende der Woche müßt ich das Öl haben, Leist in Wrietzen wartet schon. Und wenn Quaas nicht da ist, so bestelle der Frau meinen Gruß und sei hübsch manierlich. Du weißt ja Bescheid. Und weißt auch, Kätzchen hält auf Komplimente.“
Theodor Fontane: Unterm Birnbaum (Beginn)
Erläuterung Das Geschäft von Abel Hradscheck und die Ereignisse vor dessen Eingang werden so beschrieben, dass man den Erzähler dabei fast völlig vergisst. Der Erzähler meldet sich auch nicht mit Kommentaren oder Überlegungen zu Wort. Es werden viele Details beschrieben, das Ganze erscheint vor unserem inneren Auge wie ein Film oder wie auf einer Bühne. Zu diesem Eindruck trägt auch die direkte Figurenrede am Schluss bei.
ac) Gemischter Modus
Transponierte Rede; steht, was die Mittelbarkeit betrifft, zwischen dramatischer und narrativer Rede. Umfasst die indirekte und die erlebte Rede.
Es gibt drei verschiedene Modi zur Präsentation von Worten und Gedanken
A) Erzählte Rede
…meint die Erwähnung des sprachlichen Akts oder den Redebericht. Sie entspricht dem narrativen Modus.
B) Zitierte Rede
… liegt vor, wenn die Worte der Figuren ohne (wesentliche) Eingriffe des Erzählers wiedergegeben werden (auch direkte Rede). Sie entspricht dem dramatischen Modus.
C) Transponierte Rede
… erhöht den Grad an Unmittelbarkeit gegenüber der erzählten Rede und umfasst die indirekte und die erlebte Rede. Dieser Modus liegt vor, wenn der Erzähler auf bestimmte und eng begrenzte Art erkennbar an der Präsentation der Worte bzw. Gedanken einer Figur beteiligt ist, indem er sie nämlich in eigene Rede überführt.
C) a) Indirekte Rede
Indirekte Rede (oratio obliqua): Erzählerische Redewiedergabe in der 3. Person Präsens Konjunktiv (bei Ich-Erzählung: in der 1. Person für das erlebende Ich), ohne Innensicht, mit der Möglichkeit kommentierender Einmischung, in vollständiger Syntax ohne Anführungs-, Ausrufe- und Fragezeichen.
Der Inhalt der Figurenrede bzw. der Gedanken bleibt zwar erhalten, nicht jedoch ihr Wortlaut, da das Gesagte einem anderen Sprecher, dem Erzähler, als Inhalt eines „dass“-Satzes im Konjunktiv zugeordnet wird.
Beispiel für indirekte Rede
Textbeispiel: Recht hatte aber Nathanael doch, als er seinem Freunde Lothar schrieb, daß des widerwärtigen Wetterglashändlers Coppola Gestalt recht feindlich in sein Leben getreten sei.
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
Erläuterung In dieser kurzen Passage aus E.T.A. Hoffmanns Sandmann liegt transponierte Rede in Form von indirekter Rede vor - und zwar in der Standardform Verb des Sagens + „dass“ + Konjunktiv im Nebensatz. Der Leser erfährt nicht den genauen Wortlaut dessen, was Nathanael über Coppola geschrieben hat, aber der Erzähler gibt ihm gleichwohl den gesamten relevanten Inhalt zur Kenntnis, so dass diese Art der Wort- oder Gedankenwiedergabe zwischen dramatischem und narrativem Modus anzusiedeln ist.
C) b) Erlebte Rede
Erzählerische Redewiedergabe in der 3. Person Präteritum oder Plusquamperfekt Indikativ, mit Innensicht und der Möglichkeit kommentierender Einmischung, aber ohne ‚verba dicendi et sentiendi’, in vollständiger Syntax (Ausnahme: Interjektionen) und mit unbeschränkter Interpunktion, jedoch ohne Anführungszeichen.
In erlebter Rede bleiben zwar der Wortlaut und die Ausdrucksqualität des von der Figur Gesagten weitgehend erhalten, werden aber (mitunter in fließenden Übergängen) in den Erzählerbericht samt dessen Tempus und Syntax eingebettet. Erlebte Rede ist somit zwar weniger narrativ als indirekte Rede, auch sie bleibt aber letztlich formal dem Erzähler zugeordnet.
Beispiel für erlebte Rede
Textbeispiel: Frau Stuth aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstag bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knieen und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moiré antique …
Thomas Mann: Buddenbrooks
Erläuterung In die Beschreibung der helfenden Tätigkeit von Mamsell Jungmann ist hier mit „Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen“ ganz unvermittelt eine Aussage von Mamsell Jungmann eingeflochten. Es handelt sich dabei um erlebte Rede, weil sie in Erzählerrede eingebettet, in der 3. Person Präteritum Indikativ gehalten ist, und nicht von einem einleitenden Verb des Sagens/Meinens oder Anführunsstrichen eingeleitet wird.
b) Fokalisierung
Aus welcher Sicht wird erzählt? Die Instanz, die das Erzählte wahrnimmt, also sieht, hört, riecht, schmeckt, spürt, fühlt, denkt.
Ein wichtiger Punkt ist die Reichweite der Fokalisierung
Die Klassifikation Nullf., interne F., externe F., ermöglicht die Beschreibung der Fokalisierung auf Satzebene oder sogar noch unterhalb der Satzebene. Häufig will man sich aber über die Fokalisierung in einem Text verständigen. Diese ist nur in sehr seltenen Fällen einheitlich für den gesamten Text, zumeist liegt eine variable Fokalisierung vor. Man kann dann aber immer noch von dominanten Fokalisierungsstrategien sprechen, also z.B. einer dominant internen Fokalisierung, wenn die Wahrnehmung in einem Text zumeist an eine Figur gebunden ist.
ba) Nullfokalisierung (“Übersicht”)
Diese Fokalisierungsform wird auch als ‚auktorial’ bezeichnet. Der Erzähler weiß mehr als die Figuren und besitzt eine Übersicht über die erzählten Ereignisse, die die Figur nicht besitzt und bringt dies auch zum Ausdruck.
Beispiel für Nullfokalisierung
Textbeispiel: In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf.
Theodor Fontane: Effi Briest
Erläuterung Der Anfang von Effi Briest schildert das Gebäude aus der Vogelperspektive: erst wird die Vorderseite beschrieben, dann die Rückseite. Keine Figur hat eine Position inne, die einen solchen Überblick zulässt. Es handelt sich hier also um eine Nullfokalisierung .
In der folgenden Passage geht es weniger um spezifische konkrete Dinge, die wahrgenommen werden, sondern um Verhaltensweisen, die auch nur summarisch beschrieben werden. Auch sie lassen sich keiner Figur zuordnen:
bb) Interne Fokalisierung (“Mitsicht”)
Figur und Erzähler haben dasselbe Wissen bzw. der Erzähler bringt jedenfalls nicht mehr Wissen und Übersicht zum Ausdruck als die Figur, er hat also eine Mitansicht mit der Figur.
Das im Text Geschilderte lässt Rückschlüsse auf denjenigen zu, der es wahrnimmt. Insbesondere gilt dies, wenn nicht nur Sachverhalte der äußeren Welt, sondern auch der Innenwelt einer Figur erzählt werden.
Beispiel für interne Fokalisierung
Erläuterung: Besonders deutlich und einfach ist die Zuordnung in den Fällen, in denen Verben des Wahrnehmens und Fühlens auftauchen und eindeutig an eine Figur gebunden sind:
Textbeispiel: Wie erstaunte Nathanael, als er in seine Wohnung wollte und sah, daß das ganze Haus niedergebrannt war, so daß aus dem Schutthaufen nur die nackten Feuermauern hervorragten.
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
Erläuterung: Solange keine Anzeichen im Text vorliegen, dass sich die Fokalisierung geändert hat, ist davon auszugehen, dass sie konstant bleibt. So könnte der folgende Satz ein Beispiel für Nullfokalisierung sein:
Textbeispiel: Die Türen standen offen, man trug allerlei Geräte hinein, die Fenster des ersten Stocks waren ausgehoben, geschäftige Mägde kehrten und stäubten, mit großen Haarbesen hin und her führend, inwendig klopften und hämmerten Tischler und Tapezierer.
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
Erläuterung: Aber aus dem Kontext, dem vorangehenden und dem folgenden Satz, wird klar, dass es sich um interne Fokalisierung handelt:
Textbeispiel: Als er zurückkehren wollte in seine Wohnung, wurde er in Spalanzanis Hause ein geräuschvolles Treiben gewahr. Die Türen standen offen, man trug allerlei Geräte hinein, die Fenster des ersten Stocks waren ausgehoben, geschäftige Mägde kehrten und stäubten, mit großen Haarbesen hin und her fahrend, inwendig klopften und hämmerten Tischler und Tapezierer. Nathanael blieb in vollem Erstaunen auf der Straße stehen;
E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
bc) Externe Fokalisierung (“Außensicht”)
Der Erzähler weiß weniger und hat weniger Überblick als die Figur, wie es jedenfalls in dem, was er zum Ausdruck bringt, scheint, und ist somit auf eine Außensicht festgelegt. Informationen über das „Innenleben“ von Figuren werden nicht gegeben.
Der Unterschied zur Nullfokalisierung ist dadurch gegeben, dass der Ausgangspunkt der Wahrnehmung innerhalb der erzählten Welt lokalisiert ist. Der Unterschied zur internen Fokalisierung macht sich dadurch bemerkbar, dass man keine Informationen über die Gedanken und Gefühle von Figuren erhält.
Beispiel für externe Fokalisierung
Textbeispiel. Herr Thienwiebel war jetzt ganz eifrig geworden. Seine Langeweile von vorhin schien er völlig vergessen zu haben. Er schien es sogar nicht bemerkt zu haben, daß dem kleinen zappelnden Wurm auf seinen Knien der Schnuller wieder heruntergekullert war.
Arno Holz: Papa Hamlet
Erläuterung Das Wörtchen „schien“ macht hier darauf aufmerksam, dass auch der Erzähler nur Vermutungen über die Gefühle von Herrn Thienwiebel anstellen kann. Es wird also nur vermeintlich Einblick in die Gefühle Thienwiebels gegeben, es liegt also externe Fokalisierung vor.
Beispiel Präsentation von gesprochener Rede
mit Abnahme an Mittelbarkeit
Erzählte Rede:
- Erwähnung des sprachlichen Akts: Valtin sprach mit Grete.
- Gesprächsbericht: Valtin erzählte Grete von einem Nest.
Transponierte Rede:
- indirekte Rede: Valtin sagte zu Grete, dass sie ein Nest in ihrem Garten hätten.
- erlebte Rede: Ja, sie hatten wirklich ein Nest in ihrem Garten!
Zitierte Rede:
- direkte Rede: Valtin sate zu Grete: “Weißt du, wir haben ein Nest in unserm Garten!”
- autonome direkte Rede: Weißt du, wir haben ein Nest in unserm Garten!